Joseph Smith Fletcher
Der Verschollene
Joseph Smith Fletcher

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1

Das Hotel »Zum Kardinalshut« in Brychester gehört zu jenen Gaststätten, die man nur noch in den ältesten Städten Englands findet. Früher waren die großen Gasträume gefüllt, in den Ställen stampften die Pferde, und vor den Türen standen Postwagen und Reisefuhrwerke. Aber seit der Einführung der Eisenbahn verlor das Hotel an Bedeutung und führte nur noch ein Schattendasein.

An einem schönen Herbstnachmittag stand der alte Oberkellner, der wie ein ehrwürdiger Kirchendiener aussah, nachdenklich in der Haustür und sah die Straße hinunter. Auf der anderen Seite erhob sich der majestätische Turm der großen Kathedrale, in der früher einmal ein Bischof am Hauptaltar die Messe gelesen hatte. Dicht daneben stand das schöne alte Marktkreuz, das zur Zeit der Tudors errichtet worden war. Es war nur wenig Verkehr auf der Straße. Ein paar Bauernwagen rollten über das holperige Pflaster, und hier und dort standen Nachbarn zusammen und besprachen die letzten Neuigkeiten.

Der Oberkellner hielt Ausschau nach dem Hotelomnibus, der jeden Augenblick zurückkommen mußte, und er war gespannt, ob neue Gäste eintreffen würden. Trotz seiner Jahre war er noch rüstig und liebte es durchaus nicht, untätig herumzusitzen.

Als der Bus schließlich vorfuhr, stieg ein vornehmer junger Herr aus. Er war schlank und hatte ein sonnengebräuntes Gesicht. Der Oberkellner hielt ihn für einen Offizier in Zivil, der aus den Kolonien zurückgekommen war, und beeilte sich, ihn zu begrüßen.

»Wünschen Sie ein Zimmer, mein Herr? Wir haben große, elegante Räume. Vielleicht ein privates Wohnzimmer und auch ein Feuer im Kamin?«

Der Fremde reichte dem Hoteldiener seine Gepäckstücke und betrachtete dann das alte, ehrwürdige Gebäude.

»Ja, ich nehme ein Zimmer, wenigstens für die nächste Nacht. Aber vor allem möchte ich –«

»William, der Herr möchte ein Reitpferd haben.« Der Fahrer war zu den beiden getreten und unterbrach den Fremden in seiner Rede. »Er will nach Malvery Hold hinausreiten. Am besten geben wir ihm das Pferd des Chefs. Leider, Sir«, wandte er sich an den Fremden, »hat man heutzutage keine große Auswahl mehr in Pferden. Alle Welt fährt doch Auto oder Motorrad. Aber unser Chef hat noch ein edles, rassiges Tier. Und da er erst morgen zurückkommt, wird er nichts dagegen haben, wenn Sie es heute benützen. Sie sind doch hoffentlich ein guter Reiter?«

Mr. Blake lächelte belustigt.

»Darüber können Sie beruhigt sein«, erwiderte er freundlich. Seine Stimme hatte einen leichten amerikanischen Akzent. »Ich habe schon Pferde zugeritten, die Sie in Ihrem Land gar nicht kennen. Sie können mir das Tier ruhig anvertrauen. Satteln Sie es, und führen Sie es heraus. Inzwischen trage ich mich ins Fremdenbuch ein und trinke ein Glas Whisky-Soda. Ich will dann gleich aufbrechen. Dreizehn Kilometer sagten Sie doch?«

»Jawohl. In fünf Minuten ist alles bereit.«

Der Mann ging mit schnellen Schritten über den verlassenen Hof zu den Ställen, und Mr. Blake folgte dem Oberkellner ins Haus.

»Möchten Sie ein Wohnzimmer und ein Schlafzimmer haben?« fragte William. »Und natürlich ein kleines Feuer im Kamin. Die Nächte sind schon kalt.«

»Ja, lassen Sie alles herrichten, bis ich zurückkomme. Wahrscheinlich bin ich bald wieder hier. Wenn ich meinen Bekannten treffe, bringe ich ihn zum Abendessen mit.«

»Das Dinner wird um sieben Uhr serviert«, erwiderte William. – »Welchen Namen darf ich eintragen?«

»David Blake, Lone Pine, Alberta in Kanada, zur Zeit Hotel ›Cecile‹ in London.«

Der Oberkellner führte ihn dann in ein kleines Nebenzimmer, wo ein junges Mädchen hinter dem Schanktisch saß und einen Roman las.

»Ach, lassen Sie mir doch meinen Regenmantel hier«, sagte Blake, als der Oberkellner gehen wollte. »Es ist möglich, daß noch ein Schauer kommt.«

»Heute wird es nicht mehr regnen«, entgegnete William, reichte ihm aber den Mantel. »Wir bekommen nur Regen, wenn wir Westwind haben.«

David Blake lächelte und sah das junge Mädchen fragend an.

»Kann man sich auf diesen Wetterpropheten verlassen?«

»Das kann ich Ihnen leider nicht sagen«, erwiderte sie. »Ich bin erst kurze Zeit hier. Aber es ist so langweilig«, fügte sie mit einem Seufzer hinzu, »daß selbst der Regen eine angenehme Abwechslung bedeutet.«

»Dann ist also hier nicht viel los?« fragte Blake. »Geben Sie mir einen Whisky-Soda. Wenn Sie noch nicht lange hier sind, kennen Sie wohl auch Mr. Richard Malvery nicht, der draußen auf Malvery Hold wohnt?« Sie verneinte, wandte sich aber gleich darauf an den alten Oberkellner, der in die Gaststube zurückkam.

»Kennen Sie einen Mr. Richard Malvery, William?« William sah Blake scharf an.

»Den kannte ich gut. Es ist allerdings schon einige Zeit her. Seit fünf Jahren habe ich ihn nicht mehr gesehen.«

Im Hof hörte man das Getrappel von Hufen, und Blake trank schnell sein Glas aus und eilte hinaus. Wohlgefällig betrachtete er den schönen Braunen und lächelte, als er seinen Regenmantel anzog und sich in den Sattel schwang. William war ihm ins Freie gefolgt. Der Fremde beugte sich noch einmal zu dem Oberkellner herab.

»Dann wissen Sie also auch nicht, ob sich Mr. Malvery heute in Malvery Hold aufhält?« fragte er leise. William erschrak, trat einen Schritt zurück und sah Blake fragend an.

»Mr. Richard sollte im Hause seines Vaters sein? Nein, davon habe ich nichts gehört. Wollen Sie ihn denn dort draußen treffen?«

»Ja, ich hoffe es. Und dann bringe ich ihn zum Essen ins Hotel mit. Der Fahrer hat mir den Weg schon genau beschrieben.«

Blake berührte das Pferd leicht mit der Gerte und ritt davon. William blickte ihm nach, bis er ihn nicht mehr sehen konnte, dann ging er ins Haus zurück.

»Ich will Hans heißen«, sagte er zu sich selbst, »wenn dieser fremde Herr heute abend Dick Malvery mitbringt.«

*

David Blake sah sich mehrmals um, als er auf der guten Straße von Brychester ins Land hinausritt. Der Kirchturm wurde immer kleiner. Die Gegend war flach, und erst fünf Kilometer hinter der Stadt erreichte er eine kleine Erhebung. Dort hielt er an und orientierte sich über die Umgebung, denn seine Augen waren gewohnt, in die Ferne zu sehen. Hinter ihm, im Norden, wurde die Sicht durch eine lange Hügelkette versperrt, die sich auch nach Osten und Westen erstreckte, soweit der Blick reichte. An ihrem Fuß lag die Stadt Brychester, deren Dächer und Türme sich scharf von den dunkelbraunen, bewaldeten Hügeln abhoben. In der Ferne erblickte er eine Landzunge, die sich keilförmig in die See vorschob. Diese Halbinsel war flach und nur wenig bevölkert. Nur hier und dort lag, von Ulmen und Buchen beschattet, ein einzelnes Gehöft. Schon Brychester war Blake ziemlich altertümlich vorgekommen, aber die Häuser auf dieser weltabgeschiedenen Landspitze erschienen ihm noch altersgrauer als die ehrwürdige Bischofsstadt. Kopfschüttelnd und in Gedanken versunken ritt er weiter.

»Genau, wie Dick es mir beschrieben hat«, dachte er. »Ein eigentümliches Stück Erde – abseits von jedem menschlichen Verkehr. Und ein gutes Versteck, wenn man sich verbergen muß!«

Fünf Kilometer ritt er eine vielfach gewundene Straße entlang und begegnete nur wenigen Leuten. Die Felder zogen sich eintönig und flach hin, und nur ab und zu tauchte das strohgedeckte Dach einer Holzhütte auf. Als er aber in die Nähe der Küste kam und die Brandung schon von weitem hörte, machte die Straße plötzlich eine Biegung, und vor sich sah er eine große Bucht liegen, die sich weit ins Land erstreckte. Es war gerade Ebbe, und Blake erblickte eine weite morastige Fläche, die mit Seegras überzogen war. Dazwischen lagen Trümmer alter, verrotteter Boote. Auf der einen Seite der Bucht standen ein paar schiefe Häuser, die von einer Mühle überragt wurden. Blake erkannte auch diese Stelle nach den früheren Beschreibungen seines Freundes sofort.

»Das ist die alte Mühle, von der Dick immer sprach. Dann muß also das große, schloßähnliche Haus auf der anderen Seite der Bucht Malvery Hold sein. Es sieht reichlich altertümlich aus.«

Durch eine Ulmenallee ritt er nun auf das feste Steinhaus zu, das aus dem sechzehnten Jahrhundert stammte. An manchen Stellen war es schon etwas verfallen und verwahrlost, machte aber immer noch einen malerischen Eindruck. Als Blake auf das Tor zuritt, kam ihm plötzlich der Gedanke, daß das Haus leerstehen könnte, so tot und kalt wirkte das Ganze. Aber aus einem Kamin stieg eine schwache Rauchsäule empor, und nachdem er an das Eichentor geklopft hatte, erschien wirklich ein alter Diener, der den Besucher verwundert ansah. Aber auch dieser Mann war Blake nicht fremd; er kannte ihn schon aus vielen lustigen Erzählungen seines Freundes und Kameraden.

»Ist Mr. Richard Malvery zu Hause?« fragte er.

Der alte Mann trat einen Schritt zurück und hob die Hand, als ob er die Augen beschatten wollte, während er zu dem Reiter aufschaute.

»Mr. Richard?« erwiderte er dann kopfschüttelnd. »Fragten Sie nach Mr. Richard? Der ist in den letzten fünf Jahren nicht über diese Schwelle gekommen.«

 


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