Joseph Smith Fletcher
Der Verschollene
Joseph Smith Fletcher

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24

Strahan setzte sich auf einen großen Stein, der in der Nähe im Gras lag, und zog Schuhe und Strümpfe aus. Dann krempelte er seine Hosen bis zu den Knien auf und stieg ins Wasser.

»Lassen Sie mich einmal sehen«, sagte er. »Wo ist das Tau?«

»Hier«, entgegnete Blake, der schon eifrig dabei war, Gestrüpp und Gräser mit den Händen und Füßen beiseitezuschieben. »Sehen Sie, hier ist es dicht unter der Wasseroberfläche an die Wurzeln gebunden. Es ist so schmutzig, daß man es nicht mehr sehen kann. Bücken Sie sich einmal, und fassen Sie es an, dann wollen wir zusammen ziehen. Fühlen Sie nicht, daß ein schweres Gewicht daran hängt?«

Strahan faßte mit der Hand in den Morast und konnte auch das Tau fühlen, das um eine knorrige Wurzel der Weide gebunden war. Er zog daran, aber es rührte sich nichts.

»Daran hängt ein schweres Gewicht!« rief er.

»Das Kreuz, das hier in den Baumstamm eingeschlagen ist, deutet eigentlich darauf hin, daß hier ein Toter liegt. Es sieht aus wie ein Grabkreuz, und sicher wollte Jakob auch etwas Ähnliches damit zum Ausdruck bringen. Wir müssen das Gewicht heben.« Blake war wieder ans Ufer gestiegen. »Ich werde Werkzeug, Axt und Spaten holen, um die Wurzeln zu beseitigen. Vielleicht müssen wir auch diesen Teil des Grabens absperren und das Wasser ausschöpfen, damit wir im Trockenen arbeiten können.« Er lief über die kleine Brücke zu einem Schuppen im Hof, in dem er beim Vorübergehen einige Gartengeräte hatte stehen sehen. Als er dort ankam, fuhr Atherton gerade mit seinem Wagen von der anderen Seite auf den Hof. Sie sahen sich im gleichen Augenblick, und Blake eilte zu dem Beamten.

»Was führt Sie denn zu dieser Stunde hierher?« fragte er. »Ist etwas passiert?«

»Ich wollte einmal mit Ihnen sprechen. Aber was ist denn hier los, Blake? Sie sind ja in einem merkwürdigen Aufzug!«

»Es ist jetzt keine Zeit, lange Erklärungen abzugeben. Kommen Sie mit und helfen Sie.«

Er drückte Atherton einige Werkzeuge in die Hand und ging dann mit raschen Schritten zu der Weide zurück. Unterwegs erklärte er die Situation.

Strahan stand noch bis zu den Schenkeln im Morast, als sie bei ihm ankamen.

»Es wird noch schwere Arbeit geben«, meinte Blake. Er legte bis auf Hose und Hemd alle Kleidung ab und arbeitete angestrengt. Methodisch räumte er die Wurzeln und das Gestrüpp weg, die das Ufer bedeckten.

Er war an körperliche Arbeit gewöhnt; die andern hätten diese Leistung überhaupt nicht vollbringen können. Aber sie halfen ihm, so gut sie konnten, und trugen die abgehauenen Wurzeln und Büsche fort. Die Ebbe war an ihrem tiefsten Stand angekommen, was die Arbeit erleichterte. Sie mußte getan sein, ehe die Flut wieder einsetzte und das Wasser stieg. Je weiter Blake vorankam, desto größer wurde die Spannung. Alle waren eigentlich mehr oder weniger davon überzeugt, daß sie hier die Leiche Richard Malverys finden würden. Soweit wie möglich war nun alles Gestrüpp und Wurzelwerk entfernt, das hinderlich war. Dicke Schweißtropfen perlten auf Blakes Stirn, aber er gönnte sich keine Pause.

Endlich schien er etwas gefunden zu haben. Das Wasser war aufgerührt und schlammig, so daß man nicht hindurchsehen konnte. Atherton und Strahan beugten sich weit vor.

»Ja, hier liegt ein Toter«, rief Blake jetzt. »Das Tau ist fest um ihn gebunden.«

Die beiden am Ufer hielten den Atem an vor Erregung, Blake kniete nun vollständig durchnäßt im Wasser und arbeitete mit beiden Händen. Plötzlich erhob er sich. »Es ist nicht Dick!«

Die anderen neigten sich vor.

»Woher wissen Sie das?« fragte Atherton.

»Es ist allerdings nicht ganz gewiß, aber der Mann hier unten hat ein glattes Gesicht und keinen Bart. Er scheint eine schwere Wunde an der Schläfe zu haben!«

Die Spannung stieg immer mehr, je näher man der Lösung des Rätsels kam. Aber die Sache schien noch verwickelter zu werden, wenn es nicht Richard Malvery war. Wer konnte es sonst sein?«

Strahan sprang jetzt auch wieder zu Blake ins Wasser, »Es wird sehr schwer sein, den Körper herauszuziehen«, meinte er.

»Atherton gehen Sie doch zu Miß Malvery und sagen Sie ihr, daß wir zwar einen Toten gefunden haben,, daß es aber nicht ihr Bruder ist«, schlug Blake vor. »Ich weiß, daß sie in größter Angst und Sorge wartet.«

»Wir wollen die Arbeit hier erst zum Abschluß bringen. Ich gebe acht, daß sie nicht hierherkommt.«

Blake schickte Atherton nach einer Weile zu dem Schuppen zurück, um dort noch ein Tau oder einen Strick zu holen, während er mit Strahan eifrig weiterarbeitete, um den Schlamm zu entfernen. Dann banden sie den neuen Strick an das Tau, zogen mit vereinten Kräften daran, und endlich gelang es den dreien, den Körper herauszuziehen und an Land zu bringen. Blake schöpfte mit einer alten Gießkanne Wasser und schüttete es über Gesicht und Kleider des Toten, so daß dieser nach und nach vom Schlamm befreit wurde. Der Tote war offenbar ein junger Mann von achtzehn oder zwanzig Jahren, mittelgroß und kräftig gebaut. An der dunkelblauen Seemannskleidung erkannten sie, daß es sich um einen Matrosen handeln mußte.

»Die Kälte hat die Leiche gut konserviert«, meinte Blake. »Das ist ein Glück. Wir können noch verhältnismäßig viel erkennen.«

Strahan zeigte auf eine tiefe Wunde, die sich quer über die rechte Schläfe des Mannes zog und in dem blonden Haar verlief.

»Dieser arme Kerl ist durch einen schweren Schlag mit einer Eisenstange ermordet worden«, sagte der Arzt. »Man sieht, daß er auf der Stelle tot war. Das hat natürlich der alte Elphick getan.«

Ein scharfer Ausruf Athertons warnte die beiden anderen. Sie wandten sich um und sahen Rachel Malvery in der Tür der Umfassungsmauer. Sie hatte ihre Angst nicht länger unterdrücken können. Und als sie nun sah, daß sich die drei über eine reglose Gestalt am Ufer neigten, machte sie einen Schritt vorwärts.

Aber Blake sprang schnell ins Wasser und watete auf die andere Seite hinüber.

»Es ist nicht Dick«, rief er, als er das jenseitige Ufer erreichte.

»Aber Sie haben doch dort einen Toten gefunden!« sagte sie entsetzt.

»Ja, wir haben einen Mann gefunden, der ermordet wurde. Er sieht aus wie ein Matrose. Aber gehen Sie bitte wieder ins Haus, und überlassen Sie uns diese traurige Arbeit. Das Schlimmste ist jetzt vorüber. Die Tatsache, daß es nicht Dick ist, muß Ihnen doch eine große Beruhigung sein.«

Mit offensichtlicher Anstrengung löste sich ihr Blick von der kleinen Gruppe jenseits des Grabens.

»Trotzdem muß dieser Fund etwas mit Dick zu tun haben«, erwiderte sie. »Bitte teilen Sie mir sofort mit, wenn Sie etwas Näheres wissen.«

Blake wartete, bis sie wieder im Haus verschwunden war, dann ging er zu den andern zurück.

»Wir wollen den Toten jetzt in einen Raum tragen und seine Kleider vorsichtig untersuchen«, sagte er. »Vielleicht finden wir dabei eine Aufklärung.«

Atherton und der Arzt holten Bretter herbei, und auf diesen trugen sie die Leiche über die Brücke in den nächsten Schuppen, wo sie sie auf einer großen, alten Kiste niederlegten. Nachdem sie durch weiteres Übergießen mit Wasser den letzten Schlamm entfernt hatten, sahen sie, daß der Anzug des Toten aus starkem, fast unverwüstlichem blauem Seemannstuch war, wie es die Matrosen allgemein tragen, wenn sie an Land gehen. Auch die schweren Stiefel waren noch in gutem Zustand. Der junge Mann schien auf Urlaub gewesen zu sein, und dieser Eindruck verstärkte sich noch, als Blake die Jacke aufknöpfte und in der Weste eine goldene Uhr mit Kette fand. In Westen- und Hosentaschen fanden sie eine verhältnismäßig große Geldsumme und allerlei andere Gegenstände.

»Wenn der alte Jakob diesen jungen Menschen für einen Einbrecher hielt, hat er sich gewaltig geirrt«, sagte Blake halb zu sich selbst. »Ich wundere mich nur, warum er ihn niedergeschlagen hat. Jedenfalls muß er ihn unter verdächtigen Umständen in der Nähe des Hauses gesehen haben. Aber wie kam der Matrose nach Malvery Hold? Er mußte doch hier etwas zu tun haben! Sicher erkannte ihn der Alte im Dunkeln nicht und schlug ihn einfach nieder.« Blake faßte jetzt in die innere Brusttasche der Jacke. »Sehen Sie, hier ist etwas. Vielleicht gibt uns das Aufschluß.«

Er zog eine etwas abgenutzte Brieftasche aus dem durchnäßten Rock, die mit einer Kordel zugebunden war und reichte sie Atherton hinüber, der die Schnur sofort löste.

»Wenn Papiere und Briefschaften darin sein sollten, so müssen sie erst getrocknet werden«, sagte der Beamte. »Am besten bringen wir die Brieftasche in die Küche und lassen dort das Wasser abdampfen.« Dieser Vorschlag wurde ausgeführt, und eine halbe Stunde später war die Brieftasche so weit getrocknet, daß man darangehen konnte, den Inhalt zu prüfen. Blake und Strahan hatten sich inzwischen in dem Zimmer des Wachtturms so gut wie möglich gesäubert und sich umgezogen, soweit Blakes Vorrat an Anzügen dazu reichte.

Zuerst kamen einige Ansichtspostkarten von Shilhampton zum Vorschein.

»Das ist wenigstens etwas«, meinte Atherton. »Daraus können wir sehen, daß der junge Mann zuletzt dort war.«

Dann fanden sie einen Brief, der an Daniel Trethewen, Shilhampton, postlagernd, adressiert war. Daraus schloß Atherton, daß das der Name des Toten war. Die einzelnen Fächer der Brieftasche waren zusammengeklebt, und Blake löste das Leder vorsichtig mit Hilfe seines Taschenmessers.

»Sehen Sie, hier ist ein Briefumschlag. Die Adresse ist mit Bleistift geschrieben und kaum noch leserlich – Miß Malvery steht darauf!« rief Blake plötzlich laut.

»Dann wollte der junge Mann diesen Brief wahrscheinlich ins Haus bringen«, erwiderte Atherton.

Es war ein Kartenbrief mit eingedruckter Marke, wie man sie auf den Postämtern überall kaufen kann. Den Schriftzügen nach zu urteilen, schien die Adresse in großer Eile geschrieben zu sein. Als Blake die Handschrift genauer betrachtete, fuhr er überrascht auf. »Großer Gott, das ist ja Dicks Handschrift! Jetzt wird mir plötzlich alles klar. Als er an dem Abend die Villa der Pykes verließ, kam er nicht direkt hierher, sondern ging nach Shilhampton. Dort schrieb er den Kartenbrief und gab dem Matrosen Geld, damit er die Nachricht hierherbringen sollte. Und spät in der Nacht hat der alte Jakob den Boten dann für einen Einbrecher gehalten und ihn niedergeschlagen. Diese Entdeckung bringt uns einen großen Schritt vorwärts!«

»Aber wir dürfen den Brief nicht öffnen. Wir müssen ihn Miß Malvery übergeben«, sagte Atherton.

Die drei verließen die Küche, um zu Miß Malvery zu gehen.

 


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