Joseph Smith Fletcher
Der Verschollene
Joseph Smith Fletcher

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2

Blake sah einen Augenblick schweigend auf den sonderbaren Alten herunter, der ihm offenbar mißtraute. Der Mann mit dem verrunzelten Gesicht trug einen altmodischen Rock, der früher einmal seinem Herrn gehört haben mochte. Er hatte weder die Tracht eines Hausmeisters noch die eines Kutschers; sie war eine Kombination aus allem möglichen.

»Ich weiß, wer Sie sind«, sagte Blake plötzlich. »Sie heißen Jakob Elphick. Mr. Richard hat öfters von Ihnen gesprochen.«

Der alte Mann war bestürzt und warf schnell einen Blick in die verlassene, einsame Halle zurück, in der nur ein paar alte, wurmstichige Möbel standen. Es war niemand zu sehen, aber er zog die Tür weiter zu.

»Wer sind Sie denn?« fragte er scharf. »Sie haben Mr. Richards Namen genannt, aber ich sage Ihnen, daß man hier in unserer Gegend in den letzten fünf Jahren nichts von ihm gesehen hat.«

»Stimmt das wirklich?«

»Er ist in die weite Welt gegangen, und wir wissen nicht, wohin – er hat niemals geschrieben. Wie kommt es denn, daß Sie nach ihm fragen? Wer sind Sie eigentlich?«

Blake stieg langsam ab und befestigte den Zügel seines Pferdes an dem alten Eisenring an der Tür.

»Ich kenne ihn und hoffte ihn hier zu finden. Wenn er nicht da ist, dann möchte ich gern seinen Vater, Sir Brian, sprechen. Er lebt doch noch?«

Elphick blieb zwischen Blake und der Tür stehen und schüttelte den Kopf.

»Ob er lebt? Natürlich lebt der alte Sir Brian. Aber er ist gelähmt und kann sich nicht bewegen. Er wird auch kaum verstehen, was ein Fremder zu ihm sagt.«

»Kann ich dann Mr. Richards Schwester sprechen? Sie hören doch, daß ich alle Familienmitglieder kenne. Sagen Sie Miß Malvery, daß ein Freund ihres Bruders, der mit ihm zusammen in Alberta war, sie sprechen möchte. Mein Name ist David Blake.«

Der Alte schüttelte wieder den Kopf.

»Alberta?« fragte er skeptisch. »Wo liegt denn das?«

»In Kanada«, entgegnete Mr. Blake ungeduldig.

»Aber nun gehen Sie schon.«

»Ich kann ja Miß Rachel melden, daß Sie hier sind, aber damit ist noch lange nicht gesagt, daß sie Sie empfangen wird. Heutzutage macht man hier keine Besuche mehr. Warten Sie hier, bis ich wiederkomme. David Blake haben Sie gesagt? Ein Freund von Mr. Richard? Und – Sie glaubten, daß er hier wäre? Wie kommen Sie denn nur darauf? Das ist doch der letzte Platz, wo man ihn suchen könnte. Als er das Haus verließ, ging er für immer weg.«

»Melden Sie mich jetzt endlich seiner Schwester«, sagte Blake energisch.

Elphick schloß kopfschüttelnd die Tür, und Blake hörte, daß er von innen die Riegel vorschob. Er war nun wieder allein und betrachtete das Haus, das in der Nähe viel verfallener und trauriger wirkte. Er fühlte, daß er hier vor einem Geheimnis stand.

Es vergingen einige Minuten, bevor Jakob Elphick wieder in der Tür erschien.

»Sie können hereinkommen«, brummte er unfreundlich. »Miß Rachel will Sie empfangen. Aber gehen Sie leise, Sir Brian darf nicht gestört werden.«

Blake sah sich um, ob das Pferd auch sicher angebunden war, dann folgte er seinem Führer in die geräumige Steinhalle. Es war in dem Raum so kalt wie in einem Keller. Offenbar hatte seit vielen Jahren in dem großen Kamin kein Feuer mehr gebrannt. Auch das Zimmer, in das ihn der alte Mann führte, war nicht geheizt. Die Möbel waren aus dunklem Eichenholz, die Stühle gepolstert und mit schwerem Leder überzogen. Es schien lange nicht gelüftet worden zu sein, denn es herrschte eine dumpfe Atmosphäre. Ein paar alte Gemälde hingen an den Wänden, die Damen und Herren aus der Zeit der Königin Elisabeth zeigten. Alte Silberleuchter standen auf einem schweren Büfett, aber sie waren blind und schwarz. Auf Vorhängen und Gardinen, Tischen und Stühlen lag dicker Staub. Der Raum glich fast einem Gewölbe. Durch die bleiverglasten Butzenscheiben der Fenster konnte man auf das graue Meer hinaussehen, wo über brandenden Wogen die Möwen kreisten.

Blake wandte sich um, als er leichte Schritte hörte. Eine junge Dame stand in der Türöffnung. Blake sah sie mit großem Interesse an und dachte an das Bild, das Dick Malvery von ihr entworfen hatte, als sie einmal an einem einsamen Lagerfeuer saßen. Aber er erinnerte sich auch sofort daran, daß fünf Jahre verflossen waren, seit ihr Bruder sie zuletzt gesehen hatte. Rachel mußte jetzt drei- oder vierundzwanzig Jahre alt sein. Sie war schlank und schön, hatte ausdrucksvolle Züge, dunkles Haar und dunkle Augen. Sie sah Richard sehr ähnlich, aber in ihrem Blick lagen Kummer und Sorgen. »Sie fragen nach meinem Bruder Richard?« begann sie sofort, nachdem sie den Fremden durch ein flüchtiges Kopfnicken begrüßt hatte. »Kennen Sie ihn denn?«

Blake sah über ihre Schulter auf den alten Jakob, der zögernd stehengeblieben war. Rachel Malvery drehte sich ungeduldig um.

»Jakob, gehen Sie hinaus, und machen Sie die Tür zu«, befahl sie.

Als Elphick verschwunden war, wandte sie sich Blake zu. »Er ist alt und außerdem argwöhnisch, weil Sie den Namen meines Bruders erwähnt haben.«

»Wissen Sie denn wirklich nichts von ihm?«

»Nein, wir haben nichts von ihm gehört, seitdem er vor fast sechs Jahren von hier fortging. Glaubten Sie, daß er hier wäre?«

Blake nahm seine Brieftasche heraus und blätterte in den Papieren.

»Das nahm ich bestimmt an. Ich will Ihnen auch erklären, warum. Dick war zwei Jahre mit mir zusammen, bis zum letzten Januar. Mit der Zeit wurden wir sehr gute Freunde, und er erzählte mir viel von seiner Heimat. Ich überredete ihn schließlich, nach Hause zurückzukehren, und er verließ mich Anfang Februar in Kanada, um die Reise nach Brychester anzutreten. Ich weiß bestimmt, daß er sich am 27. Februar dieses Jahres in dieser Stadt aufgehalten hat, und ich erwartete natürlich, daß er auch hierherkommen würde.«

Rachel Malvery zeigte auf einen Stuhl und nahm selbst Platz. Sie beobachtete Blake scharf, aber sie sah noch besorgter aus als vorher.

»Woher wissen Sie denn, daß Richard am 27. Februar in Brychester war?«

»Bitte, sehen Sie her. Dieses Telegramm hat er mir geschickt. Es ist am 27. Februar um sechs Uhr abends in Brychester aufgegeben. Lesen Sie selbst: ›Blake, Lone Pine, Alberta, Kanada. Bin gut in der Heimat angekommen. Dick.‹ Also muß er doch tatsächlich in Brychester gewesen sein.«

Rachels Gesicht war bleich geworden, und ihre Hand, die das Telegramm hielt, zitterte.

»Sie haben recht, es kann nicht anders sein«, sagte sie schnell, »aber –«

»Hier sind noch mehr Beweise«, fiel ihr Blake ins Wort. »Bitte, betrachten Sie diese beiden Ansichtskarten. Auf der einen ist die Kathedrale von Brychester und auf der anderen das Marktkreuz abgebildet. Beide sind in Brychester abgestempelt, und zwar ebenfalls am 27. Februar. Er hat sie eigenhändig geschrieben, daran ist nicht zu zweifeln. Auf der einen steht: ›Hier ist alles noch unverändert‹, und auf der anderen: ›Ich bin eben im Begriff, nach Malvery Hold zu gehen‹.«

Rachels Hand zitterte noch mehr, als sie die beiden Karten nahm und auf die Handschrift starrte. Plötzlich sah sie Blake angstvoll an.

»Warum ist er dann nicht nach Hause gekommen?« fragte sie aufgeregt. »Er war doch in Brychester!«

Blake war selbst ratlos. Das Geheimnis, das Malvery Hold umgab, verdichtete sich immer mehr.

»Es ist sonderbar, daß ihn niemand erkannt hat. Er trug allerdings einen Bart, aber er hat doch sicher einige seiner Freunde in Brychester aufgesucht.«

Rachel Malvery lachte bitter auf, und Blake sah sie betroffen an.

»Freunde! Ich glaube nicht, daß Richard einen einzigen Freund in Brychester hatte.« Plötzlich hielt sie inne und warf ihm einen prüfenden Blick zu. »Wieviel hat er Ihnen von seiner Vergangenheit erzählt?«

»Ich weiß, daß es ihm hier zuletzt nicht gut ging«, gab Blake zu. »Er hat mir viel davon erzählt. Der Boden wurde ihm hier schließlich zu heiß, und er mußte fortgehen, weil er zuviel Schulden gemacht hatte. Aber er hat ja nun Geld mitgebracht, um all diese Schulden zu bezahlen. Und er hat es auf ehrliche Weise verdient. Ich möchte nur wissen –«

»Was möchten Sie wissen?«

»Hoffentlich ist nicht irgendetwas passiert. Es war allerdings nicht seine Gewohnheit, Geld mit sich herumzutragen, aber er war im Besitz von zweitausend Pfund, als er sich von mir verabschiedete.«

Rachels steigende Angst drückte sich in ihrem blassen Gesicht aus. Aber ihre Stimme klang fester, als sie sprach.

»Ich freue mich, daß er seine alten Schulden bezahlen wollte. Die Leute haben so viel über ihn geredet und so viel Schlechtes von ihm gesagt, und mein Vater konnte nichts dagegen machen. Sie sehen ja, wie die Dinge hier bei uns stehen. Wir sind arm, wirklich arm. Deshalb ist das eine Freudenbotschaft für mich. Ist er auf Ihre Veranlassung hin nach Hause zurückgekehrt?«

»Ja. Wir waren zwei Jahre lang Partner, und ich wußte, daß er Geld gespart hatte. Ich riet ihm also, nach Hause zu gehen und all diese unangenehmen Dinge aus der Welt zu schaffen. Ich sagte ihm, daß der Erbe eines englischen Baronstitels nicht dauernd in der Wildnis leben könnte. Was mag aus ihm geworden sein, Miß Malvery? In Brychester war er Ende Februar, aber wohin ist er dann gegangen? Eins steht jedenfalls fest. Ich werde ihn finden – lebendig oder tot.«

»Sie glauben doch nicht, daß er tot ist?« rief sie.

»Wir wollen es nicht hoffen. Ich werde uns bald Gewißheit verschaffen. Auch ich bin erst vor ein paar Tagen nach England zurückgekommen – vor kurzer Zeit habe ich ein großes Vermögen geerbt. In London hatte ich viel mit meinen Rechtsanwälten zu besprechen, aber dann kam ich hierher, so schnell ich konnte, um Richard zu besuchen. In Brychester wird man doch bestimmt seine Spur auffinden können.«

»Was wollen Sie beginnen? Wir müssen natürlich auch etwas unternehmen; das heißt, ich muß es tun. Mein Vater ist ja vollständig gelähmt.«

»Überlassen Sie im Augenblick alles mir. Meine Anwesenheit in London ist zunächst nicht mehr notwendig. Ich bleibe gleich in Brychester und stelle Nachforschungen an. Auf jeden Fall wissen wir, daß Richard zur Post ging, und außerdem muß er doch diese Ansichtskarten in einem Laden gekauft haben. Sicher hat er auch sein Geld irgendwo deponiert. Ich werde mich sofort daranmachen, durch Nachfragen diesen Punkt zu klären. Können Sie mir einen guten Rechtsanwalt in der Stadt empfehlen, bei dem ich mir Rat holen kann?«

»Ich kann Ihnen nur meinen Vetter, Mr. Boyce Malvery, nennen. Er ist Rechtsanwalt und Notar in Brychester. Sein Haus liegt dicht neben der Kathedrale.«

»Ich habe seinen Namen schon gehört. Nun gut. Aber ich werde auch versuchen, die Sache mit Hilfe der Polizei zu klären. Darf ich wiederkommen und Ihnen berichten, wie es vorwärtsgeht?«

»Selbstverständlich! Sie können zu jeder Zeit kommen, die Ihnen beliebt. Sehen Sie selbst –« Sie winkte ihm plötzlich, ihr zu folgen, führte ihn aus dem Zimmer und ließ ihn durch eine offene Tür in einen anderen Raum schauen. »Das ist mein Vater«, sagte sie leise. »Sie sehen, in welch einem traurigen Zustand er sich befindet.«

Blake spähte vorsichtig in das angrenzende Zimmer, wo ein alter Mann vor einem hellbrennenden Holzfeuer saß. Er war in Decken gehüllt, und sein Kopf zitterte. Blake wandte sich taktvoll ab und sah Rachel mitfühlend an.

»Ja, ich verstehe. Ich verspreche Ihnen, alles zu tun, was in meinen Kräften steht. Morgen komme ich wieder.«

Rachel Malvery begleitete ihn bis zum Haustor und sah ihm nach, als er davonritt. Am Ende des Fahrwegs, der zum Schloß führte, wandte sich Blake noch einmal um und schaute zurück. Er hatte in seinem Leben schon manchen einsamen, halbverfallenen Platz gesehen, aber Malvery Hold glich mehr einer Ruine als einer menschlichen Wohnstätte.

 


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