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Fast die ganze Nacht schritt Lux in seinem Zimmer auf und ab, ohne zu Bett zu gehen. Auf dem Tisch lag der uneröffnete Brief Johannas – wie eine weiße Flamme.
Endlich ertrug er es nicht mehr und stieg leise die Treppe hinab ins Freie.
Der Mond schimmerte mit schwachem Leuchten über dem See ... die Tannen gegenüber standen wie die Reihen eines finsteren Heeres. In keinem Zimmer brannte ein Licht, nur aus dem des Kindes fiel der trübe Schein einer Ampel.
Er schritt dem Ufer entlang, der Wind erhob sich und brauste durch die Zweige ... In dem Sturm seines Innern klärte sich nichts.
Er kehrte in sein Zimmer zurück. Er wollte nicht denken; er war müde und legte sich zu Bett – aber das Bett war Feuer, er wälzte sich und fand keinen Schlaf. Er zündete das Licht wieder an, riß ein Buch aus seinem Koffer und wollte lesen. Es waren die »Dialoge«, und als er es öffnete, fiel sein Auge auf die Worte in der krausen Schrift Marquarts:
» Eritis sicut, Deus, volentes bonum et malum!«
Er lachte laut auf. Die unterweltliche Flamme, die Elinor um sein Haupt gleißen gesehen, schien in ihm zu lodern.
Er riß das Kuvert von Johannas Brief entzwei und las: Klar und gerade waren die Schriftzüge, klar, einfach, liebevoll die Worte, berichtend und fragend. Sie sagten ihm nichts, sie bewegten ihn nicht, sie quälten ihn nur.
Wenige Zimmer von ihm entfernt schlief Elinor – wenn sie schlief. Eine brausende Freude und eine verwirrende Glut durchrieselte ihn.
»Was bedeutet Freiheit?« fragte er sich. Und er sann bitter über das Wort nach, bis es nichts mehr als ein Wort, ein leerer Klang schien, der der Qual und Wucht des Lebens gegenüber keinen Sinn mehr hatte. Wie es ihn fing und verhöhnte!
Wieder fühlte er sich todmüde, streckte sich hin und schlief ein.
Er schlief nicht lange. Als er erwachte, war es Tag, und das erste, worauf sein Blick fiel, war der Brief Johannas.
Wie ein fernes verschleiertes Bild rief er die glücklichen Jahre, die hinter ihm lagen, auf, – die Welt, die er gestern in Stücke geschlagen. Ihm war, als sähe er Johanna draußen vorübergehen, durch die graue Nebelluft vor dem Fenster, tiefsten Schmerz im Antlitz.
Er sah nach der Uhr, er wußte, wenn er noch eine Stunde wartete, mußte er Elinor begegnen. Er zog sich eilig an und entfloh aus dem Hause.
Nebel lag über dem Wasser, von den Bäumen schien Nebel zu rieseln; der ganze Kessel lag in einem trüben Dampfmeer. Er eilte, bis er an die Felsen kam, wo sie die rauhesten unersteiglichsten schienen, da rang er sich an ihnen empor ... hinunterstürzen wäre ja ein Labsal gewesen! Aber allmählich kam er zur Besinnung – er begriff seine Grausamkeit.
Elinor hatte den ganzen Morgen auf ihn gewartet ... warum begann ihr Glück mit Stunden solcher Qual?
Als er zu Mittag triefend vom Regen, mit zerrissenen Händen heimkam, war sie nicht da und kam auch nicht zu Tische.
»Warum quälen Sie sie?« fragte Maria ihn leise und zornig, als sie einen Augenblick mit ihm allein war.
Aber als sie sein Gesicht sah, sagte sie nichts mehr. Sie begann eine unbestimmte Furcht zu empfinden.
»Ich muß mit Elinor sprechen,« sagte er.
»Ich werde sie holen.«
Im Garten war ein von wildem Weinlaub gedeckter Gang. Der Regen ward durch die Blätter aufgehalten, die Tropfen rieselten herab.
Er wartete ... Elinor kam in einem grauen Lodenkleid auf ihn zu. Um ihren Mund war ein Lächeln.
»Ich habe gewartet,« sagte sie.
Er aber biß die Lippen zusammen, und in seinem Gesicht lag solche Härte, daß sie erschrak.
Er fragte sie, ob sie wisse, was das zu bedeuten habe, was gestern zwischen ihnen geschehen.
Sie sah ihn flammend rot an und sagte »Ja«.
Er nickte mechanisch und fragte, ob sie wisse, daß er keinen Beruf habe und kein Geld besitze, auch nicht sehr danach frage ... Sie lächelte nur; aber er fuhr fort – und was sie erschreckte, war die Rauheit, mit der er sprach, als ob sie ihm etwas getan hätte ... er fragte, ob sie wisse, daß er sie nie heiraten werde ... »aus vielen Gründen,« fügte er in gequältem Ton hinzu.
Sie sah einen Augenblick zu Boden, dann sagte sie ruhig: »Ich gehöre dir ... Ich bin eine Heidin – ich gehöre zu keiner Kirche und ich brauche kein Gesetz. Ich will deine Frau sein, wenn du mich willst. Ich bin es schon.«
Er hätte sich vor ihr niederwerfen und ihre Füße küssen mögen.
Sie fuhr fort: »Ich habe schon an Gulbrandson geschrieben, Maria hat den Brief.« Sie wollte nicht den Glauben in ihm entstehen lassen, daß sie unehrlich an Gulbrandson handelte, und erklärte ihm, daß sie das Recht hatte, sich von ihm zu lösen. Ja, ja, er verstand ... aber nun von seiner Seite. Sein Gesicht war grau.
Er faßte Elinors Hand, aber er ließ sie sogleich wieder los ... »Ich muß erst hören, ob du noch willst ...« sagte er. Sie begann zu zittern.
»Ich bin selbst nicht frei – ich bin der Geliebte einer Frau ...«
Elinor zitterte noch heftiger, aber sie sagte:
»Du liebst mich!«
Er sah sie glühend an: »Ja, ich liebe dich, Elinor.«
»Dann ist es gut ...«
Aber sie begriff bereits, daß es nicht gut war; ein dumpfer Schrecken kam über sie, vergeblich suchte sie sich zu enträtseln, was es war, was er sagen wollte, was ihn so entsetzlich quälte.
»Ich weiß noch nicht, wie ich es dir sagen soll,« sprach er durch die Zähne ... »Aber ich weiß doch, was ich will ...« sagte er für sich selber ... er sprach nicht weiter – ein Stöhnen war in ihm. Er fühlte, er durfte keinen Augenblick mit der Wahrheit zögern:
»Ich habe eine andre Frau geliebt, der ich alles verdanke, was ich bin. Ich habe geglaubt, daß es unzerreißbar sei ... bis ich hierher kam ... und Sie gesehen habe ... Elinor.«
Sie antwortete nicht.
»Sie hat mich selbst hierher geschickt. Sie heißt Johanna.«
Elinor schloß die Augen und legte den Kopf zurück, sie griff nach seiner Hand und hielt sie fest – er fühlte, sie war am Umsinken. Eine Weile sah sie ihm gerade in die Augen ... und er konnte sehen, wie tief die Wunde war. Dann ging sie langsam fort, die Hand auf die Brust gedrückt, mit wankenden Schritten, ohne sich umzusehen.
Er blieb im Garten. Der Regen strömte unablässig nieder.
Maria und die zwei Herren saßen im Saal bei der Lampe, ein blauweißes Tuch lag auf dem Tisch, der Kaffee war eingeschenkt. Elinors Gesicht erschien in der Glastüre. Sie ging durch das Zimmer wie ein Gespenst, sie schien niemanden zu sehen.
»Was hat sie heute!« sagte Herr Wilhelm Hogerath. Maria stand auf und ging der Schwester nach. Aber die Tür des Zimmers war versperrt; Maria hörte sie darin auf und nieder gehen, aber ihr Rufen und Klopfen war vergeblich.
Endlich öffnete sich die Türe, Elinor kam heraus und wollte an ihr vorüber ... Maria hielt sie am Arm fest. Elinor machte nur eine qualvolle Bewegung, ihr Gesicht sagte: »Siehst du nicht, daß ich nicht sprechen kann?« – sie machte sich los und ging die Treppe wieder hinab. Sie hielt ein Papier in Händen, ein Telegramm an Johanna, auf dem stand: »Komme sogleich!«
Und sie ging selbst allein ins Tal hinab zur Station, um es aufzugeben. Lux sah sie fortgehen und folgte ihr. Sie ging rasch ohne sich umzuwenden, ohne zu bemerken, daß er ihr folgte. Sie hatte ein Tuch über den Kopf gelegt, sie trug keinen Schirm und sah ganz wie ein Weib aus der Gegend aus. Als die Straße sich zu senken begann, ging er rascher und holte sie ein.
Sie fuhr heftig zusammen, als sie ihn sah. Die furchtbare Ungewißheit über das, was sie vorhatte, gab ihm seine Besonnenheit wieder.
»Wohin gehen Sie, Elinor?« fragte er.
Sie zauderte einen Augenblick ... dann nahm sie das Papier unter dem Tuch hervor und reichte es ihm.
»Geben Sie mir das, Elinor – ich werde es aufgeben. Aber Sie dürfen nicht weiter. Maria würde sich zu sehr ängstigen. Ich gebe es bestimmt auf. Es ist das Richtige. Alles, was Sie tun, Elinor, ist richtig und gut. Kehren Sie jetzt um.«
Sie blieb gehorsam stehen, – sagte noch ein paar Worte über den Weg und ging zurück. Er begleitete sie ein paar Schritte, feige Worte von Schicksal und Schuldlosigkeit lagen auf seinen Lippen, aber er sprach sie nicht aus.
Sie reichten einander nicht die Hand, als sie sich trennten, aber ihr letzter Blick gab ihm eine so tiefe Gewißheit, daß sie sein war, daß er innerlich jubelnd weiterschritt auf der steinigen Straße, in deren Vertiefungen das Wasser in weißlichen Bächen zu Tal floß. Er vergaß, welche Botschaft er bei sich trug, welchen Kampf heraufzubeschwören er im Begriff war, er sah nur den Blick, der ihm alles wiedergab, was er schon verloren geglaubt, und die wirren, dunkelgoldnen Haare, die der Wind unter ihrem Tuch hervorgeweht.
Es war bereits gegen Mitternacht, als er zurückkam.