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III

So kam für den Professor ein außerordentliches Erlebnis, ja eine Kette außerordentlicher Erlebnisse, die nicht nur ihm Stoff zum Reden gaben und in vielen Kreisen Aufsehen erregten, Prophezeiungen wahrmachten. Er, der seine kurzen Ferien auf dem Lande, die unentbehrliche karge Ruhe, die er sich gönnte, so strenge einhielt, der, um die Zeit für wissenschaftliche Arbeiten zu sparen, selbst in Wien zu Konsilien nur schwer und nur für außergewöhnliche Honorare zu erreichen war, kam als behandelnder Arzt täglich zweimal, dreimal in ein Haus, in dem man ihn absolut nicht bezahlen konnte. »Es war wirklich ein sehr interessanter Fall«, sagten die Leute lächelnd. Was später alles erzählt wurde, als das erstaunliche Resultat bekannt wurde, zu dem das Ganze führte! Wie natürlich die Einen die Sache fanden, und wie romantisch die Andern, und für wie naiv diese von den Andern erklärt wurden! Die Welt weiß alles, nur weiß sie nichts recht. Die Wahrheit der Dinge entgeht ihr immer, weil sie die oberflächlichen Erklärungen liebt. Wenn es eine Wahrheit gibt in einer Welt, in der jedes Ding jedem anders erscheint, alle Beziehungen so vieldeutig sind und mit so verzweigten Fasern von Motiven in der dunklen Region der unausgesprochenen Gedanken und Gefühle wurzeln.

»Pflichtgefühl« war der Schlüssel, den der Professor zu sich selbst hatte. »Heroisches Pflichtgefühl« war es, was ihn – das sagte er sich wenigstens – an dem Mädchen anzog, mit dem er täglich zusammen arbeitete. Selten hatte er eine so aufopfernde Pflegerin, eine so ganz ihrer selbst Vergessene gesehen. Mütterlich kam sie ihm der eigenen Mutter gegenüber vor. Nicht etwa, daß sie sich besonders zärtlich oder weich gezeigt hätte. Unbehilflich hatte sie am Tage der höchsten Gefahr ein paar Tränen mit dem Finger aus dem Auge gestrichen – während Bruder und Vater erschüttert weinten ... Auch nicht gerade geschickt; etwas Ungelenkes war in ihrer Tätigkeit.

»Ich bewundere Sie, Fräulein, Sie sind ein ausgezeichnetes Mädchen«, sagte der Professor, ihre Hand in beide Hände nehmend, als sie mit ihrem Vater ihren Dankbesuch abstatten kam.

»Ach, wie! Aber bitte, Herr Professor«, hatte Johanna geantwortet.

Überströmende Dankbarkeit war in ihr, und unendliches Mitleid mit den mutterlosen Kindern, als sie durch die Zimmer der Villa ging, ein Mitleid, das sie nicht aussprach, aber auch nicht verhehlte. Die Ältere war ein hübsches Kind mit langen, feinen Locken. Sie saß am Gartentisch und las, als Johanna aus der Glastüre trat. Die Jüngere lag im Gras und sah auf den See hinab, der in glänzend blauen Wellen an die rötlichen Felsen des jenseitigen Ufers schlug. Sie hatte eine Stumpfnase und kluge, scharfe Augen, hübsch war sie nicht. Johanna fühlte das Verlangen, mit den Kindern zärtlich zu sein, mit ihnen zu spielen, und sie erinnerte sich, daß sie mit Mädchen nie zu spielen verstanden. Ihre Spielkameraden waren stets die Brüder und die Freunde der Brüder gewesen, hinter denen sie an Mut und Übermut nie zurückgestanden. Aber Mädchen! Sie konnte ihnen nur vorschlagen, mit ihr um die Wette zu laufen, und die Kleinere widerstand nicht. Sie jagten durch die Gartenwege. Die Größere lehnte ab: »Ob sie rudere? Ob sie Ball spiele?« fragte Johanna, als sie erhitzt und tief atmend zurückkam. »Ich lese lieber«, sagte das Mädchen. Sie musterte Johannas Toilette, und die Vierzehnjährige dachte: »Das ist keine Dame!« Johanna strich ihr vorsichtig übers Haar und wunderte sich selbst, daß sie etwas derartig »unmännliches« tat. Das Mädchen rührte sich nicht. »Mutterlose Kinder«, dachte Johanna, »und der Vater hat nicht Zeit, sich um sie zu kümmern.«

Der Professor sprach mit tiefer Bekümmernis von den Kindern. Er sprach zu Johanna, die ein gern und häufig gesehener Gast in seiner Villa ward, wie niemand sonst mit ihr sprach, über ernste Fragen des Tages und des Lebens wie zu einer völlig Gleichstehenden. Sie fühlte, wie verschieden sein Ton war, von dem sowohl, in dem andre zu ihr, als in dem er zu andren sprach. Es war unwiderstehlich schmeichelnd. Die kindlich dankbare Anhänglichkeit, die sie von jenem Abend an für den gütigen Mann gefühlt, wurde mehr der einer jüngeren Schwester und Freundin ähnlich. Und sein Einfluß auf sie wuchs – sie fragte ihn um Rat und Urteil bei allem, was sie interessierte, sah so viel sie konnte, mit seinen Augen ... »Ihren Professor« nannten die Brüder ihn. Er aber sprach und erzählte nicht minder gern von ihr und verhehlte seine Bewunderung nicht. »Geben Sie acht, Sie sind gefangen!« sagte sein Freund, der Maler Liedermüller. »Ach Unsinn!« antwortete der Professor. Doch in diesem Augenblick nahm, was bisher unbestimmt und unbewußt gewesen, Gestalt an, begann möglich und höchst wünschenswert zu scheinen. Ein Mensch, der große und erfolgreiche Arbeitskraft mit ebenso großer Güte vereint, der einen berühmten Namen und eine einflußreiche Stellung besitzt, ist der Freunde und Bewunderer sicher. Ob aber dieser Nimbus vor den Blicken eines zwanzigjährigen Mädchens bestand und ihr genügte? Ein Käufer war er nicht und wollte es nicht sein. Andrerseits: das Mädchen, das er wählte, war kein frivoles, mit Flittern zu fangendes Geschöpf. Es war von jeher seine Überzeugung gewesen, daß die Frauen sich nicht so sehr, wie man allgemein glaubt, von den Sinnen bestimmen ließen, und daß die Besseren unter ihnen der gewinne, der ihnen, die vom Leben nichts ahnten noch verstünden, einen ernsten Lebensinhalt zu geben wüßte.

In solchen Gedanken schritt er auf der Veranda auf und ab, während unten am Wasser Johannas Boot anlegte und das junge Mädchen, in ihrem blauen Matrosenkleid, mit frischen Wangen die Stufen empor eilte. Oben am Fenster seiner Kammer stand Liedermüller und sang laut: »Wir winden dir den Jungfernkranz mit veilchenblauer Seide«. Und der Professor ärgerte sich über die derben Späße seines Freundes und ging Johanna mit großer Höflichkeit entgegen.

Warum ward sie rot und befangen?

Acht Tage später machte er einen feierlich-freundlichen Besuch bei Johannas Eltern und hielt um ihre Hand an. Er brachte das einzige ernstliche Bedenken, den großen Altersunterschied selbst vor. Er könnte sich nicht wundern, wenn sie ihn ausschlüge, dann aber spräche doch einiges für ihn ... er wußte nicht fort zu fahren, gutmütig, wie er war, fühlte er sich diesen verhältnismäßig kleinen Leuten sozial allzusehr überlegen, und sie fühlten es auch. Er brauchte nicht weiter zu sprechen. Der weißhaarige alte Herr unterbrach ihn. Es war ja glänzend über alle Erwartungen. Und man war dem Arzt so unendliche Dankbarkeit schuldig. Aber sie erschraken doch ein wenig: einundzwanzig und fünfundvierzig! – nein, wie sie eben hörten, nur dreiundvierzig. Der Professor wollte Johanna sofort selbst fragen, aber sie war nicht da, sie war mit dem Bruder am Morgen aufgebrochen, um einen besonders schwierigen Berg der Umgegend zu erklettern, konnte vor Abend nicht zurück sein.

Als sie Johanna zuerst davon erzählten, lachte sie hell auf. Als sie sah, daß es ernst gemeint war, sprang sie auf und lief aus dem Hause. Erst nach zwei Stunden kam sie wieder, mit einem ganz merkwürdigen Gesicht und sprach gar nichts. Nun redeten die Eltern ihr zu. Sie besaßen eine gewisse Feinheit des Wesens, deren sie sich nur unklar bewußt waren; sie hätten die Tochter nie gezwungen, nicht einmal gedrängt, aber sie fühlten sich verpflichtet, all die banalen, in die Augen springenden Gründe anzuführen: Es war eine so glänzende Zukunft, ein Mann von solcher Stellung, solchem Namen, so fabelhaftem Einkommen, und ein so feiner und guter Mensch, dessen Augen von Wohlwollen strahlten, dem man solche Dankbarkeit schuldete – sie ein Mädchen, das keine Mitgift besaß; das Geschäft des Vaters ging nicht gut, Franz sollte studieren. Und was lag sonst vor ihr: eine Öde. Wen sollte sie, wer könnte sie heiraten? was könnte sie unverheiratet werden: Lehrerin, Erzieherin? Dazu hatte sie zu wenig gelernt; Handarbeiten haßte sie – was in aller Welt konnte sie werden?

Sie wußten nicht, wie tief diese Worte trafen. In solcher Jugend ist die Zukunft keine Sorge. Für Johanna ward sie es plötzlich. Eine Aussicht endloser Öde, oder eine Heirat, wie die der Schwester, in kläglicher Enge, in kaum vermeidlicher Unsauberkeit. Die Kinderwäsche allein machte ein Leben in drei Zimmern unerträglich ... sie sah, was ihr geboten wurde, was ihr entging, wenn sie nein sagte. Unsichere Visionen von Glanz stiegen vor ihr auf: ein Name, Theater, Gesellschaften, Wagen und Reisen. – Sie wehrte sich dagegen und wies diese häßlichen Gedanken von sich. Dankbarkeit, Dankbarkeit allein konnte das Motiv sein, das sie mit einer gewissen Zärtlichkeit zu dem Manne zog, der sie zu seiner Frau haben wollte. Nur ganz nebelhaft trat hier eine andre bängliche Vorstellung hinzu, die sie nicht anzog, die sie abschreckte. Aber sie kam nur wie ein flüchtiger Schatten. Keine Neigung konnte sie ablenken oder aufklären. Nie hatte sie die geringste Koketterie gezeigt oder empfunden. Die stete Spielgefährtin der Knaben und jungen Leute war sie wie ein Knabe unter ihnen gewesen.

Sie sprang auf und lief wieder davon. Die Eltern ließen sie gewähren. Sie sahen sie im Garten auf und abgehen, auf den Kiesstrand hinaustreten und sich auf die Steinbrüstung setzen, den einen Fuß über den andern und die Hände ums Knie gelegt, und hinausstarren. Die zwei mutterlosen Kinder fielen ihr ein, denen sie frisches Leben bringen, deren blasse Wangen sie gesund und rot machen wollte. Wieder die plötzliche, merkwürdige Zärtlichkeit. Das Ende war, daß sie ja sagte.

Der Professor wollte noch im September heiraten und dann eine kurze Hochzeitsreise nach Italien machen. Im Oktober mußte er die Vorlesungen wieder aufnehmen, und die Praxis ließ ihm wenig Zeit.

In diesen letzten Tagen auf dem Lande war sie toller als je, lief und kletterte, sie schwamm quer über den See – das machte ihr Franz nicht nach. Als aber der Professor, der in Wien gewesen war, zurückkam und mit ihr spazieren ging, schritt sie scheu und demütig neben ihm und redete wenig; und furchtbar bang war ihr, wenn sie bei ihm zu Gast war und die prüfenden Blicke der kleinen Mädchen auf sich ruhen fühlte. Den Kuß, den er ihr beim Kommen und Gehen vorsichtig auf die Lippen drückte, ertrug sie. Er war ungefähr wie der Gutenachtkuß des Vaters.

Die Ausstattung war ein Geschenk des Bräutigams; die Mutter besorgte sie, vergeblich bemüht, auch Johanna dafür zu interessieren. Die Hochzeit verzögerte sich indessen um einige Tage, da der Professor zu einem Erzherzog gerufen wurde. In der Folge erhielt er den Hofratstitel. Die Belohnung kam nicht gleich, sondern in geziemender Frist, aber er erfuhr davon schon früher und sagte es seiner Braut. Johanna machte einen Luftsprung. »Frau Hofrätin«, das war zu komisch!


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