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Als Lux am nächsten Tage zu Johanna kam, fand er einen scherzhaften Brief, in dem sie ihm sagte, »sie sei ihm entflohen« und werde erst am folgenden Tag zurückkommen.
Maria hatte sie in ihr Hotel geholt, damit sie den Abend und die Nacht mit Elinor verbringen könnte, die am nächsten Morgen abreisen mußte. Die drei Frauen speisten vergnügt, unter viel Scherz und Gelächter in Marias Zimmer, dann folgte Johanna Elinor auf das ihre, und sie plauderten bis tief in die Nacht. Hier hatten Scherz und Gelächter ein Ende. Johanna saß am Tische, und Elinor ging erzählend rastlos auf und ab. Sie schien reifer, kräftiger, bestimmter geworden, der Zug von Leiden und Trotz in ihrem Angesicht hatte sich vertieft. Sie hatte nun mit Menschen verkehrt, und wenn sie auch wenig gesprochen, so hatte sie doch gehört und beobachtet. Gelesen hatte sie fast nichts. Die meisten Bücher waren ihr nicht gestattet worden. In Johanna flammte Empörung auf über den Zwang, der diesem empfindlichen Geschöpf angetan werden sollte. Sie fühlte Lust zu fluchen, wie sie es als junges Ding gern getan, aber das war längst nicht mehr ihre Art – ihr Zorn zeigte sich darin, daß sie weiß und still wurde.
Seit drei Jahren ging diese Quälerei. »Ich werde mich nie unterwerfen,« sagte Elinor, in ihren unruhigen Schritten innehaltend, indem sie die Arme energisch zur Erde streckte. »Es ist nur das unerträgliche, unaufhörliche Zureden, Zureden – den ganzen Abend sitzt die Tante und spricht nichts oder spricht darüber. Fortwährend bin ich in Ungnade und bekomme Vorwürfe. Und immer wieder wird alles unterbrochen, was ich sonst tun will. Und allein sein darf ich beinah nie mehr ... ich glaube, ich werde noch verrückt!«
Johannas Empörung wendete sich gegen den Mann. »Er muß jedenfalls ein sehr unfeiner Mensch sein, wenn er weiß, daß du ihn nicht willst, und sich nicht zurückzieht.«
»Er ist kein unfeiner Mensch!« sagte Elinor nachdrücklich und errötend. »Er ist ein törichter Mensch! ... da er weiß, daß ich ihn nicht will! ...
Die Tante glaubt, daß sie mein Bestes will. Ihre Ansicht ist: ich bin ein ungehorsamer Mensch, der keine Religion hat und kein Pflichtgefühl und keinen guten Willen. Weißt du, was sie glaubt? ich habe ein so schlechtes Erbteil von meiner Mutter: ich und Maria – und das sagt sie mir! Dann aber antworte ich ihr ...! Du weißt nicht, wie traurig mich das macht. Sie sagt, ich bin unbeugsam und muß gebeugt werden, sonst bin ich verloren. Und Gulbrandson, der so ernst ist und so edle Gedanken hat und immer über Pflichten nachdenkt ... er ist der Mensch für mich ... Oh, was wird in dem Haus alles geredet, Johanna! Ich verstehe die Hälfte nicht! – aber es macht mich tot!«
»Sei unbeugsam, meine Elinor! – Laß dich nicht belügen! Der Mensch ist nicht zum Gehorchen da ... Er ist da, selbst zu erkennen und zu tun! Lieber frei sein und fehlen, als das Rechte tun, weil ein andrer es befiehlt. Befehlen ist so, wie schlagen oder stoßen. Ein Befehl ist für die Seele, was eine Ohrfeige für den Körper ist!« Die letzten Worte hatte Lux gebraucht, aber Johannas innerste Empfindung sprach aus ihnen. »Ich möchte einmal mit deiner Tante reden!« sagte sie.
»Oh Johanna,« sagte Elinor, »ich darf ja gar nicht mit dir verkehren! Wenn Maria nicht ...!«
Johanna begriff. Sie blickte auf Elinor.
»Ich will aber mit dir verkehren, Elly. Komm, ich will dir von mir erzählen!«
Gespannt, entzückt sahen Elinors Augen in die ihren. Maria pochte von der andern Seite an die Wand. »Komm, wir wollen uns niederlegen, wir können im Bett weiter plaudern.«
Aber Johanna sah, die Hände auf den Tisch gestützt, vor sich nieder; sie wußte nicht, wie beginnen. Da wurde Elinor blutrot und sagte: »Ich weiß, du hast einen Mann lieb ... den Doktor Marquart? nicht wahr?«
»Ich habe ihn sehr lieb gehabt. Ja. Aber das ist vorüber.«
Vorüber! ... Elinor blieb erstarrt mitten im Zimmer stehen. Das begriff sie nicht. Nicht mehr lieb! den Mann lieb gehabt ...! Konnte das, durfte das bei Johanna sein?!
»Es ist so. Das Leben ist sehr stark, Elinor, und es zerstört, was es geschaffen hat, wie es die Blüten zerstört und neue treibt. Das ist ein Gesetz, Elinor! Jedes Ding, jede Freundschaft, jede Liebe hat ihre Dauer. Anders ist's nicht. Und nur die Menschen in ihrer Verkehrtheit und in ihrer Eigensucht wollen die Dinge ewig machen ... und daraus kommen alle die Lügen und das Schlechte. Es kommt vor, daß eine Liebe ein ganzes Leben dauert, aber das ist sehr selten. Verstehe! Hast du nicht auch Marquart einmal lieb gehabt?«
»Ja« – wieder blutrot – »aber das ...«
»Ja, das war nur ein Kindergefühl. Aber es war doch ein Liebesgefühl, nicht? Es hat ein paar Tage gedauert!«
»Länger ...«
»Länger!« – lachte Johanna, »gut! Aber es ist vorübergegangen. Ich liebe heute jemanden andern. Ja! – Sei nicht so erschrocken! Ich bin darum doch dieselbe Johanna ... Du sollst ihn einmal kennen lernen, weil er ein so herrlicher, lieber Kerl ist! Solch einem Menschen sollst auch du einmal begegnen und ihn lieb haben. Darum wirf dich nicht fort, Elinor.«
Elinor nickte. Dann warf sie sich an Johannas Hals. Groß und beschützend fühlte sich Johanna in ihrem Glück. Ihr war als gebe sie dem Kinde davon. Unermeßlich reich fühlte sie sich. Nur eine Minute währten Elinors Tränen; dann ging sie wieder auf und ab. Wieder pochte Maria, die selbst Ruhe begehrte und wünschte, daß die Schwester endlich schlafen sollte.
Sie begannen sich zu entkleiden, in Pausen, immer wieder ihre Gespräche fortsetzend. Denn wieviel verwirrende, an ihr innerstes Wesen greifende Fragen regte das alles auf – und sie hatten nur diese eine Nacht, um miteinander zu sprechen. Elinor war betäubt von dem, was sie hörte. Johanna betroffen und erbittert, ein halbwissendes Kind vor sich zu haben ... im dreiundzwanzigsten Jahr! Sie faßte einen Entschluß und versank in Nachdenken.
Als sie aufsah, entfuhren ihr unwillkürlich die Worte, in liebevoller Bewunderung: »Wie schön du bist, Elinor!«
Elinor errötete über und über.
Johanna setzte sich an Elinors Bett und in ihrer ernsten Weise, in ihrer feierlichen Auffassung erklärte sie dem Mädchen viele Dinge, von denen ihr gut schien, daß sie sie wissen sollte, und die ihr andre sicherlich nicht sagten. Sie tat der Reinheit der Flamme keinen Abbruch, die sie pries, sie erhöhte sie. Aber das Mädchen sollte die Gefahren kennen und von dem düsteren Schmutz der Erde wissen. Um so leichter konnte sie sich rein und weiß bewahren. Erschüttert und dankbar hörte Elinor ihr zu.
Aber in ihrem Gespräch kamen sie zu einem Punkt, bei dem sie sich nicht mehr verstanden. Sie sprachen von den Kindern, und da brach Elinor in heißes Schluchzen aus, und Johanna begegnete einer Sehnsucht nach dem Kinde, die ihr fremd war, und die von Elinors Liebessehnsucht untrennbar schien.
Und sie, die willig Unfruchtbare, sie, die nur die freie Geliebte sein und kein Schicksal begründen wollte, so lange sie nicht Bedingungen in der Welt gegeben sah, die nie erfüllt wurden, – sie fühlte sich sonderbar überlegen zugleich und doch von etwas dumpf und feuervoll natürlichem geschlagen.
An Schlaf war nicht zu denken: sie drehten die elektrische Lampe, die sie schon ausgelöscht hatten, wieder auf und sprachen noch lange und aufgeregt mit einander. Johanna hatte Lux am nächsten Tag manches zu erzählen. Er gefiel ihr immer – er entzückte sie in seinem Zorn. Freiheit und Liebe waren die Schlüssel zum Leben, waren die Lust für ihn in diesen Jahren, die er atmete, und jeder Zwang, das unaufhörliche unerträgliche Sich-Einmengen der Menschen in die tiefsten und persönlichsten Angelegenheiten der andern ließ ihn bleich werden, wie Johanna es geworden war.
Er dachte der Quälerei, die Johanna mit ihrem Prozeß durchzumachen gehabt, einzelner Insolenzen, denen sie ausgesetzt war, und die er nicht rächen durfte ... er ging mit großen Schritten auf und ab.
»Das Leben soll uns nicht zu leicht gemacht werden,« sagte Johanna philosophisch. »Ich habe das Gefühl, es wird noch schlimmer kommen.«
»Ich danke!« sagte Lux.
Sie litt auch an den Vorgängen in Marquarts Haus. Dort ereigneten sich Dinge, die sein ganzes Leben zu zerstören drohten.
Von Lux aber wichen die trüben Gedanken bereits ... er hielt in seinen Schritten inne – blieb vor ihr stehen und seine Augen strahlten übermütig auf sie herab: »Ich habe vorgestern bedeutende Lücken in deiner Bildung entdeckt, Joh!«
Er hielt sich für gefeit. Und im Grunde war eine große Kampflust in ihm. Aber die Kämpfe des Lebens kommen immer von der Seite, von der man sie nicht erwartet, und nicht dort, wo wir unsere Front gewappnet haben. Es kamen Qualen, gegen die die seligste Liebe nicht feit. Qualen, die mit ihm verwachsen schienen. Was sollten seine juristischen Studien? für künftige »Taten« waren sie wahrhaftig nicht nötig, und die Tätigkeit zog ihn nicht an. Er hatte alle Lust daran verloren. Johanna und er hatten im letzten Jahr fast nur Philosophie getrieben. Das war viel anziehender und lockte in Fragen, die die ganze Welt gleichsam in ein schillerndes Gespinst einzuhüllen und mit tausend Lebensfäden zu durchziehen schienen. Vielleicht war es nur Spielerei, wie Carl von Bauer behauptete. »Alle Metaphysik ist Wortspielerei. Geistige Trapezkunststückchen. Münchhausen, der sich beständig am eigenen Zopf umherzieht und unbändig darüber freut, daß er so gut vorwärts kommt!« Vielleicht! Aber was war dann die Juristerei? Trapezkunststücke weit schlimmerer Art, weil sie ins praktische Leben griffen – Taschenspielerstreiche und Zirkustäuschungen, für die von aller Welt ein schweres Eintrittsgeld erhoben wird. Die künstlichste, wahnwitzigste Ausgeburt eines kranken sozialen Körpers – ein wahres Exsudat am Leibe der Menschheit!
Der Professor lachte leise. Luxens »Unbedingtheit« amüsierte ihn immer. Und daß er ihm seine eigenen Bilder zurückgab, ergötzte ihn noch mehr. Aber Lux war wirklich wütend. Und er fühlte sich innerlich zerrissen. Eine alte Lust stieg wieder in ihm auf, wie er sie immer gefühlt und nach der Maturitätsprüfung hatte verwirklichen wollen, als der Vater und Onkel Richard ihn davon abbrachten: Wirklich zu arbeiten, an der Erde zu arbeiten ... den Stein zu bewegen, Straßen, Dämme und Brücken zu bauen, oder Häuser: Architekt werden, oder auch nur Baumeister. Vernünftige Häuser für die Menschen zu bauen. Im Geiste erbaute er eine ganze Stadt mit Wohnstätten, wie sie für die Menschen gut wären ... Das hieß in der Tat schaffen. Im nächsten Augenblick hatte er sich selbst festgenommen. Projektenmacherei? fühlte er den Vater – das väterliche Erbe in sich? Aber der Vater hatte auch eine unermüdliche Energie, seine Projekte durchzuführen – nur die Menschen verdarben sie in ihm jedesmal. Immer wieder raffte er sich auf und begann etwas Neues. Nein, Lux fürchtete auch für sich nichts. Er wußte aus Erfahrung, wenn ihn solch ein innerer Wirbel packte, daß er ihn eines Tages mit einem kurzen Entschluß beenden würde.
Und im Notfall ging man eben fort. Er dachte des alten Wortes, das Johanna gesprochen: er hatte nichts dagegen, es als Taglöhner zu versuchen! Sein Körper war Eisen.
Doch sein Geist war verstimmt. Johanna war über diese Sinnesänderung betroffen. Er war ohnedies bereits ein alter Student! Aber sie verstand ihn, und sie hatte nur das eine Bedürfnis, ihm zu helfen, daß er sich völlig klar wurde.
Klarheit! In ihr waren nie Zweifel, wie sie Lux mitunter so heftig bestürmten. Was suchte er?
Carl von Bauer pflegte eine Anekdote aus seinen Offiziertagen zu erzählen: »Das Glück ist nicht die Hauptsache im Menschenleben,« hatte ein blasser junger Pionieroffizier einem Husarenleutnant, einem jungen ungarischen Magnaten, geantwortet, der stets beim Spiel und in jedem Unternehmen erstaunliches Glück hatte, und der den andern an einem Unglückstag abergläubisch vor einem Ritt warnte, den dieser unternahm, um ein Versprechen zu halten.
Jene Worte lagen ihm oft quälend im Sinn.
Er war noch in solchen Kämpfen, als die erwartete Einberufung zur Waffenübung kam. Johanna dachte, die Wochen im Dienst würden ihm gut tun; er selbst ging mit gemischten Gefühlen: der Leutnant sagte ihm nicht zu.
Seine Division lag in Mähren; er war kaum zwei Stunden von Klein-Lostitz entfernt. Am zweiten Samstag Abend fuhr er hinüber; wenn er Montag um zwei Uhr morgens aufbrach, traf er noch rechtzeitig in der Kaserne ein.
Er sah prächtig aus in der schmucken Uniform des Feld-Artilleristen. Die silberne Kartusche auf dem braunen Waffenrock, der schwarze Haarbusch am Czako ... er lachte freilich. Großes Staunen und Schauen war unter den Mägden auf dem Hof; sie stießen einander an und kamen an die Fenster und Türen der Waschküche und Vorratshäuser, wenn er vorüberging. Die Mutter lachte gleichfalls über ihren »bunten Wurschtel« und freute sich doch. Nur um die blonden Haare tat es ihr leid. Hätte er die behalten dürfen, so hätte er in der Tat einem Offizier der französischen Revolutionsheere nicht unähnlich gesehen. Der Vater neckte den »Freiheitskämpfer«, den »Revolutionshelden in Livree«, und Lux lächelte dazu; fast fühlte er die alte Kinderlaune an diesem einen Tag, der solch ein herzlicher Festtag schien.
Beim Mittagstisch war von Berkheims Scheidung die Rede. Beide Eltern gaben dem Hofrat recht, daß er ein reinliches Ende machte und sich von dieser unsagbaren Frau löste. »Person« war der Ausdruck der Mutter.
Lux wurde weiß wie Wachs. Sein Aussehen und die Worte, die er hervorbrachte, genügten. Die Eltern wurden so bleich wie er.
Ein Schweigen entstand. Das Mädchen trug eine Schüssel herein, und das Schweigen dauerte fort. Sie servierte. Endlich hielt Helene es nicht mehr aus und hieß die Magd gehen, sie werde selber ... das Mädchen erstaunte über die Heftigkeit, mit der die Frau sprach.
»Lux!« sagte sie, sobald die Tür sich schloß ... sie brach in Tränen aus.
Lux stand auf. »Ich liebe diese Frau,« sagte er mit rauher Stimme, »sie steht höher als irgend ein Mensch auf der Welt. Und wer sie nicht kennt, hat kein Recht über sie zu sprechen.«
»Mäßige gefälligst deinen Ton, Lux!« sagte der Vater. »Ja?!«
Lux wollte sich mäßigen, wollte ruhig sprechen, obgleich in seiner Brust Flammen aufschlugen – und sein Gesicht bald rot, bald weiß war.
»Ihr kennt diese Frau nicht,« sagte er so bescheiden als möglich; »ihr habt vor fünf Jahren selbst gesagt, man dürfe nicht urteilen. Gebt zu, daß ihr über sie nicht urteilen könnt!«
»Vater! Carl!« sagte Helene zu ihrem Gatten mit erstickter Stimme. »Das!! Dafür!«
»Wir kennen sie allerdings nicht sehr gut,« erwiderte Karl Obrist, »aber wir haben allen Grund zu glauben, daß du sie noch viel weniger kennst.« Er dachte an Richard Berkheim, – die Frau des alten Onkels! – an Marquart ... Ärger stieg in ihm auf. »Bleiben Sie draußen, Anna!« schrie er der eintretenden Magd zu, und der ärgerliche Ton blieb in seiner Stimme: »Was soll solch ein junger Hund wie du von solchen Frauen verstehen? Du bist eben eingefangen ...« Es war ja so erklärlich, daß ein Geschöpf wie er und Helene sich Johanna vorstellen mußten, den schönen jungen Menschen, sobald sie ihn gesehen, sich einfing, und Marquart fahren ließ, wenn sie nicht ... »Ah, hol's der Teufel!« sagte er. »Ich danke, ich habe genug vom Essen!« Er stand auf und ging im Zimmer auf und ab. »Narrheiten macht ein jeder. Aber die deinen sind schon grotesk! Sie sind gegen den guten Geschmack. Übrigens ... was geht's uns an? Wir wollen nur nichts davon wissen. Ich kann dich nicht mehr in die Kinderstube sperren, dazu bist du zu alt!«
Wer sich hoch in den Bergen in Liebesmonden als Gott gefühlt, verträgt eine solche Sprache nicht mehr. Der Vater stand vor ihm, elegant und groß, unter dem ergrauenden Schnurrbart zuckten die Lippen, wie die des Sohnes, seine Augen funkelten vor Unwillen. Lux sah nur Ungerechtigkeit und Vorurteil. Und sie waren alle heftige Menschen, weise, wenn sie Zeit hatten zu überlegen, unaufhaltsam im Augenblick.
»Du hast ganz recht, Vater – dazu bin ich zu alt. Und ich weiß sehr genau, was ich tue. Ich verlange auch gar nichts dazu ...«
»Gar nichts!?«
»Gar nichts, wenn du willst. Aber ich kann und will kein Wort gegen diese Frau hören.«
»Ganz gegenseitig, mein lieber Junge, ganz gegenseitig. Wir wollen nichts von ihr hören. Und damit Schluß!«
»Es ist gut,« sagte Lux und verließ das Zimmer.
Sie verbrachten keinen angenehmen Nachmittag. In den pochenden Empfindungen, den stürmenden Gedanken Helenens begann das Bild ihres Sohnes sich zu klären. Er war der Betörte ... »aber auf seiner Seite ist es das große starke Gefühl, das er zu geben hat ... es spricht für ihn«. Hassenswert war die Frau, aber interessant und kühn – dessen entsann sie sich wohl. Das also war die schlanke Gestalt mit dem dunkeln Haar, die sie in ihren Träumen verfolgt hatte ... Jene Reiche der Weiblichkeit zweiten, dritten und vierten Ranges mit ihrer unechten Vergoldung und ihren künstlichen Blumen, jene Welt, in die reine und reinliche Frauen den Fuß nicht setzen, der stets auf den blanken Parkwegen einer patrizischen Existenz gewandelt – ihr Sohn war wie die meisten Männer ihrem ungesunden Reiz erlegen. Sie hätte viel verziehen, aber nicht das, was ihr unsauber schien. Gewiß nicht von seiner Seite. Aber wenn solch ein Verhältnis Jahre dauert, erliegt der Beste der Korruption! Was nun tun?!
Ihr Mann ging zornig auf und ab. Er sah vor allem die grenzenlose Torheit, den ungeheuerlichen Skandal, der immer ausbrechen konnte – das Zerflattern aller Pläne ... aber das alles war nicht das Schlimmste. Das war die Charakterschwäche, die sich offenbarte. Er wiederholte sein altes Wort: »Er ist schwächer als wir beide, und er ist genußsüchtig.« Er hatte sich über seine Kinder nie etwas vorgetäuscht. Die zornige Qual, die er empfand, ward dadurch nicht geringer.
Helene kannte ihren Mann und kannte Lux soweit: Brachen sie einmal, so war es ein Bruch für Jahre. Gerade weil sie einander bewunderten und liebten.
Sie folgte Lux auf sein Zimmer. Es war, wie sie fürchtete: er packte seinen Mantelsack. Er sah auf, als sie eintrat, und machte einen Stuhl für sie frei.
»Wäre es nicht an dir gewesen, zu uns zu kommen, Lux – während ich zu dir komme?«
»Weiß nicht«, antwortete er und legte seine Wäsche zusammen. »Entschuldige, Mutter, daß ich mich nicht unterbreche, aber der Zug geht um vier Uhr zwanzig. Ich habe gerade Zeit.«
Sie griff nach seiner Hand und hielt sie. »Lasse den Zug, Lux. Wir wollen reden.«
Er schüttelte den Kopf und schnürte die Riemen zu.
»Glaubst du nicht, daß wir nur dein Bestes wollen. Lux?«
»Das ist immer der Vorwand der Tyrannei gewesen.«
»Ich glaube nicht, daß du Tyrannei nennen kannst, wie der Vater und ich stets gegen euch waren. Wenige Kinder haben solch eine Freiheit gehabt ...«
»Sie ist nicht ganz,« sagte Lux unerbittlich. »Ihr bleibt auf halbem Wege stehen.«
»Wir wollen nur nicht, daß du ...«
»Mutter, Mutter,« unterbrach er sie. »Sage kein Wort, wenn du nicht alles noch schlimmer machen willst.«
»Du liebst sie so sehr?!«
Er schwieg einen Augenblick, aber der Anblick der Mutter und ihr Ton ergriff ihn, und er sagte die Worte, deren Grausamkeit er nicht bedachte:
»Ich verdanke ihr mehr als das Leben ... mehr als irgend einem Menschen auf der Erde.«
»Ich weiß, daß du ehrlich fühlst,« sagte sie mühsam, »aber du kannst verblendet sein ... du bist verliebt ...« Lux fühlte keine Neigung, Johanna zu verteidigen, das schien ihm bereits eine Verletzung. Er sagte ruhig:
»Nur der Liebende versteht. Du hast das einmal selbst gesagt. Ich verlange nichts weiter, als daß ihr nicht von ihr sprecht. Laßt mir meine Angelegenheiten.«
»Können deine Angelegenheiten jemals nicht die unseren sein?«
»Sie sind immer nur die meinen. Das sagt alles der Vater in der Theorie selbst. Ich kann alles verstehen, aber ich glaube, es ist besser, ich fahre jetzt fort.«
Etwas stürmte in ihr auf, und sie sagte ihm in heftigen Worten, was sie dachte: ... Unser Sohn, solcher Liebe entsprungen, ihrer beider Hoffnung und Freude ... verstand er nicht, was sie verdammte? – was sie von ihm erwartete? ... kannte er sie nicht genug, um zu wissen, daß es nicht die Leidenschaft, nicht die Ungesetzlichkeit an sich war, die sie verwarf ...
Sie wußte nicht, wie gepanzert er gegen solche Vorwürfe war: sie wendete sein Schwert gegen ihn. Er brauchte es ihr nur zu sagen, aber er verschmähte es wie immer, »große Worte« zu machen, seine Liebe zu rechtfertigen; er verlangte Freiheit.
»Du verdammst, was du nicht kennst!« sagte er kalt, »der Zug geht. Kann Hanusch mir die Tasche zur Bahn tragen?«
»Nimm eines der Pferde – du hast Zeit.«
Er schüttelte den Kopf und küßte die Mutter ... sie fühlte, seine Zärtlichkeit war fern. Er nahm vom Vater keinen Abschied, heftige Worte fürchtend; bat sie, es für ihn zu tun. Es war ihm schwer zu Mut, als er ging, aber sagte sich sein Wort »Durch« und schritt aus, daß der Knecht kaum folgen konnte.
Es hatte keinen Sinn, die Mutter mit Johanna zusammenzubringen. Johanna würde schweigen, Helenes Voreingenommenheit nicht beseitigt werden. Das war nie leicht bei ihr. Der Vater würde höflich sein, wie gegen jede Dame ... nein, er würde gar nicht darauf eingehen. Sei's denn so.
Das Leben bringt sinnlose Ärgernisse. Die feindliche Kavallerie nahm im Manöver einen Trainwagen, in dem sich sein Koffer befand. In dem Koffer, der versperrt war, lagen Briefe Johannas; Lux durfte darauf rechnen, daß niemand ihn öffnen würde. Aber das Stück wurde verschleppt und war lange nicht aufzufinden, dann wurde es hin und her geschickt und kam erst Wochen später in einem kläglichen Zustand wieder in seine Hände. Viele Dinge, auch die Briefe fehlten. Durch einen Zufall erfuhr er später, daß freiwillige Dragoner sich einen Abend im Manöver damit unterhalten hatten, aufgefangene Liebesbriefe vorzulesen. Die Briefe waren nur mit J. gezeichnet, aber auf den Kuverts stand sein Name. Sie waren rückwärts mit dem Siegelabdruck L.L. versehen, – das bedeutete »Lux Lucis«; er hatte es in Erinnerung eines Liebes-Wortscherzes für Johanna gravieren lassen. Also war kein Faden, der zur Schreiberin der Briefe leitete.
Lux geriet in den heftigsten Zorn; die Leute, die es getan, waren dumme Buben, es war gleich schwer, sie zur Rechenschaft zu ziehen, wie sie laufen zu lassen. Zunächst schien es kaum möglich, die Täter zu finden – die Leute, an die er sich wendete, wußten von nichts, lächelten, bedauerten, keine Auskunft geben zu können. Es war einer jener Fälle, in denen Inkorrektheit und Gemütlichkeit sich, wie so gern bei uns zu Lande, begegneten und Lux hatte das Gefühl, sich selbst lächerlich zu machen. Einer der zur Rede gestellten jedoch gab ihm in anmaßendem Ton solche Antworten, daß er nicht zweifelte, einen der Täter vor sich zu haben; und die Selbstbeherrschung verließ ihn: er faßte den jungen Mann am Halse und versetzte ihm ein paar schwere Streiche ins Gesicht. Er war der Sohn seines Vaters ... er fühlte es. Ein Duell lehnte er ab.
Vor dem Ehrenrat erklärte er, daß das Duell seinen Prinzipien widerspreche, er redete von »Spielerei« ... wenn er schon seinen Mut »beweisen« müßte, so habe er ihn schließlich dadurch gezeigt, daß er im Zivilanzug den Mann in Uniform, der einen Säbel an der Seite trug – es war ein Titular-Wachtmeister, der noch im Dienst war – geprügelt. Übrigens wenn er das Duell an sich für zulässig halten könnte, so halte er einen Mann, der fremde Briefe lese, nicht für satisfaktionsfähig; noch weniger einen, der dann lüge und nicht einmal den Mut habe, es zu bekennen.
Die Herren waren nicht unfreundlich; es tat ihnen leid, so vorgehen zu müssen: Lux verlor seine Charge. Er war nicht unzufrieden mit dem Resultat. Eine Zeitung, die von der Sache erfahren hatte, berichtete darüber und andre druckten den Bericht nach. Das alles geschah indessen bedeutend später, als er von Italien zurückkam.