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Der Wagen erwartete Lux an der Station. Die Straße zog sich in Windungen zwischen Feldern über die Hügel hin. Als sie mählich steigend durch den Bergwald führte, und der Kutscher die müden schweißbedeckten Pferde langsam trotten ließ, da sprang Lux aus dem Wagen und fragte, ob kein näherer Fußpfad an den See führe.
Er ließ sein Gepäck im Wagen und ging mit großen Schritten zwischen Büschen und Bäumen hin, über denen der abendliche Himmel lag.
Seine Gedanken waren bei Johanna. Er war nur ungern fortgegangen, ihrem Drängen folgend, und er hoffte, sie würde nachkommen. Marias Angesicht tauchte auf, die er gerne wiedersah; und nicht ganz ohne Neugier erwartete er, ihre Schwester kennen zu lernen.
Mächtige Buchen wölbten sich längs der tiefen steinigen Wegfurche; dann ging es über Wiesen, auf denen Haselstauden standen; bis ihn der Nadelwald aufnahm, märchenhaft mit seinen gotischen Pfeilern. Ein Eichhörnchen machte Männchen vor ihm und sprang davon. Kleine dunkle Büsche standen wie zwerghafte Wichte am Wege. Ein einsamer runder Teich lag im Walde, dunkel und unbeweglich, von dem regungslosen Halbkreis der Bäume umgeben, mit schilfbewachsenen Ufern. Nun schritt er durch einen toten Wald hin: die allzudichten niedrigen Stämme waren verdorrt und ganz mit graugrünen Flechten bedeckt, sein Fuß zertrat unzählige krachende graue Reiser. Spinnweben lagen überall über den Zweigen. Schon stieg Gefels aus dem Boden und verschwand wieder; weich und braun ging der Weg über den mit unzähligen Nadeln bedeckten Boden hin. Ein einsames weißes Gehöft stand im Walde – kein Mensch regte sich; unter der Öffnung des grünen Zaunes kam eine große Schar kleiner schneeweißer Hühner mit gelben Füßen und kleinen roten Kämmen hervor, immer mehr, bis ihrer vielleicht fünfzig waren, und sie liefen, sei es erschreckt, sei es des Fütterns gewohnt, eine ganze Strecke neben ihm durch den dämmrigen Wald her. Als er das Ende der Verzäunung erreicht hatte, sah er in einiger Entfernung ein stattliches blondes Bauernmädchen mit auffallend seinen Gesichtszügen einen kleinen Handwagen ziehen, in dem zwei blonde zerlumpte Bauernkinder saßen. Er wollte sie anrufen und fragen, ob er auf dem richtigen Wege sei, als sie auch schon wieder verschwunden war. Auch die Hühner waren umgekehrt und verschwanden unter dem Zaun.
Mählich kam er auf gebahnte weiße Wege; und jetzt lag der See vor ihm, langgestreckt und spiegelnd im Widerschein der kaum noch sichtbaren Sonne. Fern im Grau erhoben sich endlose Reihen von Bergeskämmen und Spitzen. Das weiße Haus an der Wand stand vor ihm. Der Wagen war längst angekommen, ein Diener führte ihn in sein Zimmer, wo sein Koffer und Kannen mit frischestem Wasser bereit standen.
Im Saal mit den vier Türen und den Eichenmöbeln erwarteten ihn zwei schwarzgekleidete junge Frauen. Der Knabe schlief bereits. Elinor errötete ein wenig, als Maria ihr Lux vorstellte. Sie verglich ihn mit dem Engel auf dem Bilde, und er erkannte das Angesicht und die Bewegung wieder, die ihm auf jenem Ball königlich erschienen waren. Sie erkundigte sich nach Johanna.
»Sie sind mit ihr verwandt, nicht wahr?« fragte Maria.
Lux erklärte, daß er der Neffe oder vielmehr der Vetter ihres Mannes sei.
Das Gespräch flutete sogleich ohne Hemmnis und Mißton zwischen ihnen, mit Erzählungen und Lachen und Ernst – sie begegneten sich in ihren Empfindungen und in ihren Gedanken. Selbst, wenn ihre verschiedene Entwicklung und der Verkehr, den sie gewohnt waren, sie hätten weit auseinander führen müssen, da sprangen ihre Worte im Augenblick über den Abgrund und schlugen Brücken und vereinten sich. Sie erkannten: sie sprachen eine Sprache. Es waren fast nur Maria und Lux, die redeten; Elinor schwieg zumeist – sie lauschte und sah bald die Schwester und bald den Gast mit ihrem von Zeit zu Zeit sich verändernden und dann wieder eine Weile unbeweglichen Ausdruck an. Maria aber gab ihre seinen, halb lachenden, oft ihrer selbst spottenden Bemerkungen, froh, einen Menschen vor sich zu haben, der all die künstlerische Freude, die sie empfand, mitempfinden konnte. Aber die Worte der Menschen pochen an alle Türen ihrer Seelen, und dort, wo die sich auftun können, führen sie leicht über die weiten Meere und die tiefsten Ströme des Lebens hin. Nennt das gefährliche Wort »Liebe« zwischen Menschen, und alles, was sie reden, wird lächerlich oder erhaben, sprecht von irgend etwas zwischen Geburt und Tod, was Menschen erregen kann, – wie sie sich verhüllen, wie sie sich verraten werden! Sobald sie einmal soweit waren, sprach Lux jenes Evangelium der Freiheit aus, das Johanna und ihm gleichsam in die Herzen gebrannt war. Er sprach weder laut noch heftig ... dennoch waren seine Worte für die zwei Frauen, die ihre Jugend in der Gefangenschaft verbracht hatten, erst wie ein Hornruf, der erstaunen macht, und dann wie ein silberner Gießbach, und zuletzt erschreckende Zeichen, die wie die Flammen Belsazars an den Wänden des Zimmers aufzuleuchten schienen.
Sie hatten sich hierher geflüchtet aus ihrer Familie und aus der Welt, um einige Tage in Ruhe an dem stillen See zu verbringen, und siehe, da trat einer ein, der die Welt, die auf ihnen lastete und die sie, wenn auch im Herzen erbittert, anerkannten, rücksichtslos in Stücke schlug, mit einer Sicherheit der Zerstörung, die ihnen fast den Atem nahm. Um das Haupt des Engels schien eine unterweltliche Flamme zu gleißen.
Sonst war dieser Lucifer zart und sanft wie ein Mädchen; er verletzte nie, er war unermüdlich in kleinen Diensten, unaufdringlich zugleich, eher zu zurückhaltend; er erschien zu den Mahlzeiten oder wenn man ihn rief.
Es war vielleicht diese Zartheit, die Elinor den Mund öffnete, oder sonst ein unerklärtes Gefühl des Verständnisses und der Kameradschaft. Er sah sie am nächsten Morgen und erkannte das Bauernmädchen wieder, das er bei dem Gehöft im Walde gesehen: sie trug jetzt nicht mehr ihr langes Trauerkleid, sondern die ländliche Tracht der Mädchen aus den Alpen, die ihre kräftige Gestalt sehr gut kleidete. Sie hatten die Morgen für sich, da beide früh aufstanden, während Maria spät sichtbar wurde und dann den Vormittag ihrem Kinde widmete. Sonst blieb Elinor bei ihr, nun begleitete sie den Gast auf seinem Morgenspaziergang, da er ja nur wenige Tage bleiben sollte.
Sie schritten rasch nebeneinander durch das Gras hin und bogen in den Wald ein. Und da begann Elinor zu erzählen. Sie hätte selbst nie sagen können, was sie dazu vermocht hatte. Erst zögernd und unbestimmt fragend, was er meine, wenn »man« ... oder was er davon denke, ob man dies Recht habe und jenes, und ob es erlaubt gewesen, so mit Kindern zu verfahren; ihr dies zu gebieten und das zu versagen. Ein Verlangen, mehr um sich selber zu wissen, ein hilfesuchendes Greifen nach der Hand, die ihr Klarheit geben sollte und die düstern Schleier zerreißen, unter denen ihre Seele lag, sprach aus ihren Worten. Was Maria zum Teil wußte, was sie Johanna zum Teil sagen konnte, sprach sie hier aus, aber ganz anders – sie verschwieg so viel und sie gab doch mehr, sie sprach mit viel mehr Scheu, und doch kam alles tiefer aus dem Innersten ihrer Seele, und bald mit solcher Kühnheit, daß sie es selbst nicht begriff.
Er hörte und schwieg, nicht ohne tiefe Erregung. Er war mit einem Auftrag von Johanna gekommen. Johanna selbst hatte ihn gebeten, sich Elinors anzunehmen, ihr zu helfen, ihr Licht zu bringen, wie sein Name sagte. Er sah bald, daß es eine wundersame Seele war, einfach und tief, ein Mensch, für den es nur Empfindungen von qualvoller Intensität und nur ganz große gewaltsame Entschlüsse gab.
Wenn sie eine direkte Frage an ihn richtete, dann waren seine Antworten die des Unerschütterlichen und Bandenlosen, der nach nichts als nach den Geboten seines Wesens fragt, für den es Rücksichten auf Vorteile und Urteile nicht gibt. Diese Anschauungen waren für sie einen Augenblick lang ein Schrecken, wie wenn der bodenlose Raum sich öffnete, und dann ein Entzücken, weil in ihr der furchtlose Trotz ihres Geschlechtes war.
Sie kamen zurück, und Maria erschien, sie zu begrüßen. Ihr blonder kleiner Junge, barfuß in kurzen Lederhosen, grüne Träger über dem weißen Hemdchen, sprang an Elinor empor. Er hing sehr an ihr und war bald sehr eifersüchtig auf Lux, obgleich dieser ihn in die Lüfte schwang, auf seinem Rücken reiten ließ, oder mit ihm durchs Gras rollte. Er war ein nachdenkliches Kind, das viele Fragen stellte – von der Mutter, die sich gewissenhaft mehrere Stunden täglich mit ihm beschäftigte, verwöhnt und geliebkost und ihr dennoch fremd. Sie konnte lange im Zimmer sitzen und nach ihm schauen, während er spielte, sich fragend, wessen Seele er wohl hätte, und ob sie ihn wirklich liebte ... um aufzufahren und vor sich selbst zu erschrecken. Sie, die sich mit Schönheit berauschte, wie andre mit Taten oder Wein, die auch hier im Gebirge ihre Mappen mit Stichen, ihre Musik, ihren Schmuck, ihre Kleiderpracht mitführte – immer selbst in neuer Schönheit erscheinend – die die einfachen weißen Stuben des Hauses mit ein paar Brettern, auf die sie Schüsseln und Krüge stellte, mit ein paar Seidenlappen, die sie an die Wände nagelte, mit Gefäßen voll Blumen, die sie darin aufstellte, in zierliche und entzückende Gemächer umwandelte – sie ging auch hier ruhelos umher und änderte fortwährend alles im Hause, still anordnend, was geschehen sollte, so daß es denen, die mit ihr lebten, schien, als ob sie sich und ihr Haus ewig schmückte, um jemanden zu empfangen, der niemals kam.
Oft griff sie abends zu ihrer Geige und spielte, manchmal die traurigste und manchmal die glühendste Musik. Sie liebte Brahms, den Lux nicht leiden mochte: so spielte sie für ihn die Musik alter Italiener, die kaum gekannt waren. Mitunter setzte sich Elinor ans Klavier und begleitete sie, und Lux saß und hörte zu. Er dachte in diesen Tagen zu ruhen und gab sich der Atmosphäre von Trauer und Schönheit hin, die ihn in dieser Einsamkeit umfing.
Wenn er aus den Zimmern ins Freie oder an die Fenster trat, lag der dunkelgrüne See vor ihm, der an die Tannen spülte und über dem einsame Vögel kreisten. Am zweiten Nachmittag stand ein Gewitter über dem See, das gegen Abend mit solchem Toben losbrach, wie sie es selten gesehen hatten. Die Wasser des Sees schienen eine schwere schmutziggraue Masse, die sich mit weißem Schaume wälzte, wie bewegter Lehm – und über diese Masse fuhren die Blitze immer wieder und wieder, alles mit ihrem bläulichen Licht blendend aus dem Dunkel reißend, in das die tiefen schwarzen Wolken die Landschaft hüllten. Jedes einzelne Schilfrohr wurde für einen Augenblick sichtbar, und ein Losgerissener Kahn, der wie ein hilfloses Menschenschicksal über die Wellen trieb.
Sie standen alle drei an dem großen Fenster eines Zimmers im oberen Stockwerk und sahen schweigend hinaus.
Als der Sturm vorüber war und der Donner sich entfernte, ging ein gleichförmig plätschernder starker Regen nieder, und die feuchte reine Luft strömte in die Zimmer. Maria und Elinor gingen auf und ab, während Lux am Sofa faß und Photographien betrachtete ... Von Zeit zu Zeit aber hob er den Blick und verfolgte das ruhelose Gehen der beiden Schwestern.