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Zweites Buch

I

Aus dem Haus ihres Mannes kehrte sie zunächst in das ihrer Eltern zurück. Es war ihr nichts andres übrig geblieben.

Die Zeit ihres Glückes und ihrer Freiheit begann mit qualvollen Peinlichkeiten. Niemand sprach ein Wort, das sie verletzen konnte, aber alle waren niedergeschlagen, und die bloße Enge der kleinen Wohnung, in der jeder den ganzen Tag an den andern gedrängt ward, war unerträglich, Marquart kam, sie zu besuchen; er blieb kaum eine halbe Stunde, aber während dieser Zeit war es, als ob die Zimmer tönten und summten. Sie suhlte die Bangheit, in der die Mutter im Nebenzimmer saß, sah den finstern Schreck in den Augen des Bruders. Sie wollte fort, ans Meer, in die Berge – aber wie sollte sie das? Sie mußte nun zunächst Geld verdienen, um leben zu können.

Da machte ihr Marquart den Vorschlag, sie sollte Vorleserin oder Gesellschafterin bei einer vermögenden alten Dame werden, die eine Villa in der Nähe Wiens besaß und mit der er befreundet war. Sie war jetzt noch in Nizza – er wollte ihr sogleich schreiben.

Frau von Gielowski antwortete: »sie werde in drei Wochen nach Wien kommen und sich freuen, die von Marquart empfohlene Dame zu sehen.« Bis dahin schlug Marquart ihr vor, sollte sie aufs Land gehen; dort würden sie sich frei und ungehindert sehen können, – wer werde sich um sie kümmern, wer wissen, wer sie sei?

Sie zog in ein kleines, wenig besuchtes Tal des Wiener Waldes, zwei Stunden von der Stadt entfernt. Das Häuschen, in dem sie wohnte, lag am Bergabhang, und von ihren Fenstern sah sie auf ein breites dunkles Wasser, das am Abend vom Schein der sinkenden Sonne im Zwielicht fahl und traurig glänzte. Es war ein kahler, kalter Vorfrühling. Unter den noch kaum belaubten Bäumen konnte sie Marquart in seinem weiten Mantel, mit dem breiten Hut über dem bärtigen Gesicht, mit seinen hastigen Schritten und dem schwingenden Gang, herankommen sehen.

Er schien ihr verändert. Die Leidenschaft, die ihn erfüllte und zu ihr trieb, schien einen gleißenden Schimmer um sein Haupt zu gießen. Seine Lippen bebten und seine Augen funkelten, sein Hirn war in Flammen. Sie beugte sich unter dem rauschenden Strom zärtlicher und geistdurchleuchteter Worte.

Die ganze Welt schien ihre Vereinigung zu besahen. Uralte Schöpfungssagen erzählte ihr Marquart; von dem »zwiefach geteilten Strom des weltschaffenden und erhaltenden Feuers, der unverschieden im irdischen und geistigen sich in jeder Blüte und in jedem Menschenpaar wiedervermählte.« Was lehrte er sie alles in der Welt sehen! Die Dichtungen und Philosophien der Völker machte er zu Dienerinnen seiner Liebeshuldigung, und viel Weisheit wurde zwischen Küssen gesprochen. Immer war sie Schülerin zugleich und Geliebte. Und wann gab es einen Lehrer, wie er es war? Doch als sie sich dem glühenden, wissenden Manne hingegeben und den rasenden Rausch empfand, in dem er sie umfing, war fast ein Schauder in ihrer Freude. Ihm, der in ihren Augen geboren war, die Welt zu befreien und ihr neue Erkenntnisse zu bringen, wie er sie befreit und ihr Erkenntnis gebracht hatte, wie gerne gab sie sich ihm! Und wenn seine Wonne größer war, als ihre, so hatte er, was er verdiente.

Sie erglühte, wenn er sie Narciß nannte, ihren Knabenkörper pries und ihr seltsame Griechenlieder übersetzte.

»Ja, aber die waren an Knaben gerichtet?«

Sie begriff seine Erklärungen nicht und schauderte. Da las er ihr Übersetzungen aus dem Gastmahl des Plato vor – o, es gab nichts, was seine Worte nicht erhaben und schön erscheinen lassen konnten. Er prägte alles zu Gold um.

Diese Wochen waren ein seliger und zugleich furchtbarer Rausch.

Und als die erste dieser Wochen vorüber war, da kam ein Morgen, an dem sie sonderbarerweise den Rausch nicht empfand, und trotzdem sie mit sich selbst danach rang, nicht empfinden konnte. Bleiern und grau schien der Tag ins Zimmer; und der Gedanke an den Freund schien etwas fernes und gleichgültiges. Diese qualvolle Pause währte nur ein paar Stunden, aber sie war da, und in diesen Stunden kam ein merkwürdiges und quälendes Gefühl über sie: das Bewußtsein, daß sie ein ganz andrer Mensch geworden war und nie wieder der werden konnte, der sie früher gewesen. Es war ein eigentümlich peinlicher, beschämender Schmerz und ein Wunsch, sich zu verbergen – während sie am Tage vorher nackt und stolz hätte über die Wiesen schreiten mögen. Aber die Sonne stieg auch an diesem Tag, das glückliche Beben kam wieder – und das Opfer schien gering gegen die Fülle des Lebens, die sie dafür empfangen hatte.

Wenn sie nur ihm Geschenke jeder Art hätte geben können, wenn sie ihm Reichtum gebracht hätte und Freiheit. »Freiheit« war das, wonach er schrie. Freiheit von Sorgen, Vorlesungen, Nachtarbeiten, langweiligen wissenschaftlichen Abhandlungen, schalen Stunden, einer engen Wohnung, einer kranken Frau und einem blassen kleinen Kind. Seine prophetenhaften Schriften, die die Welt umgestaltet hätten, blieben ungeschrieben, weil er in der peinlichen Enge und Lebensnot die große Stimmung dafür nicht finden konnte.

Wie dieser Gedanke sie niederdrückte!

Marquart begehrte, daß sie in die Stadt komme, daß sie ihre Eltern, daß sie Annita besuche, die nach ihr frage.

Sie begriff nicht, wie er das von ihr verlangen konnte. Sie fühlte jenes unsinnige Zittern wieder in allen ihren Gliedern. »Sie müsse es tun,« wiederholte er, »sie bestärke sonst den Verdacht, der schon geboren sei, die bittersten Wirrnisse mit unausdenklichen Folgen würden entstehen.«

Sie erwiderte nichts mehr, neigte den Kopf und versprach es.

»Sie ist mir einmal viel gewesen ...«

»Wie viele Frauen sind dir einmal viel gewesen,« unterbrach sie ihn. »Aber ich will nichts wissen,« fügte sie ruhig hinzu. Sie fand es selbstverständlich und er auch.

»Du bist mein Weib in jedem Sinn, nur du, das Weib meiner Seele, meines Geistes, meines Leibes – du bist die Göttertochter, die frei mit dem Freien überallhin ziehen könnte; aber ich bin gebunden – an ein armes sterbliches Weib, das ohne mich zu Grunde geht. Du kannst nicht so grausam sein.«

»Nein,« sagte Johanna – aber sie wußte kaum mehr, was er gesagt hatte. Etwas ganz andres bewegte sie bereits. Annita mußte wissen, was vorging und ihn selbst frei geben. Das war ihr klar. Die Freundin war groß genug, so zu handeln und die Gewalt der Ereignisse zu ertragen. »Ich werde es tun,« sagte sie laut.

Er riß sie an sich und trank ihre Küsse. Sie standen auf einem grasbewachsenen Hügel, und durch die jungen Bäume fuhr der Wind. »Der Atem der Erde,« sagte er, »aber komm, dort droht Regen.« Sie waren noch weit von Johannas Wohnung und während sie gingen, fielen bereits die schweren schweigenden Tropfen.

 

Als Johanna in Marquarts Vorzimmer trat, hörte sie an den Stimmen, daß Besuch da war. Sie erkannte Hedwig Lederers abgetragene, pelzbesetzte kleine Jacke und Mütze am Kleiderhaken. Aufmerksame Blicke betrachteten sie, als sie eintrat, und auch später fühlte sie bisweilen gespannte Augen auf sich gerichtet, aber sonst war alles wie gewöhnlich – bis auf eine Fieberwelle, die manchmal heiß in ihr aufwallte, war alles erstaunlich wie sonst. War die Welt nicht eine andre geworden? Aber nein, sie nahm Tee und sprach mit dem Kapellmeister Gribowski über Musik und mit dem langen deutschen Dozenten über Bücher, und hörte Hedwig Lederer mit dem freudigen Lachen in ihrer Stimme Marquart scherzende Vorwürfe dafür machen, daß er einen Kuchen, den sie Sonntags für ihn bereitet, nicht gebührend gewürdigt hätte.

Es war ein Tag, an dem Annita sich wohl befand, und sie war infolgedessen übermütig heiter oder tat so. Das stand ihr nicht gut; ihr Übermut war ohne Grazie. Sie wollte Klavier spielen, was ihr verboten war. Marquart beschwor sie, es nicht zu tun.

Der Kapellmeister öffnete das Klavier; Annita setzte sich neben ihn, ein wenig weiter zurück und blickte nach den Noten oder folgte seinen Fingern über die Tasten. Ihr Gesicht bekam einen ganz andern Ausdruck – sie wurde fast schön. Wer konnte wissen, was in ihr vorging, was sie alles seit so vielen Jahren an Schmerzen in sich begrub, und was nach Äußerung rang, gerade in diesen Tönen, in dieser verderblichen Kunst, die sie zerstört hatte; wie heiß sie danach verlangte ... Sie wandte sich nach Marquart um, der bereits nicht mehr nach ihr sah.

Auch Johanna sah sie in diesem Augenblick nicht, sie horchte auch nicht auf das Spiel, sie starrte in das Zimmer, auf die schadhaften Möbel, die alten Gardinen – welch eine Umgebung für den Mann, um den Pracht und Helle und Kunst sein sollte! – Gribowski begleitete sein Spiel mit theoretischen Bemerkungen. Hedwig lehnte am Klavier und hörte zu. Der Deutsche hatte die Hände Marquart auf die Schultern gelegt und ihn in ein Gespräch verwickelt. Johanna stand auf und ging in die andre Stube, das Zimmer, das ihr einst so märchenhaft erschienen war, und in dem sie jetzt nur die schlecht verhehlte Armut sah. Über dem kärglichen Garten vor dem Fenster ging die Sonne unter; ein roter Schein lag über dem Grün. Sie hörte ein Geräusch – Marquart stand hinter ihr, er griff nach ihrem Arm und zog sie an sich und umschlang sie mit heißen, heftigen Küssen.

Johanna versuchte sich zu lösen – im Nebenzimmer saßen Gribowski und Annita am Klavier; eine entsetzliche Beschämung ergriff sie. Diese heimlichen brennenden Küsse gruben sich wie Verbrechen in ihre Seele, und doch dürstete sie nach ihnen, und fast wider Willen hielt sie ihn fest, als er sie freigab. Er verließ sie mit schweren Schritten wie ein Trunkener und kehrte ins andre Zimmer zurück. Johanna blieb allein und starrte zum Fenster hinaus. Da ertönte ein schlürfender Schritt hinter ihr. Annita war im Zimmer und sah sie an. Johanna hatte das Gefühl, als ob ihr Herz aufhörte zu schlagen, aber sie brachte kein Wort hervor. Annita kam auf sie zu und sagte: »Sie müssen mir viel erzählen. Es ist ja so viel vorgegangen in diesen Wochen. Marquart hat mir davon gesagt. Aber heute sind zuviele Menschen da. Kommen Sie doch in diesen Tagen, Schatz! Kommen Sie am Mittwoch!«

Johanna starrte sie an und nickte mechanisch. Sie fühlte jetzt nur das eine Verlangen »diese Frau nie wieder sehen, – vergessen, daß sie existiert!« –

Es war ihr bitter genug zu Mut, als sie an dem bestimmten Tage mit streitenden Empfindungen durch die Straßen eilte. Einer plötzlichen Eingebung folgend trat sie in einen Blumenladen und kaufte einen Strauß weißer und roter Rosen.

Bis dahin war sie wiederholt stehen geblieben und hatte zu denken versucht, und zuletzt hatte sie wieder die klare Empfindung: »Wenn Annita Marquart wirklich liebt, muß sie mir ihn willig abtreten. Das muß sie. Sie muß fühlen, daß ich sein Weib bin. Und wenn sie nicht will – er ist frei – jeder Mensch ist frei und kann durch nichts gebunden und durch nichts unfrei werden.« Kein Gedanke der Welt stand ihr so fest wie dieser.

Aber sobald sie die Blumen hatte, dachte sie an nichts mehr, sondern eilte auf das alte, graue Haus zu, stieg rasch die vier Treppen empor, trat mit kurzem Pochen ins Zimmer und drückte die Rosen bebend in Annitas bebende Hände.

Annita knüpfte tiefsinnige Betrachtungen über das Leben und die Liebe an die weißen und roten Blüten und an die Dornen. Johanna hörte nicht. Sie sah das blasse, leidende Gesicht mit den großen, sehnsuchtsvollen Augen. Konnte dieses zarte, in einen Schal gehüllte Geschöpf, das an dem warmen Frühlingstag fröstelte, das gebrechlich schien wie ein kranker Singvogel, ertragen, was sie ihr zu sagen hatte?

Ein begehrliches »Erzählen Sie!« riß sie aus ihren Gedanken, und die großen Augen richteten sich gespannt auf ihr Gesicht.

»Ich kann nichts erzählen«, erwiderte sie tonlos.

Annita konnte ihre Enttäuschung und ihren Verdruß nicht verbergen.

»Was wollen Sie jetzt tun?« fragte sie.

»Mein Brot verdienen. Ihr Mann will mir eine Stelle als Vorleserin verschaffen.«

»Und damit wollen Sie Ihr Leben verbringen?« Annitas Stimme klang höhnisch.

»Oh, das Leben ...«, dachte Johanna.

»Sie müssen doch irgend einen Plan, irgend eine Absicht haben?« fragte Annita wieder.

Johanna ward die Antwort erspart, denn Marquarts Knabe kam hereingelaufen. Die blonden Locken fielen tief in das blasse Gesicht, und mit spitzem Mündlein und großen Augen erzählte er eine nicht sehr klare Geschichte von dem, was die Katze getan und die Magd gesagt hatte. Er wurde sehr heftig, als er sah, daß man ihn nicht recht verstand; und sie bemühten sich, ihn zu beruhigen. »Und jetzt muß ich wieder zur Katze gehen«, sagte er mit großem Ernst und lief hinaus.

Eine Weile war es ganz still im Zimmer – beide Frauen sprachen nicht ein Wort. In Johanna war qualvolles Ringen: so blieb ihr denn nur Schweigen übrig?! – »Und Lüge«, tönte es nach.

Inhaltlose Worte fielen, und in beiden wuchs die Empfindung, daß schwere und verhängnisvolle Dinge um sie lauerten. Annita begann von sich selbst zu erzählen, sprach von all den enttäuschten Hoffnungen ihrer Mädchenjahre, von ihrer Hoffnung, eine große Künstlerin zu werden, die ihre Lehrer teilten und steigerten; welche triumphierende Freude sie bei einem intimen Konzertabend bei ihrem Professor gefühlt; sie erinnerte sich des rosa Kleides, das sie getragen, der Blumen, mit denen sie beschenkt worden. Dann war Marquarts Liebe und Werbung gekommen, mit einem Schlage war sie bei der Erfüllung aller Wünsche angelangt ... Aber mit der Geburt des Kindes hatte sie ihre Kräfte verloren, und die Musik rieb sie auf. Von Woche zu Woche, von Monat zu Monat hatte sie ihren Zustand für vorübergehend gehalten und auf Genesung gehofft, bis aus den Monaten Jahre geworden. Wie hatte sie sich aufgebäumt gegen die Zeit und die Qual, und wie war sie überzeugt gewesen, zu ihrem Glück zurückzukehren) und indessen war sie immer weiter davon fortgetrieben in trübes Leiden hinein, und jetzt war es schon so unendlich fern, als ob es nie gewesen wäre!

»So geht es«, sagte sie und verstummte.

Da beugte sich Johanna plötzlich über sie und ihre Hände zu beiden Seiten der Liegenden aufstützend, sah sie ihr in die Augen. Aber sie konnte sie nicht küssen, wie Annita offenbar erwartete, – und die Blicke, die sie in einander senkten, wurden so inhaltsschwer und schrecklicher Spannung voll, daß Johanna es nicht mehr aushielt und beide sich nicht mehr zu sprechen getrauten. Und als Johanna dann fortging, forderte Annita sie nicht auf, wiederzukommen.


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