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VI

Den Brief seines Vaters fand Lux erst bei seiner Rückkehr in Wien vor. Als er die letzten Worte gelesen, biß er den Mund zusammen – ihm war, als ginge ein Räderwerk in seinem Hirn, hastig und ohne seinen Willen: und der Entschluß sprang rasch über die gewichtigen Bedenken hinweg, die sich ihm entgegen zu stellen schienen. »Ich muß meinen Weg gehen.« Er immatrikulierte sich an der technischen Hochschule.

Fast alle seine Freunde waren bestürzt über diesen Schritt, der seine Lehrlingsjahre ins endlose zu verlängern schien. Jemand lächelte sarkastisch, als er davon hörte: das war Hofrat Berkheim. Er war in diesem Jahr Dekan der medizinischen Fakultät, und eine freisinnige Rede, die er bei einer akademischen Feier gehalten, wurde von den Zeitungen gepriesen. Sein Bart und Haar waren ganz weiß, und der Ausdruck seines Gesichts war immer starrer geworden. Er hatte vorausgesagt, daß dieser verkehrt erzogene und irregeleitete Junge, gerade wie der Vater, nie ausstudieren werde.

Carl Obrist hatte die Fabrik, deren Leiter er war, in eine Aktiengesellschaft umgewandelt, und Berkheim hatte das Kapital, das er Obrist seiner Zeit vorgestreckt, in Aktien der Fabrik zurückerhalten. Es war ihm daher nicht unbekannt, was Lux erst jetzt erfuhr, daß Carl Obrist mit dem Verwaltungsrat der Gesellschaft Zwistigkeiten gehabt, weil man großartige Neuanlagen, die er forderte und die eine bedeutende Vermehrung des Kapitals verlangt hätten, nicht bewilligen wollte. Zwistigkeiten, die so heftig geworden waren, daß ihm seine Stellung gekündigt wurde. Das Leben hatte sich wiederholt, wie Helene es gefürchtet; aus dem Unternehmen, das er geschaffen hatte, wurde er hinausgedrängt. Es spielten da viele Dinge mit – aber vor allem hatte Obrist die Widerstände abermals unterschätzt. Er konnte nach seinem Kontrakt noch ein Jahr bleiben und er drohte in jedem Fall einen Prozeß: man bot ihm auch die Erneuerung seines Kontraktes unter wesentlicher Beschränkung seiner Befugnisse an. Er kam nach Wien, um sich zunächst mit seinem Freund, dem Direktor von Bauer, zu besprechen, vielleicht von ihm Machtmittel zu erhalten und einen Gegenstreich zu führen: er wollte, daß Bauers Bank die Aktien kaufe ... aber die Verhandlungen zogen sich in die Länge.

Es schwindelte Lux ein wenig ...

Er suchte den Vater auf. Als er vor dem Hotel ankam, stieg Carl Obrist gerade aus dem Wagen und lächelte zu dem »Danke, Herr Baron«, mit dem der Kutscher sein Fahrgeld in Empfang nahm. Er reichte Lux freundlich die Hand, aber im Zimmer sah Lux wohl die eingefallenen Wangen, die graue Gesichtsfarbe; schon als sie die Treppe emporstiegen, schien ihm der Gang des Vaters minder elastisch, die Kleidung loser um den Körper zu sitzen – und die tiefe Liebe, die er für ihn fühlte, zog ihm die Brust zusammen. Sie wollten von dem, was sie trennte, nicht reden – aber als Obrist hörte, daß Lux seine Studien abermals geändert, eine Sache, die in diesem Augenblick ein zurückfallendes Licht auf den Vater zu werfen schien, ward er so böse, daß er fast nichts mehr sprach.

In den nächsten Tagen fand das Ehrengericht über Lux statt, das zum Verlust seiner Offizierscharge führte ... und Obrist las die Sache in der Zeitung. Sein Sohn beging einen Narrenstreich nach dem andern.

Lux aber ging mit seinem verbissensten Gesicht – immer dem Gesicht eines jungen florentinischen Kriegsmanns – durch die Straßen.

Er fühlte, daß er dreimal recht hatte, einen verfehlten Beruf zu wechseln, ehe er darin festsaß und sein Leben verdorben war. Und er erinnerte sich, wie oft der Vater über unsre Schwerfälligkeit gescholten und die jungen Amerikaner gelobt hatte, die das Leben stets neu zu beginnen wußten. Aber nun, da es ihn betraf ...

Er ging zu Robert Biber, den er in Feuereifer über seinen Arbeiten traf. Biber hatte eine Theorie der Menschen, die er Lux oft und auch diesmal wieder auseinandersetzte: Er teilte die Menschen in Philister und in heroische Personen ein. Dem »heroischen Menschen« ist nur an der Durchsetzung seines Wesens und seiner Ideen gelegen. Auch der Philister ist des Verständnisses der großen Dinge und Ideen fähig – aber sie bleiben für ihn »Buchwerte«, er nennt sie »Ideale«. Der heroische Mensch muß alles Große, was er kennt, in seinem Leben verwirklichen. Er wagt immer. Die Werte des bürgerlichen Lebens kommen für ihn höchstens als Mittel in Betracht. Der Philister spricht das Wort »praktisch« und meint »feige«. Darum ist die Gefahr das einzige wirkliche Erziehungsmittel. Und es handelt sich darum, eine heroische Generation zu erziehen, damit das Leben heroisch werde ... Darin hatte Biber einen Optimismus, der freilich durch ein Fernglas in die Jahrhunderte blickte, während er in die eigene Zeit und Welt mit qualvoller Skepsis sah. Dazu kam die persönliche Qual den eigenen Forderungen nicht zu genügen ... Lux wußte das alles. Er lag lang ausgestreckt auf dem Sofa und hörte. Als Biber fertig war, sagte Lux ihm, daß er Geld brauche, und Rat, wie er es verdienen sollte.

Der erste, der ihm seine Hilfe angeboten hatte, war Marquart gewesen, aber der brauchte, was er hatte, selbst: er saß in einer Redaktionsstube und schrieb Artikel – er, der jede Woche einmal eine Rede gegen den Journalismus und die Journalisten gehalten!

Biber bot ihm gleichfalls von ganzem Herzen seine Börse, aber Lux wußte, wie wenig darinnen war. Er wollte Lux Stunden verschaffen, versicherte, es sei ihm eben eine sehr gut bezahlte Korrepetitorstelle angeboten worden, die er nicht annehmen könne – aber erstens glaubte Lux ihm das nicht und zweitens fühlte er, daß er zum Lehrer nicht taugte.

Als Lux wieder auf der Straße stand, zog er den Atem voll in seine breite Brust ein. Er fing an zu fühlen, daß er in diese zivilisierte Welt nicht paßte. Der Gedanke kam ihm, Österreich zu verlassen und in Amerika praktisch arbeitend sich auszubilden. Die Gegenvorstellungen waren zahlreich – die vor allem Johanna betrafen; aber der Plan setzte sich tief und hartnäckig in ihm fest.

Er ging zu seinem alten Freunde, dem Professor v. Bauer, und der schickte ihn zu seinem Bruder. Der Direktor zuckte die Achseln – auch in seinen Augen war Lux ein Unsteter geworden und hatte die Verläßlichkeit eingebüßt. Aber Lux hatte eine Art, wenn er die rücksichtslosesten Schritte machte, so vernünftig zu sprechen, und seine Gründe in solches Licht zu setzen, sein Wesen selbst war so gewinnend: der entschlossene Mund, der sprach, die ernst funkelnden Augen – er saß vor dem andern, ein Bild der Kraft; man konnte nicht zweifeln: dieser wußte, was er wollte.

»Ich brauche für gewisse Arbeiten jemanden, dem ich volles Vertrauen schenken kann,« sagte der Direktor schließlich. »Sie können Englisch und Französisch?«

»Nicht genug, um zu korrespondieren.«

»Sie werden es lernen. Ich werde sie jeden Abend zwei bis drei Stunden beschäftigen und entsprechend honorieren.«

Die Abende mit Johanna waren verloren – und Lux war mehr oder minder Privatsekretär eines Bankdirektors geworden.

Wenige Tage später saß er in einer Arbeiterversammlung – in einem großen kahlen weißen Saal, in dem die erregten Menschen mit den dumpfen und gespannten Gesichtern ihm den Eindruck von Leiden und Gefahr machen. Sie kamen gleichsam aus der Nacht des Lebens hier zusammen, die Ungezählten, denen nicht zu helfen war. Dieser Generation jedenfalls noch nicht! Von dem Rednerpult erscholl die grelle, ein wenig mühsame Stimme des wunderbaren kleinen Herrn, der ihn damals warten geheißen. Lux sann, bis er nicht mehr hörte, was gesprochen wurde. Aber der erregte Ton des Redners, in dem ein Ausdruck von Innigkeit lag, ergriff ihn. Andre Reden folgten. Es war eine Protestversammlung: bei einem Strike war das Militär eingeschritten, und Arbeiter waren erschossen worden; das Parlament hatte die Einsetzung einer Untersuchungskommission abgelehnt.

Heftige Worte fielen. Und wiederum beschwichtigende. Von »denen, die gegen ihr besseres Gewissen nicht wagten«, war die Rede. »Habe ich mich verkauft?« fragte sich Lux.

Einen Augenblick später stand er auf der Tribüne. Seine Worte waren scharf, schneidend und aufreizend wie Gewehrschüsse. Von »denen, die gegen ihr besseres Gewissen nicht wagten«, sprach auch er. Stürmisches, tosendes Händeklatschen scholl, als er geschlossen hatte. Der Regierungsvertreter verlangte seinen genauen Namen und seine Adresse zu wissen.

»Wenn du noch öfter so sprichst, wirst du nicht oft sprechen,« sagte Biber, der mit ihm gekommen war. – »Sie sind sehr hart am Strafgesetz vorbeigestrichen,« sagte ihm einer der anwesenden Parteiführer. »Wenn der Staatsanwalt ernstlich will ...«

Lux zuckte die Achseln. Wenn ihm nur nicht alle Leute von Bedenken oder Furcht reden wollten!

Man nahm ihn ernst, er war eine rednerische Kraft. Man sprach ihm von der Organisation, von Parteidisziplin. Als er aber bei verschiedenen Besprechungen erklärte, daß er der Partei nicht angehören könne, daß seine Ansichten ganz verschiedene seien, hörte man wieder auf, ihn ernst zu nehmen, betrachtete ihn sogar als gefährlich. Lux ärgerte sich, daß der Herr, der mit ihm sprach, die Hand, gegen deren Zustand verschiedenes einzuwenden war, fortwährend auf seinen Rockärmel legte.

»Du bist ein Aristokrat, Lux,« sagte Biber.

»Waschen kann sich jeder. Er ist ja kein Arbeiter – er kommt ja nicht aus der Werkstatt.«

Biber freute sich, daß Lux sich nicht gewinnen ließ. »Sie sind orthodox,« sagte er, »und mit Orthodoxen kann unsereins nicht gehen,« und er zitierte Professor v. Bauers Wort »Leute, die ihr Töpfchen am Weltbrand wärmen wollen.« Nicht der und nicht jener, aber eine gute Zahl von ihnen.

»Warum aber versuchst du nicht zu schreiben? Wenn du halb so wirkungsvoll schreibst, wie du sprichst ...!«

Lux wehrte sich – endlich schrieb er über die gleiche Sache mit unerhörter Mühe drei Stunden lang an Johannas Tisch. »Phrasen!« sagte er endlich und zerriß das Papier. Nein, das war nichts für ihn! »Ich bin kein Genie, Johanna! Ich schaffe nicht, ich kann nur ausführen!«

Bei dieser Selbstkritik blieb er nicht stehen. Sein Bruder Hermann hatte ihm eine Karikatur geschickt, einen Phaeton, der ihn darstellte: Auf der zurücklodernden Fackel stand »Lux« geschrieben; die Pferde – eines hieß Medizin, eines Jus, eines Technik, eines Artillerie – liefen nach allen Seiten auseinander und sahen sich verdutzt oder spöttisch nach dem Lenker um, der sichtlich im nächsten Augenblick stürzen mußte, während er noch das vergnügteste Gesicht der Welt machte. Er hatte eine Papierrolle umgehängt, auf der »Lassalle« geschrieben stand. An dem Himmel flammten Schuldscheine als Gestirne ... Die übermütige Zeichnung war besser als der Witz. Lux brachte sie lächelnd zu Johanna, die sich indessen darüber ärgerte und sie verbrannte.

»Fürchtest du es denn?« fragte er, »daß du es so ernst nimmst!«

Er versank in Nachdenken.

Hinter den Wänden des Zimmers, in dem er saß, lag die Welt. Welch eine rollende, schäumende, traumhaft zersprühende Welt! Er gedachte des Verfalls derer, die jung und lachend an seiner Wiege gestanden, die vor wenigen Jahren in Vollkraft auf langersehnte Ziele zugeschritten waren. Der Vater, um den er nicht minder besorgt war, als jener um ihn – Marquart – das starr und alt gewordene Gesicht Berkheims – die von einem inneren Leiden gehöhlten gelbgefärbten Wangen Professor Bauers ... Flogen die Jahre der Jugend so vorüber? wohin führten sie? bricht das Leben ab, gerade dann, wenn wir es am stärksten zu besitzen scheinen? liegen wir verbraucht, ehe wir wußten, daß wir lebten? Und was sollte die neue Generation? die Jugend? wieder zersprühen, wie Wasser, die wieder und wieder jahrlang von Klippe zu Klippe geworfen werden? Und was soll ein Einzelner unter ihnen? was kann ein Einzelner?

»Leben! heroisch leben!« sang Marquart, sang Biber, sang Johanna.

Er hatte sich wieder einmal von allem losgelöst und lebte der Arbeit wie zur Zeit seines »Noviziats«. Es war eine Arbeit, die ihn tiefer ausfüllte und seinen Geist mehr beschäftigte, als je eine vorher. Er zeichnete stundenlang, verstummend, in einem Rausch der Konzentration. Johanna sah ihn oft bei den Mahlzeiten, und manchmal nahm er sein Buch zu ihr; dann arbeiteten sie in demselben Zimmer, wie in diesem Augenblick.

Seine Blicke glitten über den Tisch. Ein Buch lag vor ihm aufgeschlagen, »die Gespräche des Giordano Bruno«, an der ersten Seite bei der Widmung für Johanna, zu der Marquart den seltsam veränderten Bibelspruch geschrieben: » Eritis sicut Deus, volentes bonum et malum

Die Lampe brannte. An den Wänden hingen Photographien nach antiken Skulpturen, solche der Mediceergräber in Florenz, starke, großzügige, schicksalschwere Formen, wie Johanna sie liebte. In dem Bücherkasten standen die Werke der ernstesten Dichter der Welt. Ihm gegenüber saß sie selber am Tisch, an einer ihrer Übersetzungen arbeitend; unermüdlich glitt der schlanke Arm über das Papier. Hie und da hob sie das Antlitz, und ihr Blick fuhr, nach einem Ausdruck suchend, ins Leere, oder sie begegnete dem seinen und lächelte ihm einen Augenblick zu.

Er blickte sinnend auf ihr Gesicht und auf das Zimmer, in dem er saß, und halblaut sprach er die Worte:

»Einmal lebt ich wie Götter – und mehr bedarf's nicht!«

Gespannt sah Johanna auf ihn ...


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