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Erstes Buch

I

Die Glocke auf dem kleinen Dampfer läutete. Auf der Landungsbrücke und auf den Kieswegen vor dem Hotel standen plaudernde Menschen, meist Damen in hellen Sommerkleidern. Drei Personen, die bereits einige Zeit in Gespräch vertieft auf dem Verdeck gesessen, zwei Herren und eine Dame, standen jetzt auf und nahmen mit Dank und Lächeln und Reisewünschen von einander Abschied.

»Meine liebe Helene,« sagte der eine Herr, – der nicht in Reisekleidung war, – indem er die Hand der Dame herzlich in beiden Händen festhielt, »euer Besuch ist mir wirklich eine große Freude gewesen ... Und zu Weihnachten schickt ihr mir euren Jungen ...«

»Zu Neujahr, Richard. Zu Weihnachten will ich ihn noch für mich haben.« Sie blickte suchend durch das Gedränge der Passagiere, die auf das Verdeck strömten. »Du weißt, ich bin eine bescheidene Mutter ...«, fuhr sie fort.

»Aber ich hege die größte Meinung von meinen Kindern ...«, ergänzte der andre Herr lächelnd.

»O Carl, wenn ich dich verraten wollte! – Lux!«, rief sie, »Lux!« Sie hatte ihn eben erblickt. Ein schöner dunkelblonder Knabe, der bisher eifrig in den Maschinenraum gespäht hatte, drängte sich durch die Leute.

»Herr Professor, wir fahren sofort,« sagte einer der Schiffsleute im Vorübergehen.

Nochmaliges Händeschütteln, und der Professor ging ans Land zurück, wo zwei kleine Mädchen eifrig mit den Taschentüchern winkten. Man machte ihm höflich Platz, und viele Leute grüßten ihn. Er lüftete dankend den Strohhut, gleichgültig, wie jemand, der an solche Höflichkeit gewöhnt ist.

Die Schaufelräder begannen sich zu drehen, und pfeifend wendete das Schiff vom Ufer fort. Die Dame winkte und grüßte mit dem Sonnenschirm. Sie sah in ihrem grauen Reisekleid ziemlich stark aus; sie hatte dichtes blondes Haar und ein gerötetes Gesicht, aus dem eine große Freudigkeit gleichsam unter tausend Sorgen hervorleuchtete.

»Es muß ihm doch sehr einsam sein«, sagte sie zu ihrem Mann.

»Er wird wieder heiraten!«, antwortete der Gatte.

»Carl«, sagte sie vorwurfsvoll, »wen sollte er nach Magda heiraten? Wie kannst du das nur denken!«

»Du idealisierst das immer. Wir wissen nichts über Magda und ihn.«

»O, ich weiß genug!«

»Nun?!« sagte er mit scharfer Betonung.

Die Dame schwieg.

»Die Kinder entbehren die Mutter«, sagte sie dann.

»Er wird wieder heiraten«, wiederholte ihr Mann, »schon deshalb.«

Sie dachte: Wie gut er immer die Wege der andern kennt, und ist doch solch ein Phantast auf seinen eigenen! Sie wollte an das Schicksal der verstorbenen Cousine denken, aber ihr eigenes drängte sich vor.

»Sinnierst du, Leni?«

Sie nickte. Er blickte lächelnd auf sie und dann in die Ferne. Nun mußte sie ihn ansehen. Er sah ungemein elegant und aristokratisch aus: eine energische Nase und ein dunkler Schnurrbart über seinen Lippen; – das Gesicht war sonnengebräunt, die Augen lebhaft und funkelnd.

»Immer entzückt von deinem Wesen ...« »Immer enttäuscht durch meine Mängel ...«, nicht sie, er hatte den zweiten Teil einmal halb scherzend hinzugefügt. Warum fielen ihr diese Worte jetzt ein? Sie stützte sich auf das Geländer und blickte in das weiß-grün unter den Rädern hervorschäumende Wasser. Sie sah nur trübe Bilder.

Er sprach mit dem Knaben, lebhaft und freundlich, wie zu einem völlig gleichaltrigen. Die Jahre hatten ihn nicht verändert – genau so hatte er ausgesehen, als sie ihn zum letztenmal im Parlament sprechen gehört ... »Eines der sympathischesten Mitglieder des Hauses«, hatte der eine Vizepräsident bei einem Diner zu ihr gesagt. Das war acht Jahre her, und wie lange schien es vorbei! Mit welchen Enttäuschungen und Bitternissen hatte es geendet!

»Du, Carl! Wirst du in Wien mit Bauer sprechen?«

»Wir bleiben nur zwei Stunden in Wien.«

»Also nicht? ...«

»Dachtest du's?«

»Carl ... ich möchte etwas fragen« ...

»Immer zu, Lene!«

»Ist deine Stellung so sicher?«

»Hast du Angst?« Er lächelte.

Das Leben hat sich so oft wiederholt und kann sich abermals wiederholen – das war ihr Gedanke, den sie nicht aussprach; aber ein Gefühl wie vor einem drohenden Zusammenbruch, vor unerträglich getürmten Sorgen, vor einem Elend, das sie niemals gekannt noch geahnt, überfiel sie. War es ein Schauer des Alters, das langsam aber nun wirklich näher kam? ein Vorgefühl der nachlassenden Kräfte, während der Kampf härter und bitterer wurde?

An dem blaßroten Himmel waren Wolken aufgestiegen und blieben grau und drohend über dem Gebirge stehen, hinter dem sie hervorgekommen waren, wie große, unheilvolle Vögel, die sich mit riesigen Klauen an den Gipfeln und Kuppen festhielten. So unheimlich wurden ihre Phantasien, daß sie den Kopf mit einer Art von Schauer bewegte, um sich ihrer zu erwehren, als wären es Dinge, die sie körperlich umflatterten. Das Schiff glitt vom kühlen Abendwind umweht über das leicht rauschende Wasser. Ganz vorn am Geländer stand Lux neben dem Vater, der ihm offenbar etwas auseinandersetzte; sie wollte ihnen näher sein, stand auf, befestigte den fliegenden Schleier, nahm einen der kleinen Feldsessel mit und ging auf sie zu. Sie konnte ihr Gespräch über Dampfschiffe und Dampfergesellschaften hören, aber sie folgte den Worten nicht, sondern setzte sich so, daß sie das Profil ihres Knaben vor Augen hatte, das sich jetzt, wo das Schiff den See durchquerte, von dem fernen blauen Horizont abhob.

Da fiel ihr ein, daß sie sich nun bald zum erstenmal von ihm trennen mußte, daß er fort ging, und sie dachte, daß es sich bereits nicht mehr so sehr um den Erfolg oder Zusammenbruch ihres Lebens handelte, sondern um das neue Leben, das von ihnen ausgegangen war und sich in den Vordergrund drängen mußte. Welche Eigenschaften der Eltern brachte er mit? Er hat die Vornehmheit des Vaters und seine Kühnheit, dachte sie, aber er ist stiller, er ist besonnener, er hat einen Hang zum Träumen, wie ich. »Er ist schwächer als wir beide,« hatte ihr Mann einmal von ihm gesagt, »und er ist genußsüchtig.« »Nein, das ist ungerecht,« antwortete sie innerlich. Träume und Hoffnungen glitten jetzt um das schöne Knabengesicht, ihres, ihres, ihres Kindes. Sie konnte ihn sich gar nicht anders, nicht um ein Jahr älter vorstellen, als jetzt, wo er noch so pagenhaft fein und zart war, mit seinen fünfzehn Jahren, – und doch gingen ihre Gedanken voraus in die Zukunft. Bilder stiegen auf, Frauen, die ihm entgegen wuchsen, ein Vorgefühl von Stolz und Eifersucht zugleich überfiel sie. Wer wird ihn mir einst nehmen, wie ich Carl seiner Mutter nahm, die ihn vergötterte? – Wie ein Schrecken faßte sie der Gedanke, daß der Zusammenhang mit ihm sich bereits zu lösen begann, daß die Trennung, die ihr bevorstand, immer größer, immer klaffender werden mußte. So ganz für sich, wie in den vergangenen Jahren seiner herzigen Kindheit konnte sie ihn nie mehr haben!

In diesem Augenblick glitt eine lebhafte Bewegung durch die Menschen auf dem Verdeck. Ausrufe der Angst und des Unwillens wurden laut, alles drängte sich vor und dann wieder zur Seite, Lux voran, und jetzt klatschte er in die Hände. Ein Boot, in dem ein junges Mädchen ruderte, und das man schon früher auf das Schiff zukommen gesehen, hatte den Weg des Dampfers so knapp vor dessen Spitze gekreuzt, daß die Zuschauer eine beklemmende Todesangst faßte, es im nächsten Augenblick zersplittert und von der schweren Masse überfahren zu sehen. Jetzt schoß es, heftig in den Wellen schaukelnd, der Breitseite des Schiffes entlang, und ein paar übermütige Augen sahen lachend in die Helenens, die sich über das Geländer gebeugt hatte.

»Das ist eine Frivolität«, sagte der Vater. »Daß du mir nie solche Dummheiten machst! Ich würde dich gerade so verachten, wie wenn du dich vor dem fürchten würdest, was notwendig ist!«

Es war ein so sonderbarer Blick, den Lux dem Vater zuwarf, ein so vielsagender Blick, daß Helene betroffen ward. Der kritische Blick eines Erwachsenen, nicht der eines Knaben. Dachte er all der Streiche und Tollkühnheiten, die der Vater selbst begangen, die er so oft erzählen gehört? Aber Helene wußte es: Lux bewunderte den Vater.

Der Dampfer fuhr der Landungsbrücke der kleinen Station zu; das Boot glitt, im Kielwasser schaukelnd, nach. Alle Leute auf dem Verdeck verfolgten es mit den Gläsern. Das Mädchen, das darin saß, mochte etwa zwanzig Jahre alt sein; sie trug ein blaues Leinenkleid mit einem Matrosenkragen, das den Hals frei ließ; das schwarze nicht allzu lange Haar fiel offen über den Rücken. Helene sah deutlich, wie sie plötzlich die Ruder losließ, die Augen schloß und den Kopf nach vorn beugte. Dann lachte sie, setzte die Ruder wieder ein, kam ganz nahe heran und glitt dem stillstehenden Schiff entlang; da sie aber alle Augen auf sich gerichtet sah, wurde sie rot und fuhr mit raschen Schlägen davon.

Mit einem sonderbaren Gefühl von Neid, Neid auf diese übermütige Jugend sah Helene ihr nach. Das Boot glitt längs den flachen bebuschten Ufern hin. Das Wasser des Sees war ein dunkles Schwarzgrün geworden, die Pfosten, Taue und Flöße, die Schiffhütten und die Boote am Ufer und die Wolken, die den Himmel fast umzogen hatten, spiegelten sich darin, und es leuchtete mit einem sonderbaren unterweltlichen Lichtglanz; die Bucht schien kleiner und dunkler, die feuchte regendrohende Luft ließ alle Gegenstände näher und enger erscheinen.

Das Mädchen im Boot ruderte weiter und schien gar nicht zu bemerken, daß jemand vom Ufer aus ihr lebhaft rief und winkte. Aber noch ehe es die nächste Landzunge passiert hatte, läutete die Glocke wieder, und der Dampfer verließ die Bucht und fuhr in den Abend hinaus.

In Helene war ein plötzliches Wärmegefühl: sie mußte über ihre trübe Stimmung selbst lächeln ... sie schritt auf ihren Mann zu und schob ihren Arm in den seinen. Nein, sie war nicht unzufrieden mit ihrem Leben. Sie war nur müde und sie wünschte, das Umsteigen wäre vorüber und die Nacht im Schlafwagen, und sie läge zu Hause in ihrem bequemen Bett und hörte die alten Bäume vor den Fenstern der weiten niedrigen Zimmer des Herrenhauses rauschen.


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