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XIII

Sie ging den ganzen folgenden Tag in großer innerer Bewegung umher, mit einem Gesicht, auf dem es leuchtete trotz der Starrheit des Ausdrucks.

Sie saß in einem Sessel zurückgelehnt, die Hände, wie sie gern tat, über dem Knie verschlungen, ganz in Sinnen versunken, als ihr Mann eintrat und ihr mit sehr ernstem Gesicht und in sehr entschiedenem Tone sagte, daß sie den Verkehr mit Marquart und seinem Hause aufgeben müsse. Er habe sehr Schlimmes über Marquarts »Kreis« gehört.

Sie sah mit fragendem Blick empor.

»Es herrsche eine unerhörte Lizenz unter diesen Menschen – zwischen den Männern und Frauen, die dort verkehrten, bestünden »geistige« Freundschaftsverhältnisse, die eigentlich etwas ganz andres seien, er wolle darauf nicht näher eingehen ... unter dem Deckmantel einer poetisch-religiösen Begeisterung und geistiger Beeinflussung verberge sich eine Täuschung und Selbsttäuschung niederster Art ...«

Sie sagte gar nichts, sie sah ihn an und sah wieder fort – er wußte nicht, hatte sie ihn verstanden, dachte sie nach oder dachte sie an ganz andres? Er wurde ungeduldig; auch hatte er, wie immer, wenig Zeit.

»Du verstehst meine Wünsche, Johanna? Ich sage das alles in deinem Interesse!«

»Ja, ja,« sagte sie wie träumend.

Der Hofrat ging. Er war kaum eine Viertelstunde fort, als Marquart gemeldet wurde.

Er schien ihr verändert, und so erschien sie ihm. Er sprach von irgend etwas, aber es schien heute so gleichgültig zu sein, wovon er sprach, und in seiner Stimme war ein ungewohntes Beben. Er sagte, daß er sie gestern in der Oper gesehen. Sie nickte. Er fragte nach dem Eindruck, den ihr das Werk gemacht. Sie sah ihm voll ins Gesicht und sagte:

»Da brauchen Sie nicht zu fragen. – Ich verstehe jetzt alles!« fügte sie hinzu mit einer eigentümlichen Bewegung – sie hob die Hand mit geöffneten Fingern und streifte gleichsam etwas von sich fort nach rückwärts ...

Er sah nach ihrem Gesicht, ganz erstaunt, wie sehr es sich verändert hatte, seit er es in Venedig gesehen, wieviel entwickelter und inhaltreicher die Züge waren. Das aber dachte er nicht bewußt, es kam wie ein Blitz über ihn. Er war heute impulsiv hergekommen, unwiderstehlich gezwungen.

Johanna starrte wieder vor sich hin, und dann sah sie Marquart an und lächelte. Es fiel ihr etwas ein.

Bei diesem Lächeln aber hielt er nicht länger an sich. Es schien ihm den Weg zu weisen: er ergriff ihre beiden Hände, nicht grüßend wie sonst, er zog sie zu sich. Sie hatte das nicht erwartet ...

»Johanna!« rief er, »liebe, wunderbare Frau!«

Sie hielt den Atem an. Sie war erschrocken, aber eine ungeahnte Freude durchschauerte sie. Sie entzog ihm ihre Hand nicht. Sie wehrte sich nicht. Sie lauschte. Er sprach. Von Siegmund und von Sieglinde, die zu befreien er ins liebearme Haus gekommen. Wie er sie verstehe – wie es gar nicht anders möglich sei. Seine Stimme klang weich und kosend und beherrschend zugleich; seine Hände hielten die ihren fest; Glut strömte aus seinen Fingern in sie – und nun beugte er sich vor und legte seine Lippen heiß auf die ihren, und wieder sprach er berauschende Worte.

Sie sprang auf und drängte ihn ein wenig von sich, aber nicht um ihm zu wehren; sie hielt selbst seine Hände fest, sah entschlossen auf ihn und sagte tief atmend »Ja!«

Und noch einmal wiederholte sie »Ja, Marquart«.

Im nächsten Augenblick sank sie auf die Knie und sprach: »Ich danke dir, ich weiß jetzt, was ich muß!«

Als er sich nun niederbeugte und seine Lippen wieder brennend den ihren näherte, da duldete sie es nur einen Augenblick, dann drängte sie ihn sanft weg und sagte: »Geh jetzt!«

»Aber ich höre von dir, und sehe dich bald? Wann!« rief er verlangend und sehnsüchtig.

»Du hörst von mir!« sagte sie, »geh jetzt!«

Er ging. Sie blieb unbeweglich stehen, als ob die Erregung einen solchen Grad erreicht hätte, daß sie darunter erstarrte. Sie stand noch so, den Kopf gebeugt, die Hände vor sich hingestreckt, als sie Schritte hörte: Sie sah Ida's Gesicht in der Türe, das sogleich wieder verschwand. Johanna kehrte zur Wirklichkeit zurück. Sie verließ das Zimmer und ging nach dem ihren, und später war sie im Hause wie sonst. Aber als die Nacht kam, da brannten Marquarts Küsse auf ihren Lippen.

Am folgenden Morgen war beim Frühstück von irgend einem Paket die Rede, das tags vorher für Johanna gekommen und unbeachtet geblieben war; und Ida sagte: »Ja, das war, während der Doktor Marquart bei der Mama war.«

Der Hofrat warf einen Blick auf Johanna; sie errötete. Dann aber machte sie jene wegstreifende Handbewegung wieder und sah ihren Mann einen Augenblick an; diese, ihre Art, nichts zu sagen und ihn nur anzusehen, so oft er einen berechtigten Vorwurf gegen sie hatte, war stets verwirrend und empörend für ihn. Beide sprachen zunächst nichts mehr. Aber sobald die Kinder das Zimmer verlassen hatten, sagte er mit gefalteter Stirn:

»Ich habe dich gestern ausdrücklich ersucht, Johanna, den Verkehr mit Doktor Marquart und seinem Haus aufzugeben ...«

Viele Gedanken schössen durch Johannas Kopf, aber sie sagte nur: »Er ist gestern Nachmittag gekommen ...«

»Nun, ja, gut,« sagte er einlenkend, »ich will ja auch gar nicht, daß es ein auffälliger Bruch sein soll; aber das nächste Mal, wenn er wiederkommen sollte, bitte ich ihn nicht zu empfangen, und ganz selbstverständlich ist, daß du keinen Besuch mehr machst.«

Er sprach immer milder, wie mit einem Kinde, dem man suggerieren muß, was es zu tun hat ... Johanna hatte die Augen gesenkt, sie dachte, was sie nun sagen wollte; sie hörte seine Worte, – denn er sprach noch verschiedenes, – ohne ihren Sinn zu vernehmen; dann plötzlich verstand sie ihn wieder: er sprach heftige Worte gegen Marquart.

»Du irrst,« sagte sie wiederholt. »Du kennst ihn nicht!« Er aber wiederholte, was er gesagt, noch nachdrücklicher.

»Meine liebe Johanna, das verstehst du nicht,« sagte er, »dazu bist du zu jung und unerfahren. Ich muß dir überhaupt sagen, dein und mein Leben, das ganze Leben in diesem Hause muß anders werden ...«

Da sah Johanna ihn ganz eigentümlich an und nickte: »Ja, ich muß fort,« sagte sie.

Er verstand, sie wollte ausgehen, und sagte: »Das wird jetzt Zeit haben!«

»Nein,« erwiderte seine Frau, »es hat keine Zeit mehr. Du mußt mich frei geben, Richard. Ich muß aus deinem Hause fort. Es hätte längst geschehen sollen.«

Er starrte sie an, als hätte er sie nicht verstanden, oder als wäre sie plötzlich verrückt geworden. Sie aber fuhr fort:

»Ich habe dir großes Unrecht getan. Ich bin ja nie eine Frau für dich gewesen. Ich hab es gar nicht sein können. Ich hab auch nicht für die Kinder getaugt. Ich war selbst zu jung und da ist es so gekommen ...«

Sie sprach immer lebhafter und sagte ihm als Grund ihres Fortgehens all die Dinge, die er ihr vorzuwerfen hatte. Die ganze Szene kehrte sich in der sonderbarsten Weise um; er hatte anklagen wollen und stand nun bestürzt und entsetzt vor ihrem Entschluß. Denn er fühlte im innersten, daß es ein endgültiger und daß er hilflos dagegen war. Er empfand genau jenes Gefühl der vorausahnenden Ohnmacht, das er vor hoffnungslosen Fällen in seinem Beruf hatte. Und doch fühlte er auch, daß es ganz unmöglich war, daß sie ihre Absicht ausführte. So konnte man nicht über die vorgezeichneten, sorgfältig und streng eingehegten Wege der bürgerlichen Existenz hinaushüpfen, – und sein Leben zerstören: ihn lächerlich machen, ihm die furchtbarsten Aufregungen bringen, ihm monatelang die Arbeit, die wichtige dringende Arbeit unmöglich machen, die Arbeitskraft für Jahre schwächen und stören! Eine heftige Erbitterung wallte in ihm auf, die er unterdrücken mußte. Auch war die Zeit für seine Vorlesung gekommen. Die Pflicht rief. Er stand auf.

»Ich muß fort«, sagte er. »Bis ich wiederkomme, wirst du dich hoffentlich beruhigt haben und zu Verstand gekommen sein.«

Es erschien Johanna lächerlich, daß er ins Krankenhaus fuhr, pünktlich wie immer. Hätte er die Vorlesung abgesagt und mit ihr weiter gesprochen, so hätte sie ihn begriffen; übrigens wäre es gleichgültig gewesen – sie wußte, daß ihr Entschluß unwiderruflich war.

Er aber saß in seinem Wagen und sah noch immer Johannas Gesicht vor sich. Er sah sie zurückschauend, wie sie, ein junges Geschöpf, in sein Haus gekommen, ein Kind, das er mit seinem reifen Willen lenken, seinem geklärten Geist bilden wollte, während sie sich vom ersten Tage an gegen ihn gesträubt, und still, ohne ein böses Wort, als eine junge, fessellose Kraft offenbart hatte, vor der er zu nichte ward, und das nun wiederum ohne ein böses Wort den Streich zu führen im Begriff war, der sein Leben zerstören mußte. Als ein dämonisches Geschöpf erschien sie ihm, das fremd in sein Haus gekommen und fremd geblieben ging. Der Goethesche Sinn des Wortes fiel ihm ein. Es war unmöglich, daß er sie fortließ. Der Verlust der Frau, die er liebte, verschwand fast neben der Rolle, die er spielen mußte. »Es wird einfach nicht geschehen«, sagte er sich und überlegte, wie er die Sache pädagogisch ins Geleise bringen sollte. Da aber störten ihn andre Gedankenreihen, die die ersten verworren unterbrachen – das Thema der heutigen Vorlesung, die schweren Fälle der Woche, eine Wahl in der Gesellschaft der Ärzte. Der Widerstreit der Gedanken, die er nicht bannen und nicht ordnen konnte, peinigte ihn. Erschrocken fragte er sich, ob er nervös wurde. Er fühlte Kopfschmerzen aus einer Ursache, aus der er keine Kopfschmerzen bekommen durfte. Er öffnete das Wagenfenster; es war ein feuchtkalter Tag, und während er auf die Straße hinaus und auf das kotige Pflaster sah, kam ihm trüb und qualvoll sein Zustand zum Bewußtsein – und er hatte, wie oft in jüngster Zeit, das Gefühl eines Menschen, dem schweres Unrecht geschieht.

Der Wagen rollte durch das Tor des Allgemeinen Krankenhauses; der Portier grüßte ehrfurchtsvoll: nun knirschten die Räder auf dem Kies des Hofes, hielten unter der weißgetünchten Durchfahrt vor der Holztüre, die zu seiner Klinik führte.

Die Assistenten fanden, daß ihr Chef schlecht aussah. Seine nervöse Unruhe fiel während der Vorlesung auf und stärker noch nachher bei der Visite. Auffallend rasch schritt er von einem Krankenbett zum andern, hörte kaum zu Ende an, was man ihm sagte, und machte hastige Anordnungen. Er stand am Bett eines fiebernden ältlichen Mannes, der darüber jammerte und fluchte, daß seine Frau ihn betrog. Der Mann im Bett war stark und blond, wie er, – so verschieden die Züge waren, ein widerwärtiges Spiegelbild. Er beherrschte sich mit Übermacht und schritt den Saal zu Ende. Aber vor der Frauenabteilung machte er Halt, sagte, er sei nicht wohl, bat die Herren, ihre eigenen Anordnungen zu treffen. Der widerlich quälende Gedanke ließ ihn nicht los.

Er fuhr nach Hause, doch Johanna war nicht da. Sobald sie kam, ließ er sie in sein Zimmer bitten, wo er unablässig auf und ab ging. Er mußte sie fragen ... aber als sie eintrat, sprach er von ganz anderem, entwickelte Vorschriften für ihr weiteres Leben im Hause ... sprach von den Kindern, von Helene, von Christine Zimmermann – brachte ihr Beispiele ... Sie wiederholte nur, daß sie sein Haus verlassen müsse.

»Davon, daß du fortgehst, meine liebe Johanna, davon kann gar nicht die Rede sein. – Das ist kindischer Unsinn und darf einfach nicht sein.«

Da stieß sie hervor: »Es muß sein. Ich kann nicht bei dir bleiben. Ich liebe einen andern Mann.«

»Und das sagst du mir so ins Gesicht?!«

Sie sah ihn ganz erstaunt an: erwartete er, daß sie ihn belügen sollte?

Er faßte sich. »Johanna!« sagte er väterlich, »du täuschest dich selbst. Oh, ja – Kind – es ist ganz recht, daß du mir das sagst – da – wenn – solange noch Zeit ist ...« Er wurde bleich, als er diese Worte sprach; da sie keine Miene veränderte, ihn gar nicht zu verstehen schien, fuhr er erleichtert fort:

»Ich hätte es zwar nicht für möglich gehalten; aber du bist ja noch so jung. Das sind Täuschungen. Das sind Erregungen. Das geht vorüber. Du mußt es nur überwinden. Du hast Pflichten.«

Die Worte schlugen an ihr Ohr ohne Sinn. Begriff er noch immer nicht, daß sie entschlossen war? Sie fühlte, daß sie noch sehr viel würde reden müssen, und das verdroß sie.

»Ich bleibe nicht hier«, wiederholte sie, und was immer er sprach, »ich bleibe nicht hier.«

»Du wirst hierbleiben«, schrie er endlich erbittert, »du wirst hierbleiben. Ich habe die Macht und das Gesetz für mich und werde dich einen so ganz und gar verrückten Schritt nicht machen lassen.«

»Willst du mich einsperren?« sagte sie.

Ihre Ruhe wirkte vernichtend auf ihn.

Er fühlte wieder, daß er sie nicht abhalten konnte. Ungeheuerlich und unsinnig erschien ihm, was sie tun wollte. Hätte sie ihm erklärt, sie wolle sich scheiden lassen, darin wäre immer noch Sinn gelegen; aber davon sprach sie gar nicht – sie sagte nur, sie müsse fort – und sagte ihm ruhig ohne weiteres, daß sie einen andern Mann liebe ... närrisch, albern erschien sie ihm.

Er hatte sich erschöpft niedergesetzt und die Hände auf die Armstützen seines Fauteuils gelegt – sie stand immer noch still vor ihm, die eine Hand lag auf der Lehne eines Stuhles; ihr Gesicht war im Schatten; hätte er ihre Augen und ihre Mundwinkel beobachten können, so hätte er gesehen, daß ihre Ruhe nur eine scheinbare war.

»Johanna«, sagte er mit äußerster Selbstbeherrschung und er hatte das Gefühl, daß er mit einem augenblicklich nicht normalen Menschen sprach: »Überlege dir es wenigstens; du weißt, wie ich gegen dich war. Ich bitte dich um deinet- und meinetwillen, warte zunächst noch acht bis vierzehn Tage und überlege! Was willst du denn eigentlich tun und wohin gehen? Zu diesem Mann, der selbst verheiratet ist?«

Etwas wie ein wilder Schrei, der nicht ertönte, schien in ihrem Innern zu verhallen bei diesen Worten. Irgend etwas schrie auf, und es wurde finster. Aber sie biß die Lippen zusammen, und indem sie mit der Hand jene wegstreifende Bewegung machte, sagte sie:

»Ich habe darüber gar nichts geredet und dir nicht gesagt, wer es ist, und du weißt nichts ...«

Es schien ihr so häßlich, daß er davon sprach, daß sie böse wurde. Aber sie sah, daß er gleichsam im Sessel zusammengesunken war und alle seine väterliche Sicherheit und hofrätliche Würde verloren hatte. Mit den Fingern fuhr er hilflos durch das spärlich gewordene Haar, strich nervös über die Knie und hielt zuletzt die Hand an die Augen und schluchzte.

Das war schlimm für Johanna; denn sie konnte nicht auf ihn zugehen, wie auf einen väterlichen Freund oder Oheim und ihn beruhigen. Sie konnte das nicht. Und doch tat es ihr weh. Sie tat unbeholfen einen Schritt auf ihn zu, strich mit den Fingern ganz leicht über seine Hand und sagte:

»Weine nicht. Ich habe sehr großes Unrecht getan, daß ich in dein Haus gekommen bin, aber ich war viel zu jung, ich habe es nicht verstanden. Jetzt ist es sehr schlimm, für dich und für mich ...«

»Du weißt nicht, wie schlimm, Johanna ...«, sagte er. Er sah so greisenhaft aus, daß sie vor ihm zurückschauderte.

»Es kann nicht anders sein«, sagte sie wieder. »Nein, es darf nicht anders sein. Das ist ehrlich.«

»Versprich mir«, begann er. Sie unterbrach ihn.

»Ich gehe heute noch nicht. Ich will denken und werde dir dann sagen, was ich tun muß.« Sie sprach mit ihm, und er fühlte, sie war bereits Meilen und Meilen weit fort. Es dämmerte, er konnte ihr Gesicht nicht sehen, nicht sehen, wie trüb ihr Ausdruck war.

Er verließ das Zimmer.

Was ihr wie ein goldenes Tor der Freiheit geschienen hatte, war kalt und finster geworden. Sie fühlte sich unglücklich, verloren und elend. Und schwere Tränen brachen unter ihren des Weinens nicht gewohnten Lidern hervor.

Sie ging in dem dunkelnden Zimmer auf und ab, bis es vollkommen Nacht war.


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