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Autobesuch in der Siedlung. Zwei warten in der Nacht. Lämmchen kommt wirklich nicht in Frage

Auf Straße 87a vor der Parzelle 375 hält ein Auto, eine Autotaxe aus Berlin. Was der Chauffeur dazu ist, der sitzt seit vielen Stunden in Pinnebergs Laube, und zwar in der Küche, die von ihm voll ist.

Der Mann hat einen Topf Kaffee getrunken, dann eine Zigarre geraucht, dann ist er eine Weile im Garten spazieren gegangen, aber da war in der Dunkelheit nichts zu sehen. Er ist wieder in die Küche gegangen, hat noch einen Topf Kaffee getrunken und hat noch eine Zigarre geraucht.

Aber die drinnen reden noch immer, besonders der große Blonde quatscht immerzu. Der Chauffeur, wenn er wollte, könnte zuhören, was die erzählen, aber er hat kein Interesse. In einer Autotaxe, wo fast immer ein Spalt zwischen den Scheiben ist, die Führersitz und Fond trennen, hört man in einer Woche so viel Intimitäten, daß ein Lebensbedarf gedeckt ist.

Nach einer Weile entschließt sich der Mann, er steht auf und klopft gegen die Tür: »Fahren wir noch nicht bald, Herr?«

»Mensch!« ruft der Blonde. »Mögen Sie kein Geld verdienen?«

»Das schon«, sagt der Chauffeur. »Aber das kost' ja 'ne Stange Gold, die Wartezeit.«

»Das kostet meine Stange Gold«, sagt der große Mann. »Setzen Sie sich wieder auf Ihren Hintern und probieren Sie mal, ob Sie den großen Katechismus noch können. Wasser tut's freilich nicht ... Sie werden Ihr blaues Wunder erleben!«

»Na schön«, sagt der Chauffeur. »Dann penn ich eine Ecke.«

»Auch gut«, sagt der Blonde.

Und Lämmchen: »Ich verstehe wirklich nicht, wo der Junge bleibt. Der ist sonst immer spätestens um acht hier.«

»Wird schon kommen«, sagt Jachmann. »Wie ist denn der junge Vater, junge Mutter?«

»Ach Gott!« sagt Lämmchen. »Er hat's ja nicht leicht. Wenn man seit vierzehn Monaten arbeitslos ist ...«

»Kommt auch wieder anders«, erklärt Jachmann. »Jetzt besiedle ich ja wieder die hiesigen Gefilde, da wird sich schon was finden.«

»Waren Sie eigentlich verreist, Herr Jachmann?« fragt Lämmchen.

»Ja, ich war ein bißchen weg.« Jachmann steht auf und tritt an das Bett des Murkels. »Rätselhaft, wie so'n Vater fortbleiben kann, wenn ihm das im Bett liegt!«

»Ach Gott, Herr Jachmann«, sagt Lämmchen. »Natürlich ist der Murkel herrlich, aber das ganze Leben nur auf das Kind stellen –? Sehen Sie, ich geh am Tag nähen ...«

»Das sollen Sie aber nicht! Das hört jetzt auf!«

»... ich geh am Tag nähen und er besorgt das Haus und das Essen und das Kind. Er schimpft nicht, er macht's sogar wirklich gerne, aber was ist das für ein Leben für ihn? Sagen Sie, Jachmann, soll denn das ewig so weiter gehen, daß die Männer zu Haus sitzen und machen die Hausarbeit und die Frauen arbeiten? Es ist doch unmöglich!«

»Nanu!« sagt Jachmann, »wieso ist denn das unmöglich? Im Kriege haben ja auch die Frauen die Arbeit gemacht und die Männer haben einander totgeschlagen und jeder hat's in Ordnung gefunden. Diese Regelung ist sogar noch besser.«

»Nicht jeder hat's in Ordnung gefunden.«

»Na, fast jeder, junge Frau. Der Mensch ist so, er lernt nichts zu, er macht immer wieder dieselben Dummheiten. Ich auch.« Jachmann macht eine Pause. »Ich zieh nämlich auch wieder zu Ihrer Schwiegermutter.«

Lämmchen sagt zögernd: »Ja, Herr Jachmann, Sie müssen's ja wissen. Vielleicht ist es auch gar nicht dumm. Klug und amüsant ist sie ja.«

»Natürlich ist es dumm«, sagt Jachmann böse. »Saudumm ist es! Sie wissen ja gar nichts, junge Frau! Sie haben ja keine Ahnung! Aber lassen Sie man ...«

Er versinkt in Nachdenken.

Nach einer langen Zeit sagt Lämmchen: »Sie müssen nicht warten, Herr Jachmann. Der Zehn-Uhr-Zug ist jetzt auch durch. Ich glaube wirklich, der Junge ist heute nacht ausgerutscht. Er hatte auch ein bißchen viel Geld mit.«

»Wieso? Viel Geld? Habt ihr noch viel Geld?«

Lämmchen lacht: »Was wir viel Geld nennen, Jachmann. Zwanzig Mark. Fünfundzwanzig Mark. Da kann er schon mal ausgehen.«

»Das kann er«, sagt Jachmann trübe.

Und wieder ist lange Stille.

Nach einer Weile hebt Jachmann wieder den Kopf: »Machen Sie sich Sorgen, Lämmchen?«

»Natürlich mache ich mir Sorgen. Sie werden nachher schon sehen, was die in zwei Jahren aus meinem Mann gemacht haben. Und er ist doch wirklich ein anständiger Kerl ...«

»Ist er.«

»Es wäre nicht nötig gewesen, daß sie so auf ihm rumgetrampelt haben. Wenn er nun auch noch mit Trinken anfängt ...«

Jachmann denkt nach. »Tut er nicht«, sagt er. »Pinneberg hat immer so was Frisches gehabt. Saufen ist Schmutz und Dreck, tut er nicht. Ja, mal ausrutschen, aber nicht wirklich trinken ...«

»Der Halbelf-Uhr-Zug ist auch durch«, sagt Lämmchen. »Jetzt bekomme ich Angst.«

»Müssen Sie nicht«, sagt Jachmann. »Pinneberg beißt sich durch.«

»Durch was?« fragt Lämmchen böse. »Durch was beißt er sich durch? Das stimmt ja alles nicht, was Sie sagen, Jachmann, das ist ja nur Trost. Das ist ja gerade das Schlimme, daß er hier draußen sitzt und nichts hat, worum er kämpfen kann. Er kann nur warten – worauf? Auf was? Auf gar nichts! Warten ... sonst nichts.«

Jachmann sieht sie lange an. Er hat seinen großen Löwenkopf Lämmchen ganz zugedreht, er sieht sie voll an. »Sie müssen nicht immerzu an die Bahn denken, Lämmchen«, sagt er. »Ihr Mann kommt wieder. Der kommt bestimmt wieder.«

»Es ist nicht nur das Trinken«, sagt Lämmchen. »Trinken wäre schlimm, aber nicht sehr schlimm. Aber sehen Sie, er ist ja so kaputt, irgendwas kann ihm passieren –, er war heute bei dem Puttbreese, der kann gemein zu ihm gewesen sein, so was schmeißt ihn um heute. Er kann nicht mehr viel aushalten heute, Jachmann, er kann ...«

Sie sieht ihn groß an, ihre Augen sind sehr weit offen. Plötzlich füllen sich diese Augen mit Tränen, groß und hell rinnen sie die Wangen herunter, der sanfte, starke Mund beginnt zu zittern, wird haltlos. »Jachmann«, flüstert sie. »Er kann ...«

Jachmann ist aufgestanden, er steht halb hinter ihr, er faßt sie an den Schultern. »Nicht, junge Frau, nicht!« sagt er. »Das gibt es nicht. Das tut er nicht.«

»Das gibt es alles ...« Sie macht sich plötzlich frei. »Sie fahren besser nach Hause. Sie verlieren Ihr Geld mit dem Warten. Wir sind nun einmal im Unglück.«

Jachmann antwortet nichts. Er geht zwei Schritte hin, zwei Schritte her. Auf dem Tisch liegt die Blechschachtel von den Zigaretten mit den alten Spielkarten, die der Murkel so liebt.

»Wie haben Sie gesagt«, fragt Jachmann, »daß der Junge die Karten nennt?«

»Welcher Junge? Ach so, der Murkel! Ka-Ka, sagt er dazu.«

»Soll ich Ihnen mal die Ka-Ka legen, die Karten legen?« sagt Jachmann und lächelt. »Passen Sie auf, Ihre Zukunft ist ganz anders, als Sie denken.«

»Lassen Sie schon«, sagt Lämmchen. »Es wird ein kleines Geldgeschenk ins Haus fliegen, das ist die Krisenunterstützung von nächster Woche.«

»Ich bin im Moment nicht sehr flüssig«, sagt Jachmann. »Aber achtzig Mark, vielleicht neunzig Mark, würde ich Ihnen gerne geben.« Er verbessert sich. »Leihen, pumpen meine ich.«

»Es ist nett von Ihnen, Jachmann«, sagt Lämmchen, »Wir könnten es brauchen. Aber wissen Sie, Geld hilft nichts. Durch kommen wir schon, Geld hilft zu gar nichts. Arbeit würde helfen, ein bißchen Hoffnung würde dem Jungen helfen. Geld? Nein.«

»Ist es, weil ich wieder zu Ihrer Schwiegermutter gehe?« fragt Jachmann und sieht Lämmchen sehr nachdenklich an.

»Auch«, sagt Lämmchen. »Auch. Ich muß alles weghalten von ihm, das ihn noch mehr quält, Jachmann. Das verstehen Sie doch.«

»Versteh ich«, sagt Jachmann.

»Aber in der Hauptsache ist es«, sagt Lämmchen, »weil es ja nichts hilft, das Geld. Ein bißchen besser durch sechs, acht Wochen leben, was ändert das? Nichts.«

»Vielleicht kriege ich 'ne Stellung für ihn«, sagt Jachmann nachdenklich.

»Ach, Herr Jachmann«, sagt Lämmchen. »Sie meinen es ja gut. Aber geben Sie sich keine Mühe, wenn es jetzt wieder kommt, darf es nicht wieder mit Schwindel und Lüge kommen. Der Junge muß raus aus der Angst, muß sich wieder frei fühlen.«

»Ja ...«, sagt Jachmann betrübt. »Wenn Sie heute auch noch solchen Luxus wollen, ohne Schwindel und Lüge ... das kann ich freilich nicht!«

»Sehen Sie«, sagt Lämmchen eifrig, »die andern stehlen sich hier Holz für die Feuerung. Wissen Sie, ich finde es gar nicht schlimm, aber ich habe zu dem Jungen gesagt, du darfst das nicht. Er soll nicht runter, Jachmann, er soll nicht! Das soll er behalten. Luxus – ja, vielleicht, aber das ist unser einziger Luxus, den halt ich fest, da passiert nichts, Jachmann.«

»Junge Frau«, sagt Jachmann. »Ich ...«

»Sehen Sie mal den Murkel in seinem Bettchen, und nun kommt es vielleicht wieder besser und der Junge rappelt sich wieder auf und hat eine Stellung und eine Arbeit, die ihm Spaß macht, und verdient wieder Geld. Und da soll er immer denken: das hast du gemacht und so bist du gewesen. Es ist nicht das Holz, Jachmann, es sind nicht die Gesetze – was sind denn das für Gesetze, daß sie uns alles straflos zerschlagen dürfen und wir sollen wegen drei Mark Holz ins Kittchen –? Da lach ich drüber, Jachmann, das ist keine Schande ...«

»Junge Frau ...«, will Jachmann anfangen.

»Aber der Junge kann's nicht«, sagt Lämmchen eifrig. »Der ist wie sein Vater, der hat nichts von seiner Mutter. Mama hat es mir ja zehnmal erzählt, was für ein Püttjerhannes sein Vater gewesen ist, erst mit seiner Arbeit als Bürovorsteher beim Rechtsanwalt, alles hat genau sein müssen bis auf's Tittelchen. Und dann mit seinem ganzen Privatleben. Wie er losgelaufen ist am Abend, wenn am Morgen eine Rechnung gekommen war, und hat sie sofort bezahlt. ›Wenn ich sterbe‹, hat er gesagt, ›und die Rechnung kommt weg, kann einer sagen, ich bin ein unehrlicher Mann gewesen.‹ Genau so ist der Junge. Und darum ist es kein Luxus, Jachmann, das muß er behalten, und wenn er jetzt manchmal denkt, er kann sein wie die andern: er kann nicht. Er muß sauber bleiben. Und dafür passe ich auf, Jachmann, deswegen nimmt er keine Stellung wieder an, die auf Schwindel aufgebaut ist.«

»Was tu ich noch hier?« sagt Jachmann. »Was sitz ich hier? Auf was wart ich hier? Hier ist alles richtig. Ihr Kram geht in Ordnung. Sie sind richtig, junge Frau, Sie sind goldrichtig. Ich fahr nach Haus.«

Aber er fährt nicht, er steht nicht einmal auf von seinem Stuhl, er sieht Lämmchen groß an. »Heute morgen sechs Uhr, Lämmchen«, sagt er, »bin ich aus dem Kittchen entlassen worden. Ich hab ein Jahr abgerissen, junge Frau«, sagt Jachmann.

»Jachmann«, sagt Lämmchen, »seit Sie damals wegblieben in der Nacht, hab ich mir immer so was gedacht. Nicht gleich, aber es war doch möglich. Sehen Sie«, Lämmchen weiß nicht recht, wie sie es sagen soll, »Sie sind doch so ...«

»Natürlich bin ich so ...«, sagt Jachmann.

»Zu den paar Menschen, die Sie mögen, sind Sie nett, und zu allen andern sind Sie wahrscheinlich gar nicht nett.«

»Stimmt!« sagt Jachmann. »Sie mag ich, junge Frau.«

»Und dann leben Sie gerne und haben gerne viel Geld und es muß Betrieb um Sie sein und Sie müssen immer was vorhaben –, na ja, es ist Ihre Sache. Wie Mama mir das gesagt hat, Sie sind steckbrieflich gesucht, habe ich gleich gewußt, es stimmt.«

»Und wissen Sie auch, wer mich angezeigt hat?«

»Mama, nicht wahr?«

»Natürlich, Mama. Frau Marie, genannt Mia Pinneberg. Wissen Sie, Lämmchen, ich war ein bißchen fremd gegangen, und Mama ist ein Teufel, wenn sie eifersüchtig ist. Na, Mama ist auch dabei reingefallen, nicht schlimm, vier Wochen.«

»Und nun gehen Sie wieder zu ihr? Aber ich verstehe es schon. Sie gehören zusammen.«

»Richtig, junge Frau. Wir gehören zusammen. Wissen Sie, sie ist doch eine herrliche Frau. Ich mag das sehr, daß sie so gierig ist und so egoistisch. – Wissen Sie, daß Mama über dreißigtausend Mark auf der Bank hat?«

»Was? Über dreißigtausend?«

»Was denken Sie denn? Mama ist doch klug. Mama baut doch vor, Mama denkt doch ans Alter, Mama will auf niemanden angewiesen sein. Nein, ich geh wieder zu ihr. Für einen wie mich ist sie der beste Kamerad von der Welt, durch dick und dünn, Pferdestehlen und alles.«

Dann ist es eine Weile still, und dann steht Jachmann plötzlich auf und sagt: »Also, gute Nacht, Lämmchen, ich fahre dann.«

»Gute Nacht, Jachmann, und daß es Ihnen recht, recht gut geht!«

Jachmann zieht die Schultern: »Die Sahne ist ja doch weg, Lämmchen, wenn man an die Fünfzig ist. Blaue Milch, Magermilch, Gelabber.« Er macht eine Pause, dann sagt er leicht: »Und Sie kommen ja wohl wirklich nicht für mich in Frage, Lämmchen?«

Lämmchen lächelt ihn an, ganz aus der Tiefe her: »Nein, Jachmann, wirklich nicht. Der Junge und ich ...«

»Also machen Sie sich keine Angst um den Jungen! Der kommt. Der ist gleich hier! Tjüs, mein Lämmchen. Und vielleicht auf Wiedersehen!«

»Auf Wiedersehen, Jachmann, bestimmt auf Wiedersehen! Wenn's uns besser geht. So, und nun vergessen Sie Ihre Koffer nicht. Die waren doch die Hauptsache.«

»Die waren die Hauptsache, junge Frau. Richtig wie immer. Goldrichtig.«


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