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Pinneberg steht wieder auf der Straße. Er ist müde, er ist so müde, als hätte er den ganzen Tag über seine Kraft gearbeitet, als wäre er in Lebensgefahr gewesen und grade noch gerettet, als hätte er einen Schock gehabt. Die Nerven haben geschrien und gezerrt, und nun sind sie schlapp, geben nichts mehr her. Pinneberg setzt sich ganz langsam in Bewegung und tüffelt nach Haus.
Es ist ein richtiger Herbsttag, in Ducherow würde sehr viel Wind sein, ein stetiger Wind, aus einer Richtung. Hier in Berlin ist ein Krüselwind, um die Ecken rum, bald so, bald so, mit eiligen Wolken, zu denen man nicht hoch sieht, und ab und an ein wenig Sonne. Das Pflaster ist naß und trocken, aber es wird schon wieder ganz naß sein, ehe es ganz trocken geworden ist.
Also jetzt hat Pinneberg einen Vater, einen richtigen Vater. Und da der Vater Jachmann heißt und der Sohn Pinneberg, ist der Sohn ein uneheliches Kind. Aber bei Herrn Lehmann hat ihm das sicher nur genützt. Pinneberg kann es sich sehr gut vorstellen, wie Jachmann dem Lehmann diese Jugendsünde versetzt hat, der ganze Lehmann sieht wie ein oller Bock aus. Und nun, wegen so was, wegen so einem Gewaltekel von Jachmann hat man noch mal wieder Massel gehabt, ist aus Breslau, aus der Filiale gekommen und hat eine Stellung geschnappt. Zeugnisse nützen nichts. Tüchtigkeit nützt nichts. Anständig-Aussehen nützt nichts, Demut nützt nichts – aber so ein Kerl wie der Jachmann, der nützt!
Nun also, was ist er schon!?
Was ist das gestern abend in der Wohnung gewesen? Gelächter und Gejohle, gesoffen haben sie sicher. Lämmchen und der Junge haben in ihrem Fürstenbett gelegen, sie haben getan, als hörten sie nichts. Davon gesprochen haben sie nicht, immerhin ist es seine Mutter, aber koscher, koscher ist der Laden nicht.
Seht, Pinneberg ist mal nach hinten gegangen, das Klo liegt hinten, man muß zu ihm durch das Berliner Zimmer, denn Pinnebergs wohnen vorn. Nun, es ist ganz gemütlich in diesem Berliner Zimmer, wenn nur die Pilzlampe brennt, und die ganze Gesellschaft sitzt auf den beiden großen Couches. Diese Damen, sehr jung, sehr elegant, furchtbar fein, und diese Holländer, eigentlich müßten Holländer blond und dick sein, die aber waren schwarz und lang gewesen. Und das alles saß da herum und trank Wein und rauchte. Und Holger Jachmann lief natürlich in Hemdsärmeln auf und ab und sagte gerade: »Nina, haben Sie sich bloß nicht. Anstellerei kotzt mich an.« Und das klang gar nicht so freundlich jovial, wie sonst alles von Jachmann.
Und zwischen alledem Frau Mia Pinneberg. Nun gut, sie war nicht so sehr aus dem Rahmen gefallen, sie hatte wunderschön aufgelegt und nur ein ganz, ganz klein wenig älter ausgesehen als die jungen Mädchen. Sie hatte mitgemacht, daran war kein Zweifel, aber was taten sie nun die ganze Nacht bis vier? Schön, es war stundenlang still gewesen, nur ein leichtes Gemurmel aus der Ferne, und dann plötzlich wieder eine Viertelstunde diese Ausbrüche von Fröhlichkeit. Gut, Ekarté-Karten, sie spielten also Karten, sie spielten Karten als Geschäft, mit zwei jungen gemalten Mädchen, Claire und Nina, und drei Holländern, für die eigentlich Müllensiefen noch hätte bestellt werden müssen, aber schließlich reichten Jachmanns Künste auch aus. Klar, Pinneberg! Ja, so ist es, trotzdem natürlich alles auch ganz anders sein kann ...
Wieso anders? Wenn Pinneberg jemanden kennt, so ist es doch seine Mutter. Nicht umsonst wird sie wild, wenn er nur mit der Bar antippt von damals. Es ist ja doch anders gewesen mit dieser Bar, es ist nicht zehn Jahre her gewesen, es ist fünf Jahre her, und er hat nicht nur durch den Vorhang gesehen, er hat schön an einem Tisch gesessen und drei Tische weiter Frau Mia Pinneberg. Aber gesehen hat sie ihn nicht, so weit war sie schon. Aufsicht an einer Bar – sie hätte selbst Aufsicht gebraucht, und wenn sie im Anfang nicht alles ableugnen konnte, sondern von einer Geburtstagsfeier faselte, so war später auch diese Feier, mit all ihrer Dunität und Knutscherei, vergessen, versunken, verleugnet – er hatte nur durch den Vorhang gesehen und seine Mutter hatte brav und solide als Aufsicht hinter der Bar gestanden. So war es damals gewesen – und was war danach heute zu erwarten?
Klar, Pinneberg! –
Dies ist also wieder mal der Kleine Tiergarten, Pinneberg kennt ihn schon seit seiner Kindheit. Er ist nie besonders hübsch gewesen, gar nicht zu vergleichen mit seinem großen Bruder jenseits der Spree, nur so ein notdürftiger Grünstreifen. Aber an diesem ersten Oktober, halb naß und halb trocken und halb bewölkt, halb sonnig, mit Wind aus allen Ecken und vielen braungelben häßlichen Blättern, sieht er besonders trostlos aus. Er ist nicht leer, nein, das ist er gar nicht. Massen von Menschen sind da, grau in der Kleidung, fahl in den Gesichtern, Arbeitslose, die warten, sie wissen selbst nicht mehr auf was, denn wer wartet noch auf Arbeit –? Sie stehen so herum, planlos, in den Wohnungen ist es auch schlimm, warum sollten sie nicht herumstehen? Es hat gar keinen Zweck, irgendwie nach Haus zu gehen, man kommt schon ganz von selbst in dies Zu-Haus, und viel zu früh.
Pinneberg müßte nach Haus. Es wäre gut, wenn er rasch nach Haus ginge, sicher wartet Lämmchen. Aber er bleibt hier stehen unter den Arbeitslosen, er macht ein paar Schritte und dann bleibt er wieder stehen. Äußerlich gehört Pinneberg nicht zu ihnen, ist fein in Schale. Er hat den rotbraunen Winterulster an, den hat ihm Bergmann noch für achtunddreißig Mark gelassen, und den steifen schwarzen Hut, auch von Bergmann, er war nicht mehr ganz modern, die Krempe zu breit, sagen wir drei zwanzig, Pinneberg.
Also äußerlich gehört Pinneberg nicht zu den Arbeitslosen, aber innerlich ...
Er ist eben bei Lehmann gewesen, beim Personalchef des Warenhauses Mandel, er hat sich dort um eine Stellung beworben, und er hat sie erhalten, das ist eine ganz einfache geschäftliche Transaktion. Aber irgendwie fühlt Pinneberg, daß er infolge dieser Transaktion, und trotzdem er nun gerade wieder Verdiener geworden ist, doch viel eher zu diesen Nichtverdienern gehört als zu den Großverdienern. Er ist einer von diesen, jeden Tag kann es kommen, daß er hier steht wie sie, er kann nichts dazu tun. Nichts schützt ihn davor.
Ach, er ist ja einer von Millionen, Minister halten Reden an ihn, ermahnen ihn, Entbehrungen auf sich zu nehmen, Opfer zu bringen, deutsch zu fühlen, sein Geld auf die Sparkasse zu tragen und die staatserhaltende Partei zu wählen.
Er tut es und er tut es nicht, je nachdem, aber er glaubt denen nichts. Gar nichts. Im tiefsten Innern sitzt es, die wollen alle was von mir, für mich wollen sie doch nichts. Ob ich verrecke oder nicht, das ist ihnen ja so egal, ob ich ins Kino kann oder nicht, das ist ihnen so schnuppe, ob Lämmchen sich jetzt anständig ernähren kann oder zu viel Aufregungen hat, ob der Murkel glücklich wird oder elend – wen kümmert das was?
Und die, die hier alle stehen im Kleinen Tiergarten, ein richtiger kleiner Tiergarten, die ungefährlichen, ausgehungerten, hoffnungslos gemachten Bestien des Proletariats, denen geht's wenigstens nicht anders. Drei Monate Arbeitslosigkeit und ade rotbrauner Ulster! Ade Vorwärtskommen! Vielleicht verkrachen sich am Mittwoch abend Jachmann und Lehmann, und plötzlich tauge ich nichts. Ade!
Das sind die einzigen Gefährten, diese hier, sie tun mir zwar auch was, sie nennen mich feiner Pinkel und Stehkragenprolet, aber das ist vorübergehend. Ich weiß am besten, was das wert ist. Heute, nur heute, verdiene ich noch, morgen, ach, morgen, stemple ich doch ...
Vielleicht ist das noch zu neu mit Lämmchen, aber wenn man hier so steht und sieht die Menschen an, dann denkt man kaum an sie. Man wird ihr auch von diesen Dingen nichts erzählen können. Das versteht sie nicht. Wenn sie auch sanft ist, sie ist viel zäher als er, sie würde hier nicht stehen, sie ist in der S.P.D. und im Afa-Bund gewesen, aber nur, weil der Vater da war, sie gehört eigentlich in die K.P.D. Sie hat so ein paar einfache Begriffe, daß die meisten Menschen nur schlecht sind, weil sie schlecht gemacht werden, daß man niemanden verurteilen soll, weil man nicht weiß, was man selber täte, daß die Großen immer denken, die Kleinen fühlten es nicht so – solche Sachen hat sie in sich, nicht ausgedacht, die sind in ihr. Sie hat Sympathien für die Kommunisten.
Und darum kann man Lämmchen nichts erzählen. Jetzt muß man zu ihr gehen und ihr sagen, man hat die Stellung und muß sich freuen. Und man freut sich ja auch wirklich. Aber hinter der Freude sitzt die Angst: wird es dauern?
Nein. Dauern wird es natürlich nicht. Also: wie lange wird es dauern?