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Lämmchen sucht Wohnung, Lämmchen läuft viele Treppen. Es wird ihr nicht so leicht mehr wie vor einem halben Jahr. Da war eine Treppe ein Garnichts, man ging hinauf, man lief hinab, man tanzte hinauf: tripp, trapp, Treppe. Heute bleibt sie oft auf einem Absatz stehen, ihre Stirn ist voll Schweiß, und sie wischt ihn ab, aber da sind diese Schmerzen im Kreuz. Ist es ihr um die Schmerzen leid? Ach, Schmerzen sind ihr gleich, wenn es nur dem Murkel nichts schadet!
Sie läuft und steigt, sie fragt und geht weiter. Es muß ja rasch etwas werden mit dieser Wohnung, sie kann es schon gar nicht mehr ansehen mit ihrem Jungen. Er wird weiß und zittert, wenn Frau Mia Pinneberg ins Zimmer kommt. Lämmchen hat ihm sein Wort abgenommen, daß er mit der Mama über die ganze Sache nicht spricht, sie werden in aller Heimlichkeit ausziehen, eines Morgens sind sie eben einfach fort. Aber wie schwer ihm das wird! Ach, er möchte Krach machen, toben. Lämmchen versteht eigentlich nicht, wieso, aber sie versteht sehr gut, daß der Junge so ist ...
Jede andere hätte längst Lunte gerochen, aber in dieser Hinsicht ist Frau Pinneberg senior von einer rührenden Ahnungslosigkeit. Sie kommt ins Zimmer gebraust, wo die beiden sitzen, sie ruft munter: »Na, Ihr sitzt ja hier wie die verregneten Hühner im Sturm. Das will Jugend sein! Als ich so alt war wie ihr ...«
»Ja, Mama«, sagt Lämmchen.
»Munter! Munter! Das Leben ist schon schlecht genug, es muß einem nicht auch noch schlecht werden dabei. Ich wollte fragen, ob du mir nicht beim Abwasch helfen willst, Emma? Ich habe wieder einen schändlichen Abwasch stehen.«
»Tut mir leid, Mama, ich muß nähen«, sagt Lämmchen, die weiß, daß ihr Mann einen Wutanfall kriegt, wenn sie hilft.
»Na schön, lassen wir also den Abwasch noch einen Tag stehen. Morgen wirds ja besser klappen mit dir. Was nähst du eigentlich immer? Verdirb dir bloß nicht die Augen. Nähen hat doch gar keinen Zweck mehr, man kauft alles billiger und besser fertig.«
»Ja, Mama«, antwortet Lämmchen gottergeben, und Frau Pinneberg schwimmt ab, hat die jungen Leute wieder ein bißchen aufgekratzt.
Aber am nächsten Tag hilft Lämmchen auch nicht beim Abwasch, sie ist unterwegs, sie sucht Wohnung, manchen Tag sucht sie, sie muß etwas finden, ihrem Jungen brennt es auf den Nägeln.
Diese Vermieterinnen! Es gibt da so eine Sorte Frauen, die sehen Lämmchen gleich, wenn sie nach dem möblierten Zimmer mit Küchenbenutzung fragt, piel auf den Bauch: »Ne, Sie erwarten doch, was? Wissen Se, nee, wenn wir Kindergebrüll hören wollen, dann machen wir uns unsere Kinder alleene. Das hört sich dann immer noch besser an.«
Und manchmal, wenn es beinahe so paßte, wenn alles schon so ziemlich abgeschlossen ist und Lämmchen denkt: ›Na, morgen früh kann der Junge endlich ohne Sorgen aufwachen‹ und wenn sie dann sagt (denn sie wollen ja nicht wieder nach zwei oder drei Wochen rausgesetzt werden): »Wir erwarten aber ein Kind« – dann wird das Gesicht der Vermieterin ganz lang und sie sagt: »Ach nein, liebe junge Frau, nehmen Sie's mir nicht übel. Sie gefallen mir wirklich, aber mein Mann ...«
Weiter! Weiter, Lämmchen, die Welt ist groß, Berlin ist groß, es muß ja auch nette Menschen geben, es ist doch ein Segen, wenn man ein Kind erwartet, wir leben im Jahrhundert des Kindes ...
»Wir erwarten aber ein Kind.«
»O, das macht fast gar nichts! Kinder müssen ja auch sein, nicht wahr? Nur, es ruiniert doch eine Wohnung schrecklich, wenn ein Kind da ist, all die Babywäsche waschen, der Dampf und Wrasen, und wir haben sooo gute Möbel. Und dann zerkratzt so ein Kind die Politur. Gerne ... aber ich müßte Ihnen statt fünfzig Mark doch mindestens achtzig rechnen. Na, sagen wir siebzig ...«
»Nein, danke«, sagt Lämmchen und geht weiter.
O, sie sieht schöne Wohnungen, helle, sonnige, anständig eingerichtete Zimmer, nette bunte Gardinen hängen da, die Tapeten sind frisch und hell ... ›Ach mein lieber Murkel‹, denkt sie.
Und dann steht da irgend so eine ältere Dame und sieht sehr freundlich die junge Frau an, wenn die etwas von dem erwarteten Baby flüstert – und es ist ja auch wirklich für jeden Menschen, der Augen im Kopf hat, eine Freude, diese junge Frau anzusehen ... Und dann sagt die ältere Dame zu der jüngeren, und sieht den blauen, wirklich sehr schäbigen Mantel nachdenklich an: »Ja, aber liebe gnädige Frau, hundertzwanzig Mark, es geht wirklich nicht billiger. Sehen Sie, achtzig bekommt schon der Hauswirt und ich habe nur meine kleine Rente, ich muß ja auch leben ...«
›O warum‹, denkt Lämmchen, ›o warum haben wir nicht ein ganz klein bißchen mehr Geld! Daß man nur nicht so furchtbar mit dem Pfennig zu rechnen brauchte! Es wäre alles so einfach, das ganze Leben sähe anders aus und man könnte sich restlos auf den Murkel freuen ...‹
O warum nicht! Und die dicken Autos brausen an ihr vorbei und es gibt Delikatessengeschäfte und Menschen gibt es, die verdienen so viel, daß sie gar nicht ihr Geld ausgeben können ... Nein, Lämmchen versteht es nicht ...
Abends sitzt dann oft schon der Junge im Zimmer und wartet auf sie.
»Nichts?« fragt er.
»Noch nichts«, sagt sie. »Aber verlier bloß den Mut nicht. Ich habe so ein Gefühl, morgen finde ich bestimmt was. – O Gott, was habe ich für kalte Füße!«
Aber das sagt sie nur, um ihn abzulenken und zu beschäftigen. Zwar, sie hat wirklich kalte Füße und naß sind sie auch ... aber sie sagt es nur, damit er erst einmal über die Enttäuschung mit der immer noch nicht gefundenen Wohnung wegkommt. Denn nun zieht er ihr die Schuhe und die Strümpfe aus und rubbelt die Füße mit einem Handtuch ab und wärmt sie ...
»So«, sagt er befriedigt. »Nun sind sie wieder warm, zieh nur die Babuschen an.«
»Herrlich«, sagt sie. »Und morgen finde ich bestimmt was.«
»Du sollst dich nicht hetzen«, sagt er. »Es kommt jetzt auf einen Tag nicht an. Ich verliere schon den Mut nicht.«
»Nein, nein«, sagt sie, »ich weiß ja.«
Aber sie verliert den Mut nun bald. Immer laufen und laufen, und was für einen Sinn hat es? Für das Geld, das sie anlegen können, gibt es einfach nichts Neues.
Nun ist sie immer weiter nach dem Osten und Norden hinaufgelaufen, endlose, schreckliche Mietskasernen, überfüllt, riechend, grölend. Und Arbeiterfrauen haben ihr die Türen aufgemacht und haben ihr gesagt: »Ansehen können Sie's ja. Aber Sie nehmen's doch nicht. Nicht fein genug für Sie.«
Und sie hat das Zimmer angesehen mit den Flecken an den Wänden ... »Ja. Wanzen haben wir gehabt, aber jetzt sind sie weg, mit Blausäure.« Das wacklige Eisenbett ...: »Einen Vorleger können Sie auch noch haben, wenn Sie so was mögen, macht nur mehr Arbeit ...« Ein Holztisch, zwei Stühle, ein paar Haken in der Wand, Schluß. »Kind? Soviel Sie wollen, das ist mir schnuppe, ob da ein paar mehr brüllen, ich habe auch fünf von der Sorte ...«
»Ja, ich weiß nicht«, sagt Lämmchen unschlüssig. »Vielleicht komme ich wieder ...«
»Sie kommen schon nicht wieder, junge Frau«, sagt die Arbeiterfrau. »Ich weiß, wie das ist, ich hab früher auch mal 'ne gute Stube gehabt, man entschließt sich nicht so leicht ...«
Nein, man entschließt sich nicht so leicht. Das ist unten, das ist das Ende, das ist der Verzicht auf das eigene Leben ... ein schmieriger Holztisch, drüben er, hüben sie, im Bett plärrt das Kind ...
»Nie!« sagt Lämmchen.
War sie müde, hatte sie Schmerzen, sagte sie ganz leise hinterdrein: »Noch nicht.«
Nein, man entschließt sich nicht so leicht, die Frau hat recht, und es ist gut, daß man sich nicht so leicht entschließt, denn nun ist es doch ganz anders gekommen ...
Eines Mittags steht Lämmchen in der Spenerstraße in einem kleinen Seifengeschäft, sie kauft ein Paket Persil, ein halbes Pfund Schmierseife, ein Paket Bleichsoda ...
Plötzlich wird ihr schlecht, ihr wird schwarz vor den Augen, sie kriegt gerade noch die Rolle zu fassen und hält sich an der.
»Mann, Emil!« ruft die Frau.
Dann bekommt Lämmchen einen Stuhl, eine Tasse heißen Kaffee, sie kann wieder etwas sehen, sie flüstert entschuldigend: »Ich bin so viel rumgelaufen ...«
»Das sollten Sie man nicht. Ein bißchen Laufen ist ganz gesund dabei, aber nicht zuviel ...«
»Ich muß ja«, sagt Lämmchen ganz verzweifelt. »Ich muß ja 'ne Wohnung finden.«
Und plötzlich ist sie redselig, alles von ihrer fruchtlosen Suche erzählt sie den beiden Seifenleuten. Einmal muß man ja reden, beim Jungen hat sie nur immer mutig zu sein.
Die Seifenfrau ist lang und mager, sie hat ein gelbes, faltiges Gesicht und schwarze Haare, sie sieht streng aus. Er ist ein dicker, roter Kerl, er steht in Hemdsärmeln im Hintergrund und ist fett.
»Ja«, sagt er. »Ja, junge Frau, die Vögeln füttern sie ja wohl im Winter, daß sie nicht umkommen, aber unsereins ...«
»Unsinn«, sagt die Frau. »Quatsch nicht. Denk nach. Weißt du nichts?«
»Was soll ich wissen?« sagt er. »Angestellter. Ich muß immer lachen, Angeschissener sollte das heißen.«
»Weißte«, knurrte die Frau, »so 'ne Gedanken, nur nicht so gemein wie deine, wird sich die junge Frau schon reichlich selber gemacht haben. Dazu braucht sie dich nicht. Denk lieber mal nach. Weißte nichts?«
»Wieso? Quatsch dich rein aus. Was soll ich wissen?«
»Du weißt doch, Emil Puttbreese!«
»Ach, du meinst 'ne Wohnung? Ich soll über 'ne Wohnung für die Dame nachdenken. Das muß einem doch gesagt werden.«
»Wie ist das mit Puttbreese? Ist das noch frei?«
»Puttbreese? Will der denn vermieten? Wo will er denn vermieten?«
»Wo er's Möbellager gehabt hat. Du weißt doch.«
»Das erste, was ich höre! Na, wenn er die Löcher vermieten will, da wird die junge Frau nicht raufkommen über die Hühnerleiter. Bei ihrem Zustand.«
»Quatsch«, sagt die Frau. »Hören Sie, junge Frau, jetzt legen Sie sich erst mal ein paar Stunden hin und dann so gegen vier kommen Sie zu mir runter, dann gehen wir zusammen zu Puttbreese.«
»Vielen, vielen Dank«, sagt Lämmchen.
»Wenn die junge Dame«, sagt der hemdsärmelige Emil, »und mietet da, dann freß ich einen Besen. Einen Piassavabesen für einsfünfundachzig fress' ich.«
»Quatsch«, sagt die Seifenhändlerin.
Und dann geht Lämmchen und legt sich hin. ›Puttbreese‹ denkt sie. ›Puttbreese. Wie ich den Namen gehört habe, habe ich gewußt, das wird.‹
Und dann schläft sie ein, ganz zufrieden mit ihrer kleinen Ohnmacht.