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Weihnachten war gekommen und war vorübergegangen. Es war ein stilles, kleines Weihnachten gewesen, mit einer Tanne im Topf, einem Selbstbinder, einem Oberhemd und ein Paar Gamaschen für den Jungen, mit einem Umstandsgürtel und einer Flasche Eau de Cologne für Lämmchen.
»Ich will nicht, daß du einen Hängebauch bekommst«, hatte der Junge erklärt. »Ich will meine hübsche Frau behalten.«
»Im nächsten Jahr sieht der Murkel schon den Baum«, hatte Lämmchen gesagt.
Im übrigen hatte es stark gerochen und die Flasche Eau de Cologne war schon am Weihnachtsabend alle geworden.
Wenn man arm ist, kompliziert sich alles. Lämmchen hatte sich das ausgedacht mit der Tanne im Topf, sie wollte sie weiterziehen, im Frühjahr umtopfen. Im nächsten Jahr sollte sie der Murkel sehen, und so sollte sie immer größer, immer strahlender, im Wettwachsen gleichsam mit dem Murkel, von Weihnachtsfest zu Weihnachtsfest wandern, ihre erste und einzige Tanne. Sollte.
Vor dem Fest hatte Lämmchen die Tanne auf das Kinodach gestellt. Weiß der Himmel, wie die Katze dahin fand, Lämmchen hatte nie gewußt, daß es hier überhaupt Katzen gab. Aber es gab welche, Lämmchen fand ihre Spur auf der Erde des Topfes, als sie den Baum schmücken wollte, und die Spur roch stark. Lämmchen beseitigte, was zu beseitigen war, sie scheuerte und wusch, und konnte doch nicht hindern, daß der Junge, kaum war der offizielle Teil der Feier mit Kuß und In-die-Augen-schauen und Geschenke-Besehen vorüber, – sie konnte nicht hindern, daß der Junge sagte: »Du, das riecht hier aber sehr merkwürdig!«
Lämmchen berichtete, der Junge lachte und sagte: »Nichts einfacher!« Er öffnete die Eau de Cologne-Flasche und spritzte etwas auf den Topf.
Ach, er spritzte noch oft diesen Abend, die Katze ließ sich betäuben, aber dann erwachte sie immer wieder siegreich zu neuem Leben, die Flasche wurde leer, die Katze stank. Schließlich setzten sie noch am Heiligen Abend den Baum vor die Tür. Es war nicht dagegen aufzukommen.
Und am ersten Feiertag, ganz früh, ging Pinneberg los und stahl im Kleinen Tiergarten ein Häuflein Gartenerde. Sie topften die Tanne um. Aber erstens stank sie auch dann noch, und zweitens mußten sie feststellen, daß es keine in einem Topf gezogene Tanne war, sondern ein Dings, dem der Gärtner alle Wurzeln abgehauen hatte, um sie in den Topf zu kriegen. Ein Blender auf vierzehn Tage.
»Solche wie wir«, sagte Pinneberg, und war in der Stimmung, das ganz richtig zu finden, »fallen eben immer rein.«
»Na, nicht immer«, hatte Lämmchen gesagt.
»Bitte?«
»Zum Beispiel, als ich dich gekriegt habe.«
Im übrigen war der Dezember ein guter Monat, trotz des Weihnachtsfestes wurde der Etat des Hauses Pinneberg nicht überschritten. Sie waren selig wie Schneekönige. »Wir können es also auch! Siehst du! Trotz Weihnachten!«
Und sie machten Pläne, was sie in den nächsten Monaten mit all ihren Ersparnissen machen wollten.
Der Januar aber wurde ein trüber, dunkler, bedrückter Monat. Im Dezember hatte Herr Spannfuß, der neue Organisator der Firma Mandel, erst einmal in den Betrieb hineingerochen, im Januar nahm er seine Tätigkeit richtig auf. Die Verkaufsquote für den einzelnen Verkäufer, seine Losung, wurde in der Herrenkonfektion auf das Zwanzigfache seines Monatsgehalts festgesetzt. Und Herr Spannfuß hatte eine hübsche kleine Rede gehalten. Daß das nun im Interesse der Angestellten geschehe, denn nun habe doch jeder Angestellte die mathematische Gewißheit, daß er vollkommen nach Verdienst eingeschätzt werde. »Jede Schmuserei und jede Schmeichelei, das für das Ethos so verderbliche Kriechen vor den Vorgesetzten gibt es nicht mehr!« hatte Herr Spannfuß gerufen. »Geben Sie mir Ihren Kassenblock und ich werde wissen, was für ein Mann Sie sind!«
Die Angestellten hatten dazu ernste Gesichter gemacht, vielleicht hatten sehr gute Freunde auch ein Wort über diesen Speech zueinander riskiert, aber laut wurde nichts.
Immerhin erregte es doch einiges Gemurmel, daß Keßler von Wendt am Ende des Januar zwei Verkäufe erworben hatte. Wendt hatte nämlich schon am fünfundzwanzigsten seine Quote erfüllt. Keßler aber fehlten noch am neunundzwanzigsten 300 Mark.
Als nun Wendt am dreißigsten kurz hintereinander zwei Anzüge verkaufte, bot ihm Keßler für jeden Verkauf fünf Mark, wenn er ihn auf seinem Block anschreiben durfte. Wendt ging auf den Vorschlag ein.
Das alles erfuhr man erst später, zuerst erfuhr jedenfalls Herr Spannfuß von dieser Transaktion, es blieb immer dunkel, auf welchem Wege. Und Herrn Wendt bedeutete man, daß er besser ginge, da er die Notlage eines Kollegen ausgebeutet habe, während Herr Keßler mit einer Warnung davonkam. Er erzählte überall, man habe ihn streng verwarnt.
Was Pinneberg anging, so schaffte er im Januar seine Losung gut und gerne. »Die sollen mir nur gehen mit ihrem Quatsch«, sagte er zuversichtlich.
Für den Februar erwartete man allgemein eine Herabsetzung der Quote, denn der Februar brachte immerhin nur vierundzwanzig Verkaufstage statt siebenundzwanzig im Januar. Und im Januar war außerdem der Inventur-Ausverkauf gewesen. Einige Mutige sprachen sogar Herrn Spannfuß darauf an, aber Herr Spannfuß lehnte ab. »Meine Herren, Sie mögen es wahr haben wollen oder nicht. Ihr ganzes Wesen, Ihr Organismus, Ihre Spannkraft, Ihre Energie – all das ist bereits auf das zwanzigfache eingestellt. Jede Herabsetzung der Quote ist auch eine Herabsetzung Ihrer Leistungsfähigkeit, die Sie selbst beklagen würden. Ich habe das feste Vertrauen zu Ihnen, daß jeder von Ihnen diese Quote erreicht, ja, sie überschreiten wird.«
Und er sah sie alle scharf und bedeutend an und er ging weiter. Ganz so moralisch wie Spannfuß, der Idealist, annahm, waren die Folgen seiner Maßnahmen nun allerdings nicht. Unter der Devise »Rette sich wer kann!«, setzte ein allgemeiner Ansturm auf die Käufer ein, und mancher Kunde des Warenhauses Mandel war etwas verwundert, wenn er, durch die Herrenkonfektion wandelnd, überall blasse, freundlich verzerrte Gesichter auftauchen sah: »Bitte, mein Herr, wollen Sie nicht –?«
Es ähnelte stark einem Bordellgäßchen, und jeder Verkäufer frohlockte, wenn er dem Kollegen einen Kunden weggeschnappt hatte.
Pinneberg konnte sich nicht ausschließen, Pinneberg mußte mitmachen.
Lämmchen lernte es in diesem Februar, ihren Mann mit einem Lächeln zu begrüßen, das nicht gar zu lächelnd war, denn das hätte ihn bei schlechter Laune reizen können. Sie lernte es, still zu warten, bis er sprach, denn irgend ein Wort konnte ihn plötzlich in Wut versetzen, und dann fing er an zu schimpfen über diese Schinder, die aus Menschen Tiere machten, und denen man eine Bombe in den Hintern stecken sollte!
Um den Zwanzigsten herum war er ganz finster, er war angesteckt von den andern, sein Selbstvertrauen war fort, er hatte zwei Pleiten geschoben, er konnte nicht mehr verkaufen.
Es war im Bett, sie nahm ihn in ihre Arme, sie hielt ihn ganz fest, seine Nerven waren am Ende, er weinte. Sie hielt ihn, sie sagte immer wieder: »Jungchen, und wenn du arbeitslos wirst, verlier den Mut nicht, laß dich nicht unterkriegen. Ich werde nie, nie, nie klagen, das schwöre ich dir!«
Am nächsten Tag war er ruhig, wenn auch gedrückt. Sie hörte ein paar Tage später von ihm, daß Heilbutt ihm vierhundert Mark von seiner Losung gepumpt hatte. Heilbutt, der einzige, der sich nicht anstecken ließ von dieser Angstpsychose, der hindurchging, als gäbe es so etwas nicht wie Verkaufsquoten, und der den Spannfuß sogar noch durch den Kakao zog.
Pinneberg wurde lebhaft, erzählte es ihr strahlend.
»Nun, Herr Heilbutt«, hatte Herr Spannfuß lächelnd gesagt, »ich höre, Sie stehen in dem Ruf einer überragenden Intelligenz. Ich darf mich vielleicht erkundigen, ob auch Sie sich schon mit der Frage beschäftigt haben, wie Ersparungen im Betriebe vorzunehmen wären?«
»Ja«, hatte Heilbutt gesagt und seine dunklen mandelförmigen Augen auf den Diktator geheftet, »auch ich habe mich mit dieser Frage beschäftigt.«
»Und zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?«
»Ich schlage die Entlassung aller Angestellten, die mehr als vierhundert Mark verdienen, vor.«
Herr Spannfuß hatte kehrt gemacht und war gegangen. Die ganze Herrenkonfektion aber hatte gejauchzt.
Ach, Lämmchen verstand es so gut. Es war nicht nur die Angst im Betrieb, vielleicht hätte er sich gar nicht so leicht anstecken lassen, am meisten kam es wohl daher, daß er sie entbehren mußte. Sie war so schwerfällig geworden, so unförmig stark, wenn sie sich ins Bett legte, mußte sie ihren Bauch extra schlafen legen. Er wollte sorgfältig hingelegt sein, sonst kam sie nicht zurecht mit ihm, sonst konnte sie nicht einschlafen.
Der Junge war gewöhnt an sie. Sie merkte es ihm ja an, wenn die Unruhe über ihn kam, und nun, da er sie nicht haben konnte, kam sie viel häufiger über ihn. Wie oft war sie in Versuchung, ihm zu sagen: »Such dir doch ein Mädchen«, und wenn sie es nicht sagte, war es nicht darum, weil sie ihm das Mädchen mißgönnt hätte oder ihn dem Mädchen – es war wieder mal nichts anderes als das Geld. Nur das liebe Geld. Und am Ende hätte es auch nichts geholfen. Denn sie spürte noch etwas anderes: es war nicht mehr bloß der Junge, für den sie lebte, es war jetzt schon der andere, der Ungeborene, der sie verlangte. Nun gut, der Junge erzählte etwas von seinen Sorgen, sie hörte zu und sie tröstete ihn und war bei ihm, aber wenn sie ganz ehrlich war: sie hielt alles ein bißchen fort von sich. Es sollte den Murkel nicht stören. Es durfte den Murkel nicht stören.
Seht also, sie geht ins Bett, das Licht brennt noch, der Junge püttjert an was herum. Sie legt sich lieber schon, das Kreuz schmerzt so. Und nun, wo sie liegt, schiebt sie ihr Hemd hoch und sie liegt fast nackt da und sieht auf ihren Bauch.
Und dann, sie braucht fast nie lange zu warten, sieht sie, wie sich da eine Stelle bewegt, und sie zuckt zusammen und ihr bleibt die Luft weg.
»Gott, Junge«, ruft sie. »Nun hat mich der Murkel eben wieder getreten, ganz verrückt ist der Bengel.«
Ja, er lebt in ihr, er scheint ziemlich munter, er ist ein lebendiges Kind, er tritt und stößt, irgendwelche Verwechslungen mit Verdauungsgeschichten sind jetzt ausgeschlossen.
»Sieh doch, Junge«, ruft sie. »Du kannst es direkt sehen.«
»Ja?« antwortet er und kommt zögernd näher.
Da sind sie nun und warten beide und dann ruft sie: »Da! Da!« und dann merkt sie, daß er gar nicht dorthin gesehen hat, sondern nur auf ihre Brust.
Sie bekommt einen Schreck, nun hat sie ihn ganz gedankenlos wieder gequält, sie zieht das Hemd herunter, sie murmelt: »Schlecht bin ich, Junge.«
»Ach, laß schon«, sagt er. »Ich bin ja auch ein alberner Affe.« Und er macht sich im Halbdunkel etwas zu tun.
So geht es, und sooft sie sich schließlich schämt, sie kann's nicht lassen, sie muß ihn sehen, den Murkel, wie er tobt und sich rührt. Sie wäre ja gerne allein dabei, aber sie haben eben nur diese beiden Zimmer mit der ausgehängten Tür dazwischen, jeder muß alle Stimmungen des andern miterleben.
Einmal, ein einziges Mal, kommt Heilbutt zu Besuch zu ihnen in ihre Schiffskajüte. Ja, es ist ja nun nicht mehr zu verbergen, daß sie ein Kind erwarten, und nun erweist es sich, daß der Junge mit seinem Freund nie darüber gesprochen hat. Lämmchen wundert sich.
Aber Heilbutt findet sich mit Fassung darein, er scherzt ein bißchen, er erkundigt sich auch interessiert, wie das alles ist. Er ist ja ein Junggeselle und seine Besorgnisse auf diesem Gebiet sind nie weiter gegangen, als daß die Freundin jedes Mal ihre Sache in Ordnung gehabt hat. Und das hat ja soweit immer noch Gott sei Dank, unberufen, toitoitoi, geklappt. Also Heilbutt ist interessiert, er nimmt Anteil, er hebt seine Teetasse und sagt: »Auf das Wohl des Murkel!«
Und dann, als er sie wieder hinsetzt, sagt er noch: »Ihr habt Mut.«
Abends, als das Ehepaar im Bett liegt, das Licht ist schon gelöscht, sagt Pinneberg noch: »Hast du gehört, wie Heilbutt gesagt hat: ›Ihr habt Mut‹?«
»Ja«, sagt Lämmchen.
Und dann schweigen sie beide.
Aber Lämmchen denkt lange darüber nach, ob sie wirklich Mut haben, oder ob es nicht vielmehr jetzt ganz trostlos wäre, wenn die Aussicht auf den Murkel fehlte. Denn auf was sonst sollte man sich in diesem Leben noch freuen? Sie will einmal mit dem Jungen darüber sprechen, nur nicht gerade jetzt.