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Der Mann als Frau. Das gute Wasser und der blinde Murkel. Streit um sechs Mark

Den Murkel setzte Pinneberg auf die Erde und gab ihm eine Zeitung, er selbst machte sich an das Aufräumen des Zimmers. Es war eine große Zeitung für solch ein kleines Kind, es dauerte eine ganze Weile, bis das Kind sie auseinandergefaltet hatte. Das Zimmer war nur klein, drei zu drei Meter, es standen darin nichts als Bett, zwei Stühle, ein Tisch und die Frisiertoilette. Damit war es alle.

Der Murkel hatte die Bilder auf der Innenseite der Zeitung entdeckt, er sagte eifrig »Bi« und freute sich »Ei-Ei!«. Pinneberg bestätigte ihm seinen Fund. »Das sind Bilder, mein Murkel«, sagte er. Wen der Murkel für einen Mann hielt, den nannte er »Pepp-Pepp«, die Frauen waren alle »Memm-Memm«, er war sehr lebendig und in strahlender Stimmung, es gab viele davon in der Zeitung.

Pinneberg legte die Betten zum Lüften ins Fenster, er räumte das Zimmer auf, dann ging er nebenan in die Küche. Die Küche war nicht mehr als ein Handtuch, drei Meter lang und anderthalb breit, der Herd war der kleinste Herd von der Welt mit nur einem Kochloch. Der Herd war Lämmchens größter Kummer. Auch hier räumte Pinneberg auf und wusch ab, das tat er gerne, auch Fegen und Aufwischen machte ihm nichts. Aber was er nun tat, das mochte er nicht: er schälte Kartoffeln zum Mittagessen und schabte die Mohrrüben.

Nach einer Weile war Pinneberg mit all seiner Arbeit fertig. Er ging ein wenig in den Garten und besah sich das Land. So winzig die Laube mit ihrem kleinen Glasvorbau von Veranda war, so groß schien die Parzelle, es waren fast tausend Quadratmeter. Aber das Land sah schlimm aus; seit Heilbutt es geerbt hatte, war nichts mehr daran getan, und das waren nun drei Jahre. Vielleicht waren die Erdbeeren noch zu retten, aber es würde eine schlimme Umgraberei geben, alles war Unkraut, Quecken und Disteln.

Nach dem Morgenregen hatte der Himmel sich aufgeklärt, es war frisch, aber es würde dem Murkel gut sein, wenn er herauskam.

Pinneberg ging wieder hinein. »So, Murkelchen, nun wollen wir ausfahren«, sagte er und zog dem Jungen seinen wollenen Jumper und die graue Gamaschenhose an. Dann setzte er ihm seinen weißen Pudel auf.

Der Murkel rief eifrig »Ka-Ka! Ka-Ka!« und der Vater gab sie ihm. Die Karten mußten mit ausfahren, bei jeder Ausfahrt mußte er etwas in der Hand halten. Auf der Veranda stand die kleine Karre für den Jungen, sie hatten sie noch im Sommer gegen den Wagen getauscht. »Steig ein, mein Murkel«, sagte Pinneberg und der Murkel stieg ein.

Sie fuhren langsam los. Pinneberg schlug einen andern als den gewohnten Weg ein, er wollte heute nicht gerne an der Laube von Krymna vorbeikommen, es hätte nur Krach gegeben. Pinneberg wäre am liebsten in seiner jetzigen hoffnungslosen Stimmung ganz ohne Krach durchgekommen, aber der ließ sich nicht immer vermeiden. Jetzt im Winter wohnten in dieser großen Siedlung von dreitausend Parzellen höchstens noch fünfzig Menschen, wer irgend das Geld für ein Zimmer auftreiben oder bei Verwandten unterschlüpfen konnte, war vor Kälte, Schmutz und Einsamkeit in die Stadt geflohen.

Die Zurückgebliebenen aber, die Ärmsten, die Härtesten und die Mutigsten fühlten sich irgendwie zusammengehörig, und das Schlimme war, daß sie eben doch nicht zusammengehörten: sie waren entweder Kommunisten oder Nazis, und so gab es ewig Krach und Schlägerei.

Pinneberg hatte sich noch immer weder für das eine noch für das andere entscheiden können, er hatte gemeint, am leichtesten würde es sein, so durchzuschlüpfen, aber manchmal schien grade das am schwersten.

In einigen Lauben wurde eifrig gesägt und gehackt, das waren die Kommunisten, die mit Krymna auf der Nachttour gewesen waren. Sie machten das Holz rasch klein, damit der Landjäger, wenn er doch einmal kontrollierte, nichts feststellen konnte. Wenn Pinneberg höflich »Guten Tag« sagte, so sagten sie »Tag«, trocken oder brummig, aber alle nicht sehr freundlich. Sicher waren sie böse mit ihm. Pinneberg machte sich Sorgen.

Endlich kamen sie in den eigentlichen Ort mit langen gepflasterten Straßen und vielen kleinen Villen. Pinneberg machte den Halteriemen der Karre los und sagte zum Murkel: »Steig aus! Steig aus!«

Der Murkel sah seinen Vater an und in seinen blauen Augen saß der Schelm.

»Steig aus«, sagte Pinneberg wieder. »Schieb deinen Wagen.«

Der Murkel sah den Vater an, streckte ein Bein aus dem Wagen, lächelte und zog das Bein wieder zurück.

»Steig aus, Murkel« mahnte Pinneberg.

Der Murkel legte sich zurück, als wollte er schlafen.

»Schön«, sagte Pinneberg. »Dann geht Pepp-Pepp allein weiter.«

Der Murkel blinzelte, rührte sich aber nicht.

Langsam ging Pinneberg weiter, ließ die kleine Karre mit dem Kind hinter sich. Er ging zehn Schritte, zwanzig Schritte: nichts. Er ging ganz langsam noch zehn Schritte, da rief das Kind laut: »Pepp-Pepp! Pepp-Pepp!«

Pinneberg drehte sich um: der Murkel war aus dem Wagen gestiegen, aber er machte noch keine Anstalten, dem Vater zu folgen, er hielt den Halteriemen hoch und verlangte, der Vater sollte ihn festmachen.

Pinneberg ging zurück und tat es. Nun war der Ordnungssinn des Jungen befriedigt, neben dem Vater schob er eine lange Zeit die Karre. Nach einer Weile kamen sie über eine Brücke, unter der ein ziemlich breiter, rasch strömender Bach durch eine Wiese floß. Vor und hinter der Brücke konnte man über eine Böschung hinunter auf die Wiese kommen.

Pinneberg ließ den Wagen oben stehen, faßte den Murkel bei der Hand und kletterte mit ihm die Böschung zum Bach hinunter. Es war vom Regen viel Wasser im Bach, er war nicht sehr klar und strömte mit vielen Schaumwirbeln in seinem Bett.

Den Murkel an der Hand, trat Pinneberg an das Bachbett, und sie sahen beide lange stumm auf das strömende, eilige Wasser. Nach einiger Zeit sagte Pinneberg: »Das ist das Wasser, mein Murkel, das gute, liebe Wasser.«

Das Kind stieß einen leisen, kleinen, beifälligen Laut aus. Pinneberg wiederholte seinen Satz mehrere Male und immer war der Murkel zufrieden, daß es ihm der Vater noch einmal gesagt hatte.

Dann aber schien es Pinneberg unrecht, daß er so groß neben dem Kinde stand und Belehrungen erteilte, er hockte sich nieder und sagte wieder: »Das ist das gute, liebe Wasser, mein Murkel.«

Als das Kind sah, daß der Vater sich niederhockte, meinte es wohl, das gehörte dazu, und es hockte sich auch nieder. Und so sahen sie beiden eine Weile in Hockstellung dem Wasser zu. Dann gingen sie weiter. Der Murkel war es müde, seinen Wagen zu schieben, er ging allein. Zuerst eine Weile neben dem Vater und dem Wagen, dann fand er etwas, das er besehen konnte, Hühner oder ein Schaufenster oder einen eisernen Schleusendeckel, der zwischen all dem Steinpflaster auffällig war.

Pinneberg wartete eine Weile, dann ging er langsam weiter und dann blieb er wieder stehen und rief und lockte den Murkel. Der kam eifrig zehn Schrittchen nachgelaufen, lachte den Vater an, machte kehrt und lief wieder zu seinem Eisendeckel zurück.

So ging es ein paar Male, bis der Vater sehr weit vorausgekommen war, viel zu weit schien es dem Murkel. Der rief dem Vater nach, aber der Vater ging immer weiter. Das Kind stand da, es trat auf seinen kleinen Beinchen hin und her, es war sehr eifrig. Es tat einen Griff nach dem Rand seiner Pudelmütze und zog sich die mit einem Ruck ins Gesicht, so daß es nichts mehr sah. Dabei schrie es ganz laut: »Pepp-Pepp!«

Pinneberg sah sich um. Da stand sein kleiner Sohn mitten auf der Straße, die Mütze über seinem ganzen Gesicht, und taperte mit seinen Beinen hin und her, jeden Augenblick im Begriff zu fallen. Pinneberg lief und lief, daß er schnell genug hinkam, sein Herz klopfte sehr, er dachte: »Anderthalb Jahre und nun ist er von allein darauf gekommen. Macht sich blind, daß ich ihn holen muß.«

Er zog dem Kind die Mütze aus dem Gesicht, der Murkel strahlte ihn an. »Was bist du für ein Schalksnarr, Murkel, was für ein Narr!«

Pinneberg sagte es immer wieder, er hatte Tränen der Rührung in den Augen.

Nun kamen sie in die Gartenstraße, wo der Fabrikant Rusch wohnte, von dessen Frau Lämmchen seit drei Wochen sechs Mark zu bekommen hatte. Pinneberg wiederholt sich sein Versprechen, daß er keinen Krach machen will, er nimmt sich fest vor, er macht keinen, und dann zieht er die Klingel.

Die Villa liegt in einem Vorgarten, etwas zurück von der Straße, es ist eine hübsche große Villa und dahinter ein hübscher großer Obstgarten. Pinneberg gefällt das.

Er sieht sich alles gut an und dann merkt er langsam, daß niemand auf sein Klingeln sich rührt, und er klingelt wieder.

Jetzt geht ein Fenster in der Villa auf und eine Frau ruft zu ihm: »Was wollen Sie denn? Wir geben nichts!«

»Meine Frau ist bei Ihnen zum Flicken gewesen«, sagt Pinneberg. »Ich will die sechs Mark holen.«

»Kommen Sie morgen wieder«, ruft die Frau zurück und macht das Fenster zu.

Pinneberg steht ein Weilchen und überlegt, wie viel Spielraum ihm das Versprechen an Lämmchen läßt. Der Murkel sitzt ganz still in seinem Wagen, sicher spürt er, daß der Vater böse ist.

Dann drückt Pinneberg den Klingelknopf wieder, er drückt sehr lange. Aber nichts rührt sich. Pinneberg denkt wieder nach, er will schon gehen, aber dann erinnert er sich, was achtzehn Stunden Flicken und Stopfen heißt, und er setzt seinen Ellbogen fest auf den Klingelknopf. So steht er eine lange Zeit, manchmal kommen Leute vorbei und sehen ihn an. Aber er bleibt stehen und der Murkel tut keinen Mucks.

Nun geht das Fenster doch wieder auf und die Frau schreit: »Wenn Sie nicht sofort von der Klingel fortgehen, rufe ich den Landjäger an.«

Pinneberg nimmt den Ellbogen vom Klingelknopf und schreit zurück: »Das tun Sie man! Dann sage ich dem Landjäger ...«

Aber das Fenster ist schon wieder zu, und so fängt Pinneberg wieder an zu klingeln. Er ist immer ein sanfter, friedfertiger Mensch gewesen, aber das gibt sich nun langsam. Es wäre zwar in seiner Lage ganz falsch, wenn er mit dem Landjäger zu tun bekäme, aber auch das ist ihm nun egal. Reichlich kalt ist es für den Murkel so lange im Wagen, aber auch das hilft nichts: hier steht der kleine Mann Pinneberg und klingelt beim Fabrikanten Rusch. Er will seine sechs Mark haben, darauf versteift er sich, und er wird sie kriegen.

Die Haustür geht auf und die Frau kommt auf ihn zu. Sie ist wütend. Sie hat zwei Doggen an der Leine, eine schwarze und eine graue, die bewachen wohl sonst nachts das Grundstück und Haus. Die Tiere haben kapiert, daß da ein Feind ist, sie zerren an ihren Leinen und knurren bedrohlich.

»Ich lasse die Hunde los«, sagt die Frau. »Wenn Sie nicht sofort machen, daß Sie wegkommen!«

»Sechs Mark kriege ich von Ihnen«, sagt Pinneberg.

Die Frau wird noch wütender, als sie sieht, daß auch das mit den Hunden nichts hilft, denn sie kann die Hunde ja nicht wirklich loslassen. Sie wären gleich über das Gitter und hätten den Mann zerfleischt. Und der Mann weiß das ebenso gut wie sie.

»Sie werden wohl warten gelernt haben«, sagt sie.

»Hab ich«, sagt Pinneberg und bleibt stehen.

»Sie sind doch arbeitslos«, sagt die Frau verächtlich, »das sieht man doch. Ich zeige Sie an. Den Nebenverdienst von Ihrer Frau müssen Sie melden, das ist Betrug.«

»Schön«, sagt Pinneberg.

»Einkommensteuer und Krankenkasse und Invalidengeld zieh ich Ihrer Frau auch noch ab«, sagt die andere und beschwichtigt die Hunde.

»Das tun Sie«, sagt Pinneberg. »Dann bin ich morgen hier und verlange die Quittungen von Finanzamt und Krankenkasse zu sehen.«

»Ihre Frau soll mir noch einmal kommen nach Arbeit!« ruft die Frau.

»Macht sechs Mark«, sagt Pinneberg.

»Sie sind der unverschämteste Flegel!« sagt die Frau. »«Wenn mein Mann nur da wäre ...«

»Er ist aber nicht da«, sagt Pinneberg.

Und da sind die sechs Mark. Da liegen sie, drei Zweimarkstücke, oben auf dem Gitter. Pinneberg kann sie noch nicht gleich nehmen, die Frau muß erst zurück mit ihren Hunden. Dann nimmt Pinneberg sie.

»Ich danke auch schön«, sagt er und zieht seinen Hut.

»Gä! Gä!« ruft der Murkel.

»Ja, Geld«, ruft Pinneberg. »Geld, Murkelchen. Und jetzt gehen wir nach Haus.«

Er dreht sich nicht mehr um nach Frau und Villa, er schiebt langsam los mit seiner Karre, er ist wüst und müde und traurig.

Der Murkel schwatzt und ruft.

Ab und zu antwortet der Vater auch, aber es ist nicht das Rechte. Und schließlich wird auch der Murkel still.


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