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An einem neunundzwanzigsten September steht Pinneberg hinter seinem Verkaufstisch im Warenhaus Mandel. Heute ist der neunundzwanzigste September und morgen ist der dreißigste September und einen einunddreißigsten September gibt es nicht. Pinneberg rechnet, er steht da mit einem sehr trüben, etwas grauen Gesicht. Von Zeit zu Zeit nimmt er einen Notizzettel aus der Tasche, auf dem er seine Tageslosungen aufgezeichnet hat, und sieht ihn an und rechnet. Aber eigentlich ist nicht viel zu rechnen. Das Ergebnis bleibt unverrückt das gleiche: für fünfhundertdreiundzwanzig eine halbe Mark muß Pinneberg heute und morgen verkaufen, um seine Quote zu erfüllen.
Es ist ausgeschlossen, aber natürlich muß er sie erfüllen, denn wo bleibt er sonst mit Lämmchen und dem Kind? Es ist ausgeschlossen, aber wo die Tatsachen unverrückbar feststehen, hofft man auf Wunder. Wieder ist es wie damals zu urgrauen Zeiten in der Schule: Heinemann, der Schuft, gibt die französischen Arbeiten zurück und der Schüler Johannes Pinneberg betet unter seinem Pult: »Lieber Gott, mach, daß ich nur drei Fehler habe!« (Und sieben Fehler weiß er schon sicher.)
Der Verkäufer Johannes Pinneberg betet: »Ach, lieber Gott, laß jemanden kommen, der einen Frackanzug braucht. Und einen Abendmantel. Und einen ... und ...«
Kollege Keßler schiebt sich heran: »Na, Pinneberg, wie stehen Ihre Aktien?«
Pinneberg sieht nicht hoch: »Danke. Ich bin zufrieden.«
»So«, sagt Keßler und zieht das Wort sehr breit. »Sooo. Das freut mich. Weil der Jänecke nämlich erzählt hat, als Sie gestern die Pleite geschoben haben, Sie sind mächtig zurück mit Ihrer Losung und er erledigt Sie.«
Pinneberg sagt: »Danke! Danke! Ich bin zufrieden. Jänecke hat Sie wohl nur ein bißchen aufputschen wollen. Wie weit sind Sie denn?«
»Oh, ich bin fertig für diesen Monat. Deswegen frage ich Sie ja gerade. Ich wollte Ihnen was anbieten.«
Pinneberg steht still. Er haßt diesen Mann Keßler, diesen kriecherischen, angeberischen Mann. Er haßt ihn so sehr, daß er selbst jetzt kein Wort an ihn richten kann, keine Bitte aussprechen mag. Er sagt, nach langer Pause: »Na, da sind Sie ja fein raus.«
»Ja, ich brauche mich nicht mehr abzustrampeln. Ich brauch gar nichts zu verkaufen, diese zwei Tage«, sagt Keßler stolz und sieht Pinneberg überlegen an.
Und vielleicht, vielleicht hätte Pinneberg nun doch noch den Mund aufgetan und eine Bitte ausgesprochen, aber da geschieht es, daß ein Herr auf die beiden zugegangen kommt.
»Würden Sie mir vielleicht ein Hausjackett zeigen? Etwas recht Warmes, Praktisches. Der Preis ist nicht so wichtig. Aber vor allem diskrete Farben.«
Der ältere Herr hat die beiden Verkäufer angesehen, und Pinneberg meint sogar, ihn ganz besonders. Darum sagt er: »Bitte schön, wenn Sie ...«
Aber Kollege Keßler fährt dazwischen: »Ich bitte sehr, mein Herr, wenn Sie sich dorthin bemühen wollen ... Wir haben ausgezeichnete Hausjacketts in Flauschstoffen, ganz gedeckte, diskrete Muster. Bitte sehr ...« Pinneberg sieht den beiden nach, er denkt: »Also Keßler ist fertig und nimmt mir den Kunden weg. Dreißig Mark wären es doch gewesen, Keßler ...«
Herr Jänecke kommt an Pinneberg vorbei: »Nun, sind Sie wieder einmal unbeschäftigt? Alle Herren verkaufen, Sie nicht. Es scheint mir, Sie sehnen sich geradezu nach dem Stempeln.«
Pinneberg sieht Herrn Jänecke an – eigentlich müßte er ihn wohl wütend ansehen. Aber er ist so hilflos, so zerschlagen, er fühlt, wie die Tränen in ihm hochsteigen, er flüstert: »Herr Jänecke ... Ach, Herr Jänecke ...«
Und siehe, Herr Jänecke, der böse, häßliche Herr Jänecke spürt die hilflose Traurigkeit der Kreatur. Er sagt aufmunternd: »Na, Pinneberg, werfen Sie bloß nicht die Flinte ins Korn. Es wird ja alles werden. Und schließlich, solche Unmenschen sind wir ja nun auch nicht, wir lassen auch mal mit uns reden. Jeder kann mal eine Pechsträhne haben.«
Und eilig geht Jänecke an die Seite, denn nun kommt ein Herr, der wie ein Käufer aussieht, ein Herr mit einem ausdrucksvollen Gesicht, mit einem direkt markanten Gesicht. Nein, dieser Herr kann doch kein Käufer sein, das ist ein Maßschneideranzug, den er trägt. Der kauft keine Konfektion.
Aber der Herr geht stracks auf Pinneberg zu – und Pinneberg grübelt, woher er den Herrn kennt, denn er kennt ihn, nur hat der Herr damals ganz anders ausgesehen –, und der Herr sagt zu Pinneberg und faßt die Krempe seines Hutes an: »Ich grüße Sie, mein Herr! Ich grüße Sie! Darf ich fragen, sind Sie im Besitze einiger Phantasie?«
Eine eindrucksvolle Sprache hat der Herr, er rollt das R, auch dämpft er nicht sein Organ, er scheint unempfindlich dagegen, daß auch andere zuhören können.
»Phantasiestoffe«, sagt Pinneberg beklommen. »Im zweiten Stock.«
Der Herr lacht, er lacht ein scharf akzentuiertes Ha-ha-ha, sein ganzes Gesicht, der ganze Mensch lacht, und dann schweigt er wieder, mit einem Ruck ist er nur noch ausdrucksvoll und sonor.
»Dies nun nicht«, spricht der Herr. »Ich frage Sie, ob Sie im Besitz von Phantasie seien? Wenn Sie beispielsweise diesen Schrank mit den Hosen betrachten, können Sie sich darauf sitzend und singend einen Stieglitz vorstellen?«
»Schlecht«, sagt Pinneberg kümmerlich lächelnd und grübelt: woher kennst du diesen verrückten Hund? Der gibt doch nur an!
»Schlecht«, sagt der Herr. »Das ist übel. Nun, mit Vögeln haben Sie in Ihrer Branche wohl auch weniger zu tun?« Er lacht wieder sein scharfes Ha-ha-ha.
Und Pinneberg lächelt mit, trotzdem er jetzt ängstlich wird. Verkäufer dürfen sich nicht veräppeln lassen, sanft, aber sicher müssen sie solch betrunkenen Menschen loswerden. Hinter dem Mantelaufbau steht noch immer Herr Jänecke.
»Womit kann ich Ihnen dienen?« fragt Pinneberg.
»Dienen!« deklamiert der andere verächtlich. »Dienen! Niemand ist niemandes Diener! Aber –, ein anderes. Stellen Sie sich vor, zu Ihnen kommt ein Jüngling, aus der Ackerstraße sagen wir, mit haushoher Marie und wünscht sich einzupuppen bei Ihnen, vom Kopf bis zum Scheitel auf neu –, können Sie mir wohl sagen, können Sie sich wohl denken, welche Sachen dieser Jüngling wählen würde?«
»Das kann ich mir gut denken«, sagt Pinneberg. »So was kommt bei uns manchmal vor.«
»Sehen Sie«, sagt der Herr. »Man muß den Mut nicht gleich unter den Scheffel stellen! Sie haben also doch Phantasie! Welche Stoffe etwa würde ein solcher Jüngling aus der Ackerstraße wählen?«
»Möglichst helle, auffallende«, sagt Pinneberg bestimmt. »Großkariert. Sehr weite Hosen. Die Jacketts möglichst auf Taille. Ich müßte Ihnen das mal zeigen ...«
»Ausgezeichnet«, lobt der andere. »Ganz ausgezeichnet. Und zeigen sollen Sie mir das jetzt. Dieser junge Mann aus der Ackerstraße hat wirklich sehr viel Geld und will sich völlig neu einpuppen.«
»Bitte ...«, sagt Pinneberg.
»Einen Augenblick«, sagt der andere und hebt die Hand. »Damit Sie sich ein Bild machen. Sehen Sie, so kommt der Jüngling aus der Ackerstraße zu Ihnen ...«
Der Herr sieht ganz verändert aus. Es ist ein freches, lasterhaftes Gesicht, das er zur Schau trägt. Aber es ist ein feiges, angstvolles Gesicht dabei, die Schultern sind eingezogen, der Hals zu kurz geworden –: ist irgendwo in der Nähe der Gummiknüppel eines Polizisten?
»Und nun so, wenn er den guten Anzug am Leib hat ...«
Urplötzlich hat sich das Gesicht verändert. Ja, noch ist es frech und schamlos, aber die Blume wendet sich zum Licht, die Sonne ist aufgegangen, eine strahlende Sonne. Man kann auch nett sein, man kann es sich leisten, es kommt nicht darauf an.
»Sie sind«, ruft Pinneberg atemlos, »Sie sind Herr Schlüter! Ich habe Sie im Film gesehen! Oh, Gott, daß ich das nicht gleich gemerkt habe!«
Der Schauspieler ist sehr befriedigt! »Na also! In welchem Film haben Sie mich denn gesehen?«
»Wie hieß er doch? Wissen Sie, Sie haben einen Bankkassierer gemacht, und Ihre Frau denkt, Sie unterschlagen Geld für sie, und in Wirklichkeit gibt es Ihnen der Volontär, der ist Ihr Freund ...«
»Die Handlung kenne ich schon«, sagt der Schauspieler. »Also hat es Ihnen gefallen? Schön. Und was von mir hat Ihnen am besten gefallen?«
»Wissen Sie, so viel ... Aber vielleicht war doch am schönsten, wissen Sie, wie Sie da an den Tisch zurückkommen, Sie sind auf der Toilette gewesen ...«
Der Schauspieler nickt.
»Und unterdessen hat der Volontär Ihrer Frau erzählt, Sie haben gar kein Geld unterschlagen, und die lachen Sie aus. Und plötzlich werden Sie ganz klein und fallen zusammen, schrecklich ist das.«
»So, das war das Schönste. Und warum war es das Schönste?« fragt der Schauspieler unersättlich weiter.
»Weil –, ach, wissen Sie, es war mir so, bitte lachen Sie nicht, es war so wie wir. Verstehen Sie, uns kleinen Leuten geht es nicht sehr gut jetzt und manchmal ist es so, als grinste uns alles an, das ganze Leben, verstehen Sie, und man wird so klein ...«
»Die Stimme des Volkes«, sagt der Mime. »Aber jedenfalls ehrt es mich ungemein, Herr – wie ist doch Ihr Name?«
»Pinneberg.«
»Die Stimme des Volkes, Pinneberg. Also schön, Mann, und nun gehen wir zum Ernst des Lebens über und suchen den Anzug aus. Was die mir im Fundus gezeigt haben, ist alles Quatsch. Nun werden wir sehen ...«
Und sie sehen. Eine halbe Stunde, eine Stunde wühlen sie in den Sachen. Berge häufen sich, Pinneberg ist nie so glücklich gewesen, Verkäufer zu sein.
»Sehr gut der Mann«, brummt der Schauspieler Schlüter von Zeit zu Zeit. Er ist ein geduldiger Anprobierer, die fünfzehnte Hose, in die er fährt, ist ihm noch nicht zu viel, er sehnt sich schon nach der sechzehnten.
»Sehr gut der Mann Pinneberg«, brummt er.
Schließlich sind sie durch, schließlich haben sie alles angesehen und probiert, was nur irgend für den Jüngling aus der Ackerstraße in Frage kommen kann. Pinneberg ist selig, Pinneberg hofft, daß Herr Schlüter vielleicht noch mehr nehmen wird als den einen guten Anzug, vielleicht noch den rotbraunen Mantel mit den lila Karos. Pinneberg fragt atemlos: »Und was darf ich nun aufschreiben, Herr Schlüter?«
Der Schauspieler Schlüter zieht die Brauen hoch. »Aufschreiben? Ja, wissen Sie, ich wollte eigentlich nur mal sehen. Kaufen tu ich es natürlich nicht. Machen Sie nicht so ein Gesicht. Sie haben ein bißchen Arbeit gehabt davon. Ich schicke Ihnen Karten für die nächste Premiere. Haben Sie eine Braut? Ich schicke Ihnen zwei Karten.«
Pinneberg sagt eilig und leise: »Herr Schlüter, ich bitte Sie, bitte, kaufen Sie die Sachen! Sehen Sie, Sie haben so viel Geld, Sie verdienen so viel, bitte kaufen Sie! Wenn Sie jetzt weggehen und haben nichts gekauft, dann heißt es, ich habe die Schuld, und dann werde ich entlassen.«
»Sie sind ja komisch«, sagt der Schauspieler. »Wie komm ich denn dazu, die Sachen zu kaufen? Ihretwegen? Wer schenkt denn mir was?«
»Herr Schlüter!« sagt Pinneberg und seine Stimme wird lauter. »Ich hab Sie im Film gesehen, Sie haben das gespielt, den armen kleinen Mann. Sie wissen, wie unsereinem zumute ist. Sehen Sie, ich habe auch Frau und Kind. Das Kind ist noch ganz klein, es ist jetzt noch so fröhlich, wenn ich entlassen werde ...!«
»Ja, mein lieber Gott«, sagt Herr Schlüter, »das sind ja eigentlich Ihre Privatsachen. Ich kann doch nicht Anzüge, die ich nicht brauchen kann, darum kaufen, damit Ihr Kind fidel ist.«
»Herr Schlüter!« fleht Pinneberg. »Tun Sie es mir zuliebe. Ich habe eine Stunde mit Ihnen verhandelt. Kaufen Sie wenigstens den einen Anzug. Es ist reiner Cheviot, der trägt sich, Sie werden zufrieden sein ...«
»Nun hören Sie aber allmählich auf«, sagt Herr Schlüter, »das wird langweilig, dies Affentheater.«
»Herr Schlüter«, bittet Pinneberg und legt die Hand auf den Arm des Schauspielers, der gehen will, »wir haben von der Firma eine Quote, wir müssen für soundsoviel verkaufen, sonst werden wir entlassen. Mir fehlen noch fünfhundert Mark. Bitte, bitte, kaufen Sie was. Sie wissen doch, wie uns zumute ist! Sie haben es doch gespielt!«
Der Schauspieler nimmt die Hand des Verkäufers von seinem Arm. Er sagt sehr laut: »Hören Sie mal, Jüngling, das verbitte ich mir, daß Sie mich hier anfassen. Das geht mich einen Dreck an, was Sie mir da erzählen.«
Plötzlich ist Herr Jänecke da, jawohl, nun kommt er. »Bitte sehr! Ich bin der Abteilungsleiter.«
»Ich bin der Schauspieler Franz Schlüter ...«
Herr Jänecke verbeugt sich.
»Komische Verkäufer haben Sie hier. Die notzüchtigen einen ja, damit man Ihnen Ihr Zeugs abkauft. Der Mann behauptet, Sie zwingen ihn dazu. Man müßte darüber schreiben, in den Zeitungen, das sind ja Erpressermethoden ...«
»Der Mann ist ein ganz schlechter Verkäufer«, sagt Herr Jänecke. »Er ist schon mehrfach verwarnt. Ich bedaure außerordentlich, daß Sie gerade an ihn geraten sind. Wir werden den Mann nun entlassen, er ist unbrauchbar.«
»Das ist ja nun nicht gerade nötig, mein lieber Herr, das verlange ich gar nicht. Allerdings hat er mich angefaßt ...«
»Er hat Sie angefaßt? Herr Pinneberg, gehen Sie sofort auf das Personalbüro und lassen Sie sich Ihre Papiere geben. – Und was das Geschwätz mit der Quote anlangt, Herr Schlüter, alles gelogen! Gerade vor zwei Stunden habe ich diesem Herrn erst gesagt, wenn er's nicht schafft, schafft er's eben nicht, das ist nicht so schlimm. Ein unfähiger Mann, ich bitte tausendmal um Entschuldigung, Herr Schlüter.«
Pinneberg steht da und sieht den beiden nach.
Er steht da und sieht ihnen nach.