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Das Abendessen ist vorüber, ein Abendessen, eingekauft, zubereitet, durch ein Gespräch belebt, mit Plänen ausgefüllt von einem ganz veränderten Lämmchen. Es hat Brot und Aufschnitt gegeben, dazu Tee. Pinneberg war mehr für Bier gewesen, aber Lämmchen hatte erklärt: »Erstens ist Tee billiger. Und zweitens ist für den Murkel Bier gar nicht gut. Bis zur Entbindung trinken wir keinen Tropfen Alkohol. Und überhaupt ...«
» Wir«, dachte Pinneberg wehmütig, fragte aber nur: »Und was überhaupt?«
»Und überhaupt sind wir nur heute abend mal so üppig. Zweimal die Woche mindestens gibt es nur Bratkartoffeln und Brot mit Margarine. Gute Butter –? Vielleicht sonntags. Margarine hat auch Vitamine.«
»Aber nicht dieselben.«
»Schön, entweder wollen wir vorwärtskommen oder wir brauchen allmählich das Ersparte auf.«
»Nein, nein«, sagt er eilig.
»So, und nun räumen wir ab. Abwaschen kann ich morgen früh. Und dann packe ich die erste Ladung zusammen und wir besuchen Frau Scharrenhöfer. Das schickt sich so.«
»Willst du wirklich gleich den ersten Abend –?«
»Gleich. Die soll sofort Bescheid wissen. Übrigens hätte sie sich längst sehen lassen können.«
In der Küche, die wirklich nichts weiter wie eine Bodenkammer mit einem Gaskocher ist, sagt Lämmchen noch einmal: »Schließlich gehen sechs Wochen auch mal vorbei.«
Ins Zimmer zurückgekehrt, entfaltet sie eine emsige Tätigkeit. Alle Deckchen und Häkeleien nimmt sie ab und legt sie fein säuberlich zusammen. »Rasch, Junge, hol eine Untertasse aus der Küche. Die soll nicht denken, wir wollen ihre Nadeln behalten.«
Endlich: »So.«
Sie legt das Paket mit den Decken über ihren Arm, sieht sich suchend um: »Und du nimmst die Uhr, Junge.«
Er zweifelt noch immer: »Soll ich wirklich –?«
»Du nimmst die Uhr. Ich gehe voran und mache die Türen auf.«
Sie geht wirklich voran, ganz ohne Furcht, erst über den kleinen Vorplatz, dann in einen kammerähnlichen Raum mit Besen und solchem Gemurks, dann durch die Küche ...
»Siehst du, Junge, das ist eine Küche! Und hier darf ich nur Wasser holen!«
... dann durch ein Schlafzimmer, ein langes schmales Handtuch, nur mit zwei Betten ...
»Hat die das Bett von ihrem Seligen stehen lassen? Besser, als wenn wir drin schlafen.«
... und dann in ein kleines Zimmer, das fast ganz dunkel ist, so dicke Plüschportieren hängen vor dem einzigen Fenster.
Frau Pinneberg bleibt in der Tür stehen. Unsicher sagt sie ins Dunkel: »Guten Abend. Wir wollten nur Guten Abend sagen.«
»Einen Augenblick«, sagt eine weinerliche Stimme. »Einen Augenblick nur. Ich mache gleich Licht.«
Hinter Lämmchen hantiert Pinneberg an einem Tisch, sie hört die kostbare Uhr leise klirren. Er bringt sie wohl rasch beiseite.
»Alle Männer sind feige«, stellt Lämmchen fest.
»Gleich mache ich Licht«, sagt die klagende Stimme, immer noch aus derselben Ecke. »Sie sind die jungen Leute? Ich muß mich nur erst zurechtmachen, ich weine abends immer ein bißchen ...«
»Ja?« fragt Lämmchen. »Aber wenn wir stören ... Wir wollten nur ...«
»Nein, ich mache Licht. Bleiben Sie, junge Leute. Ich erzähl Ihnen, warum ich geweint habe, ich mach auch Licht ...«
Und nun wird es wirklich Licht, was die alte Scharrenhöfer so Licht nennt: eine matte Glühbirne, ganz oben an der Decke, eine trübe Dämmernis zwischen Samt und Plüsch, etwas Fahles, Totengraues. Und in der Düsterkeit steht eine große knochige Frau, bleifarben, mit einer rötlichen langen Nase, schwimmenden Augen, mit dünnem, weißgrauem Haar, in einem grauen Alpakakleid.
»Die jungen Leute«, sagt sie und gibt Lämmchen eine feuchte, knochige Hand. »Bei mir! Die jungen Leute!«
Lämmchen drückt ihren Deckenpacken eng an sich. Daß die Alte ihn nur nicht sieht mit ihren trüben verweinten Augen. Gut, daß der Junge seine Uhr losgeworden ist, vielleicht kann man sie ohne Auffallen nachher wieder mitnehmen. Lämmchens Mut ist weg.
»Wir wollen aber wirklich nicht stören«, sagt Lämmchen.
»Wie können Sie stören? Zu mir kommt keiner mehr. Ja, als mein guter Mann noch lebte! Aber es ist recht, daß er nicht mehr lebt!«
»War er schwer krank?« fragt Lämmchen, und bekommt einen Schreck über ihre dumme Frage.
Aber die Alte hat es gar nicht gehört. »Sehen Sie!« sagte sie. »Junge Leute, wir hatten vor dem Kriege gut und gern unsere fünfzigtausend Mark. Und nun ist das Geld alle. Wie kann das Geld alle sein?« fragt sie ängstlich. »Soviel kann eine alte Frau doch nicht ausgeben?«
»Die Inflation«, sagt Pinneberg vorsichtig.
»Es kann nicht alle sein«, sagt die alte Frau und hört nicht.
»Ich sitze hier, ich rechne. Ich habe immer alles angeschrieben. Ich sitze, ich rechne. Da steht: ein Pfund Butter dreitausend Mark ... kann ein Pfund Butter dreitausend Mark kosten.«
»In der Inflation ...«, fängt auch Lämmchen an.
»Ich will es Ihnen sagen. Ich weiß jetzt, mein Geld ist mir gestohlen. Einer, der hier zur Miete gewohnt hat, hat es mir gestohlen. Ich sitze und überlege: wer war's? Aber ich kann mir Namen nicht merken, es haben so viele hier gewohnt seit dem Kriege. Ich sitze, ich grüble. Er fällt mir noch ein, es ist ein ganz Kluger gewesen, damit ich es nicht merke, hat er mein Haushaltsbuch gefälscht. Aus 'ner drei hat er dreitausend gemacht, ich hab's nicht gemerkt.«
Lämmchen sieht verzweifelt zu Pinneberg hin. Pinneberg sieht nicht hoch.
»Fünfzigtausend ... wie können Fünfzigtausend alle sein? Ich hab hier gesessen, ich hab gerechnet, was ich alles angeschafft habe, die Jahre, seit mein Mann tot ist, Strümpfe und ein paar Hemden, ich hab 'ne schöne Aussteuer gehabt, ich brauch nicht viel, es ist alles angeschrieben. Keine Fünftausend sage ich Ihnen ...«
»Aber da war doch die Geldentwertung«, macht Lämmchen einen neuen Versuch.
»Geraubt hat er es mir«, sagt die alte Frau kläglich und die hellen Tränen fließen mühelos aus ihren Augen. »Ich will Ihnen die Bücher zeigen, ich hab es jetzt gemerkt, die Zahlen sind nachher ganz anders, so viele Nullen.«
Sie steht auf und geht gegen den Mahagonisekretär.
»Es ist wirklich nicht nötig«, sagen Pinneberg und Lämmchen.
In diesem Augenblick geschieht es: die Uhr draußen, die Pinneberg im Schlafzimmer der Alten abgestellt hatte, schlägt silbern hell, eilig neun Uhr.
Die Alte bleibt halbwegs stehen. Den Kopf erhoben späht sie in das Dunkel, lauscht mit halboffenem Munde, mit zitternder Lippe.
»Ja?« fragt sie ängstlich.
Lämmchen faßt nach Pinnebergs Arm.
»Das ist die Verlobungsuhr von meinem Mann. Sie stand doch sonst drüben?«
Die Uhr hat zu schlagen aufgehört.
»Wir wollten Sie bitten, Frau Scharrenhöfer«, fängt Lämmchen an.
Aber die Alte hört nicht, vielleicht hört sie überhaupt nie auf das, was andere reden. Sie macht die angelehnte Tür auf: da steht die Uhr, selbst in diesem schlechten Licht deutlich sichtbar. »Die jungen Leute haben mir meine Uhr wiedergebracht«, flüstert die Alte. »Das Verlobungsstück von meinem Mann. Es gefällt den jungen Leuten bei mir nicht. Sie bleiben auch nicht bei mir. Keiner bleibt ...«
Und wie sie das gesagt hat, fängt die Uhr wieder zu schlagen an, noch eiliger, noch glasheller beinahe, Schlag um Schlag, zehnmal, fünfzehnmal, zwanzigmal, dreißigmal ...
»Das kommt vom Tragen. Sie verträgt das Tragen nicht mehr«, flüstert Pinneberg.
»Oh Gott, komm schnell!« bittet Lämmchen.
Sie stehen auf. Aber in der Tür steht die Alte, läßt sie nicht vorbei, sieht die Uhr an. »Sie schlägt«, flüstert sie. »Sie schlägt immerzu. Und dann schlägt sie nie wieder. Ich hör sie zum letzten Mal. Alles geht von mir weg. Das Geld ist auch weg. Wenn die Uhr schlug, dachte ich immer: die hat mein Mann noch gehört ...
Die Uhr steht still.
»Bitte, Frau Scharrenhöfer, es tut mir sehr leid, daß ich Ihre Uhr angefaßt habe.«
»Ich bin schuld«, schluchzt Lämmchen. »Ich ganz allein ...«
»Gehen Sie, junge Leute, gehen Sie nur. Das soll so sein. Eine gute Nacht, junge Leute.«
Die beiden drücken sich vorbei, angstvoll, verschüchtert wie Kinder.
Plötzlich ruft die Alte klar und deutlich: »Vergessen Sie am Montag nicht die Anmeldung bei der Polizei! Sonst habe ich Scherereien.«