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5. Der Idealismus im Verlauf des 19. Jahrhunderts.

Auch nach der großen Wendung zur sichtbaren Welt entschwindet der Gedankenarbeit des 19. Jahrhunderts der Idealismus nicht, vielmehr verbleibt er in mannigfacher Wirkung. Zunächst erhält sich die Welt der deutschen Dichter und Denker, sie wirkt auf Bildung und Erziehung, teilt sich auch anderen Völkern mit und erzeugt je nach Art und Lage eigentümliche Wirkungen. Neigte unsere gelehrte Forschung nicht immer noch dahin, Probleme naheliegender Zeiten hinter die fernerer zurückzustellen, so hätte die Aufgabe reizen müssen, die Gesamtwirkung des deutschen Idealismus auf das Leben der Menschheit darzustellen, zu zeigen, wie verschiedenes die verschiedenen Völker anzog, und wie das Lehngut in der Aufnahme umgewandelt wurde. Denn die anderen Völker haben nicht unselbständig aufgenommen, sondern in der Aneignung und Behandlung eine eigentümliche Art erwiesen, sie haben im besonderen oft zwischen Haupt- und Nebensachen schärfer zu scheiden gesucht, die weitschichtigen Gedankenmassen einheitlicher gefaßt und die großen Linien herausgearbeitet. So sieht z. B. die englischredende Welt in Kant und Hegel oft nicht mit den meisten Deutschen den Gegensatz einer überwiegend ethischen und einer überwiegend intellektualistischen Denkart, sondern das gemeinsame Bekenntnis zu einem spekulativen Verfahren, einem großen systematischen Aufbau, einem Suchen und Gestalten der Wirklichkeit von innen her; so rücken ihr leicht auch die deutschen Klassiker und die Romantiker enger zusammen als uns selbst, die wir mehr an der Besonderheit haften. In aller Verschiedenheit der Äußerungen gewahrt man draußen mehr einen gemeinsamen Lebenstypus, einen Typus, der das Ziel bloßer Nützlichkeit als unwürdig abweist, vielmehr eine Selbständigkeit wie einen Selbstwert des Innenlebens verkündet, zugleich aber dem Menschen mehr innere Freiheit eröffnet.

Ferner wollen wir auch die Gedankenleistungen nicht unterschätzen, welche der Idealismus im Verlauf des 19. Jahrhunderts hervorgebracht hat. Der Schöpfung zusammenfassender Systeme war namentlich der deutsche Boden günstig. Ihnen gemeinsam war dabei das Streben, unter Festhaltung der auf der Höhe des Schaffens gewonnenen Grundüberzeugung die Gewaltsamkeit zu mildern, den kühnen Gedankenflug zu mäßigen, der Erfahrung, die uns in Natur und Menschenwelt umgibt, zu größerer Geltung zu bringen, auch den Befund der Geschichte unbefangener zu würdigen, mit dem allen der Arbeit mehr Fülle und Festigkeit zu geben, durchgängig im Verfahren mehr Besonnenheit und Umsicht zu üben. Es genügt hier an Denker wie Lotze und Fechner, Sigwart, Lazarus und Wundt zu erinnern, auch an Trendelenburg und Zeller, Kuno Fischer und Dilthey, auch der unermüdlichen Lebensarbeit eines E. von Hartmann mit seiner mutigen Verfechtung einer Metaphysik und seiner scharfen Kritik des Naturalismus sei hier in Ehren gedacht.

Literarische Größen, welche über die Fachphilosophie hinaus Hauptgedanken idealistischer Art weiteren Kreisen zugeführt haben, besaß die englischredende Welt Carlyle und Emerson; beide entwickelten einen eigentümlichen Persönlichkeitsidealismus, der mit seiner anregenden Kraft und seiner Richtung auf Fragen und Aufgaben des modernen Lebens mehr als einen bloßen Nachklang des deutschen Idealismus bildet. In unablässigem Kampf mit einer abschleifenden, gleichmachenden, verflachenden Massenkultur erhebt sich hier die Persönlichkeit als Hauptträger des Lebens, die Persönlichkeit als die ursprüngliche Quelle geistigen Schaffens, als der Punkt, an dem unzählige Fäden zusammenlaufen und das Leben ein volles Beisichselbstsein wird, als ein Punkt auch, wo es sich zu kräftiger Tat zusammenzufassen und den Einflüssen der Umgebung überlegen zu werden vermag. Alle lehrhafte Formulierung wird hier zur Nebensache, nur als Ausstrahlungen des Lebens behalten die Bekenntnisse einen Wert, so daß sie ohne Erschütterung der Grundwahrheit in lebendigem Fluß bleiben können. Carlyle wie Emerson Wurzeln dabei im Christentum der Reformation, aber sie entwinden sich allem statutarischen Glauben und erstreben im Ganzen ihres Lebenswerks eine reinmenschliche und einfache Wahrheit. Carlyle gestaltet das herber und strenger, die Persönlichkeit stellt sich hier fest auf sich selbst bis zu trotziger Weltüberlegenheit und bekämpft unerbittlich alle Schäden und alle Unwahrheit der gesellschaftlichen Umgebung, namentlich die Herabdrückung des Menschen durch die moderne Industrie und Maschinenarbeit auch die anmaßliche Alleinherrschaft der wirtschaftlichen Gesetze. Emerson stimmt alles mehr ins Milde und Freundliche, ohne den Ernst der Gesinnung abzuschwächen; eine Denkart echter Humanität und ein Leben von innen heraus gibt der Wirklichkeit ein verklärendes Licht und weiß den Menschen sowohl zu sich selbst als zur Natur harmonisch zu stellen. So erhielt sich auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein vielfach verzweigter Strom idealistischer Überzeugung.

Jedoch war dieser Idealismus mehr eine Abwehr des vordringenden Realismus, mehr eine Wahrung überkommener Ziele als ein selbständiges Schaffen und ein Eröffnen neuer Bahnen aus dem eignen Geist der Zeit. Zu einer derartigen Weiterbewegung drängte aber immer mehr die eigne Lage und Erfahrung der Gegenwart. Wir sahen, wie die Bewegung zur sichtbaren Welt, welche im Realismus ihren gedanklichen Ausdruck fand, ihre Schranken und Gefahren um so mehr empfinden ließ, je mehr sie die Breite des Lebens ergriff und die allgemeinen Verhältnisse beherrschte; der Rückschlag, der schon zur Sprache kam, gewann immer größere Stärke und trieb das Streben auf neue Bahnen. So wenig wir auf den Idealismus unserer klassischen Literaturepoche verzichten möchten, verhehlen konnten wir nicht, daß uns manches von ihm scheidet. Die weitere Lebensentfaltung hat uns soviel blinde Tatsächlichkeit, soviel Dunkles und Böses im Befunde von Welt und Menschenleben vor Augen gerückt, daß ein so freundlicher Abschluß wie dort uns unmöglich geworden ist; wir mußten den Widerstand der Menschen und Dinge im nächsten Dasein höher anschlagen und uns eingehender mit ihm befassen. Auch die stärkere Entfaltung der sozialen Gesamtheit gegenüber den bloßen Individuen erzeugte neue Fragen, deren Lösung neue Kräfte auch innerer Art verlangte. So entstand von verschiedenen Seiten her das Verlangen nach einer Vertiefung, nach einer Erneuerung des Lebens.

Ein solches Verlangen durchdrang alle Völker, Religionen, Kulturen der alten wie der neuen Welt, es bewegte nicht nur viele Individuen, es ergriff ganze Lebensgebiete. Wohl mochte die Verneinung der Religion die Oberfläche des Lebens noch mehr und mehr gewinnen, sie beherrschte nicht mehr die geistige Arbeit, auch erhob sich aus der Tiefe der Seelen eine wachsende Sehnsucht der Menschheit nach mehr Innerlichkeit, mehr echter Liebe, mehr Ewigkeitsgehalt, als die moderne Kultur sie gewährt, und rief zugleich das religiöse Problem wieder mehr in den Vordergrund. Zugleich entstand auch mehr Verlangen nach einer Philosophie, die nicht in gelehrte Arbeit aufgeht, sondern den ganzen Menschen ergreifen und seinem Leben hohe Ziele vorhalten könnte, auch wurde der uns von allen Seiten umflutende Intellektualismus immer mehr als eine Gefährdung und Verflüchtigung des Lebens erkannt; seine Überwindung aber war nicht möglich ohne eingreifende Wandlungen zu fordern. Auch das weitverbreitete Streben nach einer künstlerischen Veredlung des Daseins zog seine beste Kraft aus der Sehnsucht nach einem ursprünglicheren, mehr sich selbst angehörigen Leben. Endlich hätte die sozialistische Bewegung nicht so viele edle Gemüter gewonnen und die Menschheit mit solcher Gewalt ergriffen, spräche aus ihr nicht ein Streben nach einem neuen Menschen, nach einer gründlichen Verjüngung der Menschheit. Wohl waren das alles Anfänge aber sie gaben zu manchen Hoffnungen Raum. Denn ihr gutes Recht, ja ihre Notwendigkeit ward auch dadurch erhärtet, daß nicht nur dieselben Fragen durch die Völker und Kulturkreise gingen, sondern daß auch ihre Behandlung vielfach verwandte Wege einschlug. Überall wurde vielen der von der Vergangenheit überkommene Gedanken- und Lebenskreis zu eng und zu gebunden, überall erschien eine Sehnsucht nach mehr Ursprünglichkeit und mehr Weite, überall erwachte ein Eifer, von dem geistigen Sonderbesitz auf ein Allgemeinmenschliches, allen Gemeinsames, allen Notwendiges zurückzugehen, von da aus das Leben zu gestalten und es zugleich den Aufgaben der lebendigen Gegenwart mehr zu verbinden. Überall sollte das Leben mehr Seele und mehr Charakter erhalten, als eine überwiegend nach außen gerichtete, einseitig technische und materielle Kultur ihm zu geben vermag. Eine solche Übereinstimmung des Strebens rückte die Völker und Kulturkreise einander näher und lud sie zu fruchtbarem Austausch und freundlicher Verständigung ein; es war zu hoffen, daß solches Streben auch auf die äußeren Verhältnisse Einfluß gewinne und eine friedliche Lösung etwaiger Gegensätze fördere. So hatte bei aller Scheidung und eigentümlichen Ausprägung der Nationen der Gedanke der Zusammengehörigkeit der Menschheit wachsende Macht erlangt; vor uns lag ein zuversichtlicher Ausblick, und es schien die Hoffnung auf eine innere Gemeinschaft und gegenseitige Hebung der Völker guten Grund zu besitzen. Da kam der gewaltige Weltkrieg und hat mit seinen Erfahrungen, seinen Aufregungen und Leidenschaften, auch das Problem der Lebensanschauung in eine neue Lage gebracht.


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