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a. Die Wendung zur Religion.
Die letzte große Leistung des Altertums war eine Wendung zur Religion und zugleich zu religiöser Spekulation. Das Urteil über die Bedeutung dieser Wendung hängt namentlich an der eignen Stellung zur Religion: wer in dieser lediglich ein Gebilde menschlichen Wahnes, einen Ausfluß von Mattheit und Schwäche sieht, dem kann die Bewegung zu ihr nur ein Sinken der geistigen Spannung und einen Abfall des Altertums von seiner echten Art bedeuten, den kann es auch wenig reizen, das Durcheinander jener Zeit zu entwirren und seine Triebkräfte aufzudecken. Wer dagegen die Religion als das Suchen einer neuen Lebenstiefe versteht, die dem Menschenleben einen festen Halt und einen unbestreitbaren Sinn verspricht, dem wird der Ausgang des Altertums von großem Werte sein. Denn es gibt keine andere Zeit, die so deutlich wie jener ersehen läßt, was den Menschen zur Religion treibt, und was er bei ihr zu finden hofft; wer in dieser ein Streben nach Wahrheit ehrt, der mag in allem trüben Gewirr beherrschende Linien entdecken und schließlich in aller Mannigfaltigkeit eine Gesamtbewegung erkennen, die für Jahrtausende die Geschicke der Menschen beherrscht hat. Verschiedene Völker erscheinen und setzen an ihren Glauben ihre beste Kraft, ihr tiefstes Sehnen und Hoffen, die einzelnen Leistungen berühren und verflechten sich miteinander, aus harten Kämpfen bildet sich eine gewisse Gemeinschaft heraus. In dem Kampf hat schließlich das Christentum den Sieg davongetragen, aber es selbst ist ein Stück jener weiteren Bewegung und ohne sie nicht zu verstehen.
Auch die Höhe des Griechentums entbehrte bei aller Freude an der schönen Welt und bei aller Lust des geistigen Schaffens nicht der Religion: den überkommenen Glauben veredelten Kunst und Gedankenwerk, und suchenden Seelen gewährten die Mysterien die Zuversicht eines seligen Weiterlebens. Aber wie in der Überzeugung jener Zeit das Weltall die Götter in sich schloß, so wirkte auch die Religion mehr innerhalb eines weiteren Lebens, als daß sie aus eigenem Vermögen ein neues Leben schuf und dafür den ganzen Menschen aufrief. Dies aber ist es, was allererst eine eigentümliche Religion und Religiosität erzeugt.
Die Wendung zu einer solchen setzte ein Irrewerden an den bisherigen Zielen, ja einen völligen Bruch mit ihnen voraus; ein solches Irrewerden ist sicherlich weithin auch auf griechischem Boden erfolgt. Der Grund dafür lag wohl nicht bloß in einer Verschlechterung der Verhältnisse, nicht bloß in schweren und trüben Erfahrungen der Zeit, sondern vielleicht noch mehr darin, daß das nunmehr von aller Bindung abgelöste und auf sich gestellte Individuum mehr zu sorgen, zu grübeln, zu zweifeln begann, und daß solcher Zweifel ewige Rätsel des menschlichen Daseins zu quälenden Fragen der Gegenwart machte. Das kann allen Lebensmut erschüttern. Aber wenn die Religion eine solche Erschütterung voraussetzt, ihr ist wesentlich, sich dieser nicht zu ergeben, sondern ihr durch die Eröffnung einer neuen Lebensquelle entgegenzuwirken. Ja bei der Wendung zur Religion mag gerade das Ungenügen, die Nichtigkeit des gegebenen Daseins einen felsenfesten Glauben des Menschen an eine Unverlierbarkeit seines innersten Wesens wecken, ihn zugleich aber für eine solche Selbsterhaltung eine neue Wirklichkeit ungestüm fordern lassen. Die Religion pflegt nicht mit dem Weil, sondern mit dem Obgleich zu schließen.
So zeigt es auch der Ausgang des Altertums. Wohl geht durch die Zeit viel Mattheit, aber die religiöse Bewegung ergibt sich nicht solcher Mattheit, sie entfacht einen neuen Lebensdrang, indem sich das von der Aufklärung der vorangehenden Jahrhunderte unterdrückte Verlangen nach vollem und kräftigem Glück mit stürmischer Gewalt erhebt und gegen alle Widerstände durchsetzt. Zugleich aber ergreift die Gemüter oft eine dumpfe Angst, eine quälende Sorge um unsichtbare Bindungen und Verantwortungen, eine bange Furcht vor dunklen Gewalten und ewigen Strafen, und es steigert sich die tiefe Empfindung des Leides der Welt zu niederdrückendem Schuldgefühl.
Was konnten einer solchen Gefühlslage die Systeme der Lebensweisheit mit ihrer resignierten Ergebung in die als fertig gedachte Welt, ihrer Herabstimmung des Lebens zu ruhiger Selbstbetrachtung, ihrer Abschwächung aller Gefühle bedeuten? Auch das letzte Aufleuchten der antiken Kultur im zweiten nachchristlichen Jahrhundert mit seiner Rückkehr zu den alten Vorbildern des Geschmackes und seiner Anpreisung formaler Bildung bot nichts für die Fragen, die nunmehr die Herzen bewegten, aller äußerer Glanz jenes Aufschwungs verdeckt nicht seine innere Leere. Im dritten Jahrhundert nach Chr. verschwindet aber auch der Schein, und es erfolgt ein jäher Zusammenbruch; selbst der Kunst, der treuesten Gehilfin des griechischen Geistes, versagen nunmehr die Kräfte; das letzte bedeutende Bildnis ist das des Caracalla († 217).
So blieb im dritten Jahrhundert der Platz allein der religiösen Bewegung; seit den ersten Jahrhunderten vor Chr. in unablässigem Wachstum reißt sie jetzt alle Kraft mit sich fort. Das dritte Jahrhundert hat auch den einzigen großen Denker dieser Bewegung hervorgebracht, den weltüberschauenden Geist des Plotin. Seine Größe aber können wir nicht ermessen, ohne der Vorbereitungen und Umgebungen kurz zu gedenken.
Indem die Philosophie an der Bewegung zur Religion mehr und mehr Anteil nimmt, erweckt sie manches von der griechischen Überlieferung zu neuem Leben, das aber in Verstärkung seines religiösen Charakters. Namentlich orphische und pythagoreische Lehren, die neuere Forschungen und Funde auch in der Zwischenzeit als nicht gänzlich erloschen zeigen, übten nach dieser Richtung eine werbende Kraft; sie entzündeten ein Verlangen nach Befreiung der zur Sinneswelt herabgesunkenen Seele und verlangten dafür neben einem streng asketischen Leben namentlich einen Glauben an Wunder und Weissagungen. Hochgebildete hielten sich vornehmlich an die platonische Philosophie, deren religiöser Zug erst jetzt voll zur Geltung kam, »edlere Naturen, deren Anschauung gleichzeitig durch Glauben oder Ahnung, Spekulation, ethisches Bedürfnis und ein hohes Bewußtsein der Menschenwürde bestimmt wurde, haben auch im späteren Altertum vorzugsweise im Platonismus Befriedigung gesucht und gefunden« (Friedländer). Endlich haben hervorragende Vertreter des Stoizismus nach dieser Richtung gewirkt, niemand mehr als Posidonius (135-51 v. Chr.), der, Syrer von Geburt, die religiöse Stimmung mächtig vertiefte, dabei besonders eifrig den stoischen Weissagungsglauben verfocht und der Sterndeutung namentlich bei den Römern Eingang verschaffte, das alles zu wesentlicher Umwandlung der herkömmlichen seelischen Lage. Dazu gesellten sich starke einander mannigfach durchkreuzende Einflüsse des Orients, die uns gleich beschäftigen sollen; sie haben aber mehr auf die Römer als auf die Griechen gewirkt.
Wie auf griechischem Boden einzelne Denker die verschiedenen Elemente verbinden und eine religiöse Gesinnung mit der Festhaltung des Kulturbesitzes verschmelzen, das zeigt der feinsinnige, ernste und milde Plutarch (etwa 48-125 n. Chr.). Von den religiösen Stimmungen auf der Höhe des griechischen Lebens jener Zeit gibt ein besonders anschauliches Bild sein Schriftchen über Isis und Osiris.
In dieser Bewegung zur Religion erscheint vor allem eine andere Stellung des Menschen zum Bösen. Galt dieses bisher den meisten griechischen Denkern als ein bloßes Nebenergebnis des Weltlaufs, und hatten namentlich die Stoiker größten Eifer daran gesetzt, es als einen bloßen Schein zu erweisen, so wird ihm jetzt ein selbständiges Wesen und eine weite Ausdehnung zuerkannt. Da nichts Böses geschehen könnte, wenn Gott aller Dinge Urquell wäre, so muß die Unvernunft der Welt ihren eigenen Ursprung haben; als solcher gilt, in Anknüpfung an Plato, der sinnliche Stoff mit seinem tiefen Dunkel. Nun erscheint er nicht mehr als dem Aufstieg des Lebens dienend, sondern als eine feindliche Macht, die das Weltall zerreißt. Die Wirklichkeit wird zum Schauplatz eines harten, ja unversöhnlichen Streites. Diesen Gegensatz des Alls teilt auch der Mensch, enthält doch sein Wesen einen schroffen Zwist von Geist und Sinnlichkeit. Je inniger das klassische Altertum Sinnliches und Geistiges verbunden und verschlungen hatte, desto stärker wird jetzt der Eifer der Scheidung. Ein Ekel an der immer lüsterner werdenden Sinnlichkeit scheint weite Kreise ergriffen zu haben, man kann sich nicht genug tun in der Strenge ihrer Verwerfung. Damit verändert sich auch das Wesen und die Stellung der Gottheit. Mit jener zwiespältigen Welt darf das vollkommene Reine sich nicht unmittelbar befassen, ihm gebührt eine weltüberlegene Hoheit, eine volle Jenseitigkeit, zugleich eine weite Erhebung über alle menschlichen Begriffe und Maße. Soll also die heißbegehrte Verbindung mit der Gottheit zustande kommen, so scheint der Durchschnittsmeinung nichts anderes übrig zu bleiben als eine Vermittlung durch Zwischenmächte übermenschlicher, aber untergöttlicher Art; die Lehre von den Dämonen, die den Untergrund uralten Volksglaubens hatte und auch von Plato herangezogen war, gewinnt jetzt eine ungeheure Macht und erregt immer mehr die Gemüter. Vom Wirken solcher Geister glaubt der Mensch sich durchgängig umfangen, sie scheinen ihm aber zunächst mehr übel- als wohlgesinnt, erst besondere Leistungen können sie uns gewinnen. In der Vorstellung der Menge sinkt das zu wüstem Zauberspuk, ein trüber Qualm des Aberglaubens verdüstert das Licht der Erkenntnis. Schrankenlos wogt die aufgeregte Stimmung, die Leidenschaften des allein auf sein Glück bedachten Herzens verhindern eine Würdigung sachlicher Notwendigkeiten und drängen eine rationale Gestaltung des Daseins weit zurück. Dafür steigt ein religiöses Gefühlsleben auf. Jene Idee einer weltüberlegenen Gottheit gibt dem menschlichen Sinnen den Zug ins Weite und Ferne, den Charakter aufstrebender Sehnsucht, oft auch schwärmerischer Hoffnung; die nächste Welt sinkt zu einer bloßen Vorbereitung, einem Gleichnis einer höheren, dem gemeinen Auge verschleierten Wirklichkeit. Zugleich verstärkt sich die Abwendung von der Sinnlichkeit, ihre völlige Austreibung wird zur unerläßlichen Bedingung des höchsten Gutes, der Gemeinschaft mit Gott.
Inmitten aller Verschiebungen wahren die Denker aber darin die griechische Art, daß sie die Gemeinschaft mit der Gottheit als ein Erkennen der Gottheit verstehen; das Erkennen als den Kern des Geisteslebens zu schätzen, das haben die Griechen nie aufgegeben. Aber um das überweltliche Sein, das reine Sein, zu erfassen, hat das Erkennen sich selbst zu verändern. Zunächst scheint wenig Aussicht auf ein Gelingen; »für die Seelen der Menschen, die in Körpern und Leidenschaften stecken, gibt es kein Teilhaben an Gott, nur eine schwache Spur mag die Philosophie mit ihrem Denken erreichen« (Plutarch). Zuversichtlicher stimmt die Hoffnung, es möge das unseren Begriffen Unzugängliche sich einem unmittelbaren Schauen im Stande des »Enthusiasmus«, der »Ekstase« erschließen. Dem Menschen, der alle eigene Tätigkeit einstellt und zum bloßen Gefäß der göttlichen Offenbarung wird, mag das göttliche Licht ungetrübt leuchten. Dies Licht erhellt auch die geschichtliche Religion, den »Mythus« und läßt darin tiefe Wahrheit erkennen. Denn wie der Regenbogen ein bunter Abglanz des Sonnenlichts auf dem dunklen Gewölk, so ist der Mythus ein Abglanz der göttlichen Vernunft in unserer Vorstellung (Plutarch). So kann auch der Gebildete die Volksreligion in Ehren halten; durchleuchtet er sie mit jener höheren Einsicht, so mag er die rechte Mitte zwischen dem Unglauben (ἀθεότης) und dem Aberglauben ( δεισιδαιμονία) finden.
Demnach verbleibt auch in der religiösen Bewegung ein philosophisches Streben, und einzelne Individuen bringen Frömmigkeit und Wissensdrang zu vollem Einklang. Aber jenes Streben verengt sich dabei nicht nur stark, es leidet an einem harten Widerspruch des neuen Gehalts mit den alten Formen, die es noch nicht abschütteln kann. Zu einer eigenen, völlig selbständigen Welt ist die neue Denkweise erst durch den Neuplatonismus oder vielmehr durch Plotin gelangt.
Bevor wir uns dahin wenden, sei in Kürze der Versuche gedacht, eine religiöse Philosophie mit Hilfe einer geschichtlichen Religion, nämlich des Judentums, auszubilden. In der Überlieferung des Judentums besaß die Religion weit mehr Macht und Geschlossenheit, sie brachte hier der Philosophie weit mehr Eigenbesitz entgegen. Mit dieser aber in einer Zeit, wo die griechische Kultur die Welt beherrschte, einen Ausgleich zu suchen, dazu trieb ebenso das eigene Bedürfnis des gebildeten Mannes, seinen Glauben vor dem Denken zu rechtfertigen, als das noch nicht durch blutige Niederwerfung ausgetriebene Verlangen, die väterliche Religion allen Völkern mitzuteilen. Die Führung liegt hier bei Philo von Alexandria (etwa 30 v. Chr. bis 50 n. Chr.). Denn er zuerst unternimmt es, den Glauben der Juden und die Weisheit der Griechen in ein Ganzes zu verschmelzen; ihm verbindet sich namentlich das stoische Ideal des weltüberlegenen Weisen mit dem alttestamentlichen des gottergebenen Gerechten; er betritt damit eine Bahn, auf der ihm Jahrhunderte und Jahrtausende gefolgt sind.
Bei der Verbindung der beiden Welten liefert das Judentum einen festen Bestand von Lehren, Sitten, Gebräuchen, eine geschichtliche Ansicht der Dinge, eine Gemeinschaft ethisch-religiöser Art, eine ins Innere gewandte Frömmigkeit; das Griechentum aber weite Begriffe, einen starken Zug vom Kleinmenschlichen zum All, mehr Verlangen nach Erkenntnis, mehr Freude am Schönen. In der Wechselwirkung wird das Jüdische erweitert und vergeistigt, das Griechische befestigt und seelisch vertieft; in der gemeinsamen Atmosphäre reiner Innerlichkeit haben sich viele Fäden von der einen Seite zur anderen gesponnen, sind manche feine und zarte Gedanken entsprungen.
Das Weltbild hat namentlich den Sinn und die Stellung der platonischen Ideen verändert. Dem Meister waren sie selbständige Weltmächte, bei Philo werden sie Gedanken des göttlichen Geistes; alle Vielheit wird nunmehr ein Werk der weltbeherrschenden Einheit. Auch das leitet große Bewegungen ein, daß die zwischen Gottheit und Menschheit vermittelnden Kräfte sich zur Einheit des »Logos«, des erstgeborenen Sohnes Gottes, zusammenfassen.
Wie das Weltbild, so wird auch die Lebensgestaltung ausschließlich vom religiösen Probleme beherrscht, das Verlangen nach einer Befreiung vom Leid und Dunkel der Welt und nach einem vollkommenen Leben in Gott verdrängt alle andere Sorge. Die nähere Ausführung dieses Strebens erfährt starken Einfluß vom Judentum: wie der Gottesgedanke sich mehr ins Persönliche gestaltet, so wird auch das Verhältnis zur Gottheit weit inniger, der Begriff des Glaubens erwärmt sich zu dem eines persönlichen Vertrauens. Aber letzthin verbleibt die Herrschaft bei der griechischen Gedankenwelt. Denn den Hauptgegensatz der Wirklichkeit bildet bei Philo nicht der des Guten und Bösen, sondern der des Geistes und Stoffes, des Unsinnlichen und des Sinnlichen, des ewigen Seins und des flüchtigen Werdens; alle sinnlichen Dinge erscheinen ihm als befleckt, und alles als sündig, was immer am Werden teilhat. Das treibt das Verlangen nach Einigung mit der Gottheit auf den Weg der Mystik und der Ekstase, Philo ist »der erste Mystiker und Ekstatiker auf dem Boden spezifisch monotheistischer Frömmigkeit« (Bousset). Solche Erhebung der Seele auf eine weltüberlegene Höhe enthält einen Bruch mit der Weltumgebung und ein Gleichgültigwerden gegen alles, was in ihr vorgeht; so behauptet auch das geschichtliche Leben hier keinen selbständigen Wert. Aber zugleich erweist sich die jüdische Denkart in ausgeprägten Zügen. Wohl versteht auch Philo seine eigene Lehre als eine esoterische, und er richtet sie nicht an die Menge, aber er löst den einzelnen bei weitem nicht mit der Schroffheit der griechischen Denker von der übrigen Menschheit ab, auch in der Scheidung bleibt er auf eine Verbindung bedacht. Da der Mensch nicht in einer Wüste lebt, so verachte er auch die anderen nicht; man hat sich, so meint der Denker, nicht nur um das Sein, sondern auch um den Schein zu kümmern. Weiter findet sich hier der Gedanke einer moralischen Solidarität aller derer, die das gemeinsame Verhältnis zu Gott zu einer Gemeinde verbindet; das Tun und das Leiden des einen kann auch die anderen fördern; der Weise erscheint nicht nur als eine Stütze, sondern auch als eine Sühne, ein Lösegeld ( λύτρον) für die Schlechten. Inmitten der jüdischen Überlieferung aber entdeckt Philo vielfache Andeutungen und Anknüpfungen für die von ihm als höchstes Gut erstrebte mystische Einigung mit Gott. Daß bei dieser alle besonderen Eigenschaften vor der Einheit des reinen Seins verschwinden, das deutet ihm die Forderung des Gesetzes an, der Hohepriester habe beim Eintritt in das Allerheiligste alle Prachtgewänder abzulegen und sich mit einfachem Linnen zu bekleiden. Die Notwendigkeit eines Erlöschens alles bewußten Geisteslebens aber, wenn Gott zum Menschen spricht, verkünden ihm die Worte der Genesis: »Als die Sonne untergegangen war, da erschien Gott dem Abraham«.
Es war aber eine solche Verbindung der verschiedenen Welten nicht erreichbar ohne ein Hilfsmittel, das die Gegensätze milderte und den Zusammenstoß linderte. Das ist die allegorische Deutung der religiösen Überlieferung mit ihrer Überzeugung, daß dem Wortlaut ein geistiger Sinn innewohnt, den erst tiefere Einsicht heraushebt. Dieses Verfahren war keineswegs völlig neu. Schon Plato und Aristoteles hatten es bisweilen verwandt, um ihre Lehren dem Volksglauben anzunähern, und die Stoiker hatten durchgängig den Mythus in dieser Weise behandelt. Wichtiger und folgenreicher aber wurde die Sache da, wo die Religion eine feste Überlieferung und einen geschlossenen Lehrgehalt bot, wo daher ihr Zusammenstoß mit der Philosophie eine ernstliche Spannung erzeugte. Die allegorische Deutung wird nunmehr zum Hauptmittel der Versöhnung, ja mit ihrer Ausgleichung individueller Freiheit und gemeinsamer Ordnung, philosophischer Forschung und geschichtlicher Überlieferung wirkt sie tief auf das Ganze der Lebensstimmung. Der Buchstabe der Überlieferung wird nicht angetastet, er bleibt die unverbrüchliche Norm. Aber die Freiheit der Deutung erlaubt der Philosophie aus ihm alles zu machen, was sie für nötig erachtet; alle Härte und Schwere verschwindet, alle methodische Strenge weicht dem freien Fluge der Phantasie. Indem dabei Gegenwart und Vergangenheit, Zeit und Ewigkeit, Stimmung und Tatbestand unablässig ineinander spielen und sich gegenseitig verwandeln, entsteht ein geheimnisvolles Dämmerlicht, ja eine traumhafte Art des Lebens. Diese weiche und träumerische Art behauptet sich durch das Mittelalter hindurch und hat ihren Zauber noch immer nicht völlig eingebüßt.
Philo wurde oft überschätzt, hüten wir uns ihn zu unterschätzen. Gewiß war er kein Denker ersten Ranges, er schuf kein eigenes Gedankenreich. Innerhalb dieser Schranke aber bedeutet seine Leistung viel. Ohne eine innere Weite und viel seelische Tiefe, auch ohne eine eifrige Lebensarbeit hätte er nicht die beiden Welten umspannen und in fruchtbare Wechselwirkung bringen können, zwischen denen sich damals das geistige Leben bewegte, und die eine bleibende Bedeutung haben; vielleicht ist sein Hauptproblem nur ein Fall eines weiteren Problems, das auch wir nicht abweisen können.
Das Bild des ausgehenden Altertums wäre unvollständig, würde nicht auch der starken Wirkungen gedacht, die um jene Zeit die heidnischen Religionen des Orients auf den Westen übten. Das eigentliche Griechenland ward aus verschiedenen Gründen weniger davon berührt: mit Kleinasien bestand von alters her manche Verbindung und Ausgleichung, dann hatte Griechenland ein eigenes Mysterienwesen ausgebildet, ferner widerstrebte der künstlerische und maßvolle Sinn dieses Volkes der naturalistischen Roheit und dem wilden Ungestüm, den die meisten asiatischen Kulte von Haus aus besaßen und den sie nie ganz überwinden konnten, endlich fand hier das Christentum früh eine weite Verbreitung. Auf die Römer aber wirkten diese Kulte mit voller Frische und Kraft, sie bewältigten die anfänglich widerstrebenden Gemüter um so mehr, je weniger die überkommene Staatsreligion mit ihrer trocknen politischen Zweckmäßigkeit den seelischen Bedürfnissen dieser Zeit genügte. Dabei erfuhren die Religionen selbst bei der Ablösung von ihrer Heimat eine innere Umwandlung, der naturalistische Ausgangspunkt wich zurück, aus den Riten und Kulten hob sich immer mehr ein geistiger Gehalt und eine moralische Wirkung hervor, auch strebten mehr und mehr die verschiedenen Bewegungen zusammen, so daß eine gemeinsame Atmosphäre entstand, ja sich gewisse Züge einer universalen Weltreligion entfalteten. Überall erscheint ein stürmisches Verlangen nach einem neuen Leben, einem engeren Verhältnis zur Gottheit, einer Rettung der Seele zu ewiger Seligkeit, einer dafür notwendigen Entsühnung und sittlichen Läuterung. Solcher Einfluß der orientalischen Religionen auf den Westen Europas beginnt schon im zweiten Jahrhundert v. Chr., er wächst unablässig, er vertieft sich namentlich im zweiten Jahrhundert n. Chr. und erreicht im dritten seine größte Stärke. Die einzelnen Strömungen dieser merkwürdigen Bewegung treten uns namentlich in den ausgezeichneten Forschungen Cumonts sowohl in ihren Unterschieden als in ihrem zeitlichen Nacheinander deutlich vor Augen; ihnen soll unsere Darstellung folgen.
Zuerst wirkte auf den römischen Westen der phrygische Kult der »Großen Mutter«, einer Personifizierung der zeugenden Kraft der Natur; in den Mysterien der Kybele und des Attis, der getötet und wiederbelebt wird, wird der Gläubige zum Miterleben tiefsten Schmerzes und höchster Freude aufgefordert, zugleich aber der Gottheit unvergleichlich inniger verbunden als in der herkömmlichen römischen Religion. »Die Götter des Orients leiden und sterben, um nachher wieder aufzuerstehen« (Cumont). In die Religion der Römer kam damit mehr Sinnlichkeit und mehr Farbenfreude, zugleich auch mehr Aufregung und wilde Leidenschaft.
Zu gleicher Erregung, ja Aufwühlung entgegengesetzter Gefühle, aber in edlerer Form, wirkten etwas später von Ägypten aus die Mysterien der Isis und des Serapis, auch hier der schmerzlichste Verlust und der seligste Wiedergewinn. Hier erhielt nicht nur das Ritual einen besonderen Glanz, sondern es nahm überhaupt die Religion die ganze Seele des Menschen ein, das ganze Leben wurde zur Vorbereitung eines Jenseits, und es gewann dabei der Gedanke der Unsterblichkeit, der Gedanke eines Weiterlebens in vollster Kraft, mit Leib und Seele, eine Eindringlichkeit und eine Anschaulichkeit, wie nie zuvor in der alten Welt.
Dann kam der Einfluß syrischer Kulte, deren Hintergrund das babylonische Weltbild war. Göttliches und Menschliches tritt hier gemäß semitischer Art weiter auseinander, und der Gottheit wird eine schrankenlose Allmacht zuerkannt. Aber zugleich verstärken sich die Ideen der Reinheit und der Heiligkeit; der Unsterblichkeitsgedanke aber verbindet sich hier mit der astronomischen Vorstellung vom Weltgebäude, und die Seligkeit erscheint nun zuerst als ein Aufstieg der Seele nach oben, als eine Erhebung zu lichten Höhen. Auch dahin wirkt die Astronomie, die Welt als ein zusammenhängendes Ganzes zu fassen, dessen einzelne Glieder durch ständige Wechselwirkung verbunden sind. Daraus erwuchs eine Wendung zur Weissagekunst und zum Zauberwesen, aber auch der Gedanke einer Einheit des göttlichen Wesens, als dessen Verkörperung hier die leuchtende Sonne galt.
Zuletzt kam von Persien aus der Mithraskult und drängte gegen den Schluß des Altertums alle anderen Kulte zurück. Den Ausgangspunkt bildete hier ein ethischer Dualismus, der den Menschen zu unablässigem Kampf für den Sieg des Guten aufrief, ihn mit eigenem Handeln an einem großen Weltdrama teilnehmen ließ und sein Wollen in äußerste Spannung versetzte. Da zugleich hier über den endgültigen Sieg des Guten kein Zweifel bestand, ja eine völlige Wiederherstellung aller Dinge verkündigt wurde, so verband sich mit gespannter Tätigkeit eine feste und freudige Zuversicht. Es ist begreiflich, daß eine solche Religion mit ihrer männlichen Art bei den Römern, namentlich in ihren Heeren, leichten Eingang fand und die Gemüter mächtig fortriß.
So setzen diese verschiedenen Religionen den Gesamtumfang des Seelenlebens in starke Bewegung: die ganze Stufenleiter der Gefühle wird erregt, die Sinnlichkeit findet ihr volles Recht, die Phantasie zieht weiteste Kreise, aber auch dem Wollen und Handeln werden hohe Ziele gesteckt; durch alles zusammen wird das menschliche Leben unsichtbaren Zusammenhängen eingefügt, unser Dasein von einem Reiche des Glaubens her beleuchtet und gelenkt. Näher und sicherer als alle Sinnlichkeit war dieser Zeit die übersinnliche Welt als die geistige Heimat des Menschen. Eins jedenfalls lehrt diese Bewegung mit unwidersprechlicher Klarheit: dieses nämlich, daß die Wendung zur Religion, die noch heute so große Macht übt, nicht ein bloßer Überrest dunkler Anfänge ist, sondern daß sie aus eigenen Erfahrungen des geistigen Lebens hervorging und seiner Rettung dienen wollte. Freilich hatte alles, was sich bisher davon zeigte, eine bemessene Grenze: alle gegenseitige Annäherung und alle Verschmelzung der Religionen ergab noch keine allumfassende und durchgebildete Gedankenwelt, mit deren Hilfe die Wendung zur Religion den Menschen wesentlich umgestalten und ihm ein neues Leben eröffnen konnte. Dieses zu leisten blieb dem griechischen Geiste vorbehalten, noch einmal erweist er, nun aber zum letztenmal, in Plotin seine wunderbare Überlegenheit.
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b. Plotin.
α. Einleitendes.
In der ganzen Reihe der großen Denker gibt es keinen, dessen Beurteilung die Geister so sehr entzweit hat und immerfort noch entzweit, als Plotin, das Haupt des Neuplatonismus (204/5-270). So sehr verläuft bei ihm das Große in Angreifbares, ja Verfehltes, daß sich fast überall eine einfache Zustimmung verbietet; auch durchdringt das ganze System ein unausgeglichener Widerspruch, der Widerspruch einer zu schwindelnder Höhe aufklimmenden Abstraktion und eines in sich selbst vertieften Gefühls. Steht daher Plotin, auf die fertige Leistung angesehen, hinter den anderen großen Denkern weit zurück, so wird ihn den Besten zugesellen, wer zu den seine Arbeit treibenden Kräften vordringt und seinen Einfluß auf das Ganze des Lebens verfolgt. Denn alsdann erscheinen oft hinter höchst bedenklichen Sätzen neue und fruchtbare Grundwahrheiten, ja selbst der Irrtum wird bisweilen zum Hebel wertvoller Einsicht. Das Vermögen unmittelbaren Schauens bildet die wahre Größe Plotins, nirgends aber zeigt es sich mehr als bei dem Lebensbilde. Die durchdringende Belebung, die von diesem Denker ausgeht, verdient um so höhere Achtung, je deutlicher die Ungunst der Zeitumgebung vor Augen steht; diese mußte durchgängig den Forscher hemmen und weniger das Wahre und Wertvolle seiner Leistung als das Gewagte und Verfehlte zur Wirkung bringen. Es gibt kein glänzenderes Zeugnis für die Kraft des griechischen Geistes, als daß er sich aus so verworrener und gedrückter Zeit auf solche Höhe der Weltbetrachtung zu erheben vermochte. Auch hat die hier eröffnete Gedankenwelt auf die Menschheit tief gewirkt; vieles entspringt an dieser Stelle und zeigt die volle Frische und Klarheit des Beginns, was durch Jahrtausende die Menschheit bewegt und auch starke Geister bezwungen hat. Namentlich in der Wirkung auf die Lebensstimmung wird Plotin von keinem anderen erreicht, hier bildet er die Grenze zweier Welten.
Geschichtlich angesehen, erscheint seine Arbeit zunächst als eine Weiterführung und Vollendung der weltflüchtigen Bewegung, die, unterstützt durch orientalische Einflüsse, das spätere Altertum immer ausschließlicher einnahm. Aber hier erst wird jene stark genug, um den Kern der Wirklichkeit umzubilden und ein selbständiges Weltbild hervorzubringen. Die Religion selbst wird dabei wesentlich verändert und veredelt. Bis dahin war ihre Hauptsorge das Glück des einzelnen Menschen; um ihn von unerträglicher Not zu voller Seligkeit zu führen, ward eine jenseitige Ordnung zur Hilfe gerufen. Bei Plotin hingegen weicht alles Haften an der Kleinheit und Enge des Individuums einem glühenden Verlangen nach einem neuen Leben aus der Unendlichkeit selbst, aus einem weiteren und echteren Sein. Statt des Menschen wird nunmehr das All oder vielmehr die Gottheit zum beherrschenden Mittelpunkt des Lebens. Zugleich wird alle Kraft dafür eingesetzt, die Kluft zwischen Mensch und Welt, zwischen Subjekt und Objekt zu überwinden, die im späteren Altertum das Denken beherrschte; sie wird überwunden durch ein Versetzen aller Wirklichkeit in eine Innerlichkeit des Geistes, durch ein Umspannen aller Gegensätze mit einem Weltprozeß, der alles aus sich hervortreibt und alles in sich zurücknimmt, inmitten aller Bewegung aber unwandelbar in sich selber ruht.
Plotins Streben geht vornehmlich dahin, durch eine Zusammenfassung und Verinnerlichung aller großen Leistung die griechische Kultur zu befestigen und allem feindlichen Ansturm überlegen zu machen. Was immer dafür dienlich scheint, wird herangezogen, alle irgendwie gesinnungsverwandten Systeme verbinden sich zu gemeinsamem Werk. Das eigentümlich Griechische regt sich wieder mehr, ja manche eigentümlich griechische Überzeugung wird erst hier völlig durchgebildet. Aber bei durchaus veränderter Weltlage und Lebensstimmung wirkt, wie sich zeigen wird, die äußerste Anspannung zur Zerstörung; in stürmischen Bewegungen wird die griechische Art bei den Griechen selbst aufgelöst und durch ihren letzten großen Denker eine neue Epoche eingeleitet. – Das gerade Gegenteil erfährt das Christentum. Zu ihm stand Plotins Bewußtsein feindlich, und sein Angriff war um so bedrohlicher, weil er auf dem Gebiete der eigenen Stärke, in dem der Religion, erfolgte. In Wahrheit verdankt ihm das Christentum die wertvollste Förderung, indem es der Gedankenwelt des Denkers nicht nur im einzelnen vieles entnahm, sondern erst in ihr für seine Innerlichkeit und seine neue Welt eine sicher begründende Tiefe fand. Augustin ausgenommen, hat kein Denker auf das alte Christentum mehr gewirkt als Plotin, die weitere Geschichte des Christentums ist unverständlich ohne den Neuplatonismus. So hat Plotin besonders stark den tragischen Widerspruch des Wollens und des Vollbringens erfahren, den das menschliche Geschick nicht selten zeigt: was er mit Einsetzung seiner ganzen Kraft fördern wollte, hat er zerstört, was er zerstören wollte, gefördert.
β. Die Grundlegung der Weltanschauung.
Plotin strebt mit aller Glut und Kraft über das nächste Dasein hinaus, um jenseits seiner Unstetigkeit und Unlauterkeit Gott und das höchste Gut zu suchen. Der Begriff der Jenseitigkeit wird aufs äußerste gesteigert, besonders die Schule schwelgt in dem Begriff des Überweltlichen, der einem alten Griechen ebenso wunderlich vorkommen mußte, wie einem Christen der eines Übergöttlichen. Der Anschluß an die Zeitstimmung ist unverkennbar, aber was dort eine Sache subjektiven Gefühles, moralisch-religiöser Sehnsucht blieb, das erhält bei Plotin eine feste Begründung durch die Denkarbeit, durch eine wissenschaftliche Lehre vom Kern der Wirklichkeit. In Anknüpfung an Plato, aber das Empfangene weiterführend, entwickelt er die Lehre, daß nur das eigenschaftslos gedachte Sein eine echte Wirklichkeit bildet, das Sein, das gar nichts anderes ist als Sein, das darum allem vorangeht und alles in sich trägt. Jede nähere Bestimmung gilt hier als etwas, das hinzukommt und herabzieht, jeder Schritt zum anschaulichen Dasein scheint vom Grunde der Dinge zu entfernen. Weil unser Denken in seinem Aufsteigen zu immer allgemeineren Größen den Begriff eines völlig eigenschaftslosen Seins zum Schlußpunkt hat, so erscheint hier – als wären die Erzeugnisse des zur Allgemeinheit aufsteigenden Denkens selbständige Wesen – das reine Sein als die Wurzel aller Dinge, der Urbestand aller Wirklichkeit. Zugleich ist klar, daß es sich nur im Gegensatz zur Welt der Erfahrung aufsuchen und begründen läßt.
Da es aber bei solcher Überlegenheit zugleich den echten Kern, den ausschließlichen Grundgehalt der Dinge bilden soll, so entsteht eine verwickelte und widerspruchsvolle Lage. Das unmittelbar Vorhandene ist nicht das wahre Sein der Dinge, vielmehr liegt zwischen Dasein und Wesen ein weiter Abstand, ja eine scheinbar unüberwindliche Kluft; sie kann sich nicht schließen ohne eingreifende Wandlungen des ersten Anblicks der Welt, ohne einen völligen Neubau der Wirklichkeit.
Nun aber wird – das ist ein Hauptgedanke Plotins – das reine Sein der Gottheit gleichgesetzt; zum reinen Sein gelangen, das heißt zugleich die Tiefen der Gottheit gewinnen. So wird die Spekulation zur Religion, und der Sieg der logischen Abstraktion vermag zugleich das Verlangen des glücksdurstigen Gefühls zu stillen. Damit überträgt sich auch der Gegensatz von reinem Sein und bunter Erscheinung in seiner ganzen Schroffheit auf das Verhältnis von Gott und Welt. Einerseits befindet sich Gott in unnahbarer Ferne, jenseits aller Worte und Begriffe; andererseits bildet er, als das allein echte Sein, das Allgegenwärtige und Allernächste, ist er uns in Wahrheit näher als unser eigenes, nur der Erscheinungswelt angehöriges Selbst. So wird die Gottheit zugleich möglichst nahe- und möglichst ferngerückt. Schon das zeigt den unklassischen Charakter dieser Weltanschauung, ihr Schweben zwischen Gegensätzen, die sie nicht überwinden kann, ja kaum überwinden will.
Immerhin kann die Spannung nicht solche Schroffheit behalten, das Verhältnis von Gott und Welt, von Wesen und Dasein fordert irgendwelche Klärung. Plotin möchte nun – den Widerspruch weniger lösend als verbergend – der Welt neben Gott ein gewisses Sein, aber ein geringeres und völlig auf ihn angewiesenes zuerkennen. Er entwickelt in Ausführung einer altgriechischen und echtplatonischen Überzeugung die Lehre, daß wie alles Sein, so vornehmlich das höchste Sein von Natur den Drang enthält, etwas sich Ähnliches zu erzeugen, eine möglichst vollkommene Darstellung seiner selbst hervorzubringen, nicht zu irgendwelchem Zweck, am wenigsten einem selbstischen Zweck, sondern als naturgemäßen Erweis der ihm innewohnenden Güte. Da aber das Erzeugnis den Zeugungsdrang mitempfängt, so pflanzt die Bewegung sich weiter und weiter fort, Stufe fügt sich damit zu Stufe, bis das Nichtsein das Sein zu überwiegen droht und damit der Fortgang ein Ende findet.
Demnach verwandelt sich das All aus einem bloßen Nebeneinander in ein Nacheinander, es entsteht eine Kette des Lebens, ein absteigendes Stufenreich. Jede folgende Stufe ist geringer als die frühere, denn – so meint Plotin mit den meisten griechischen Denkern – das Vollkommene kann nicht aus dem Unvollkommenen stammen, das Abbild das Urbild nie ganz erreichen, stets geht das Höhere dem Niederen voran. Aber alle spätere Bildung bleibt in Zusammenhang mit dem göttlichen Ursprung; was irgend wirklich, das ist guter, ja göttlicher Art. Das Niedere strebt aber kraft solcher inneren Verwandtschaft mit dem Höheren zum Ursprung zurück; so geht auch von ihm eine Bewegung durch das All, so daß ein Kreislauf des Geschehens die ganze Wirklichkeit umschlingt. Diese Bewegung ist nicht zeitlicher Art, nicht ein Nacheinander der einzelnen Stufen, sondern eine zeitlose Folge des Wesens und Wertes, ein ewiges Werden der Welt aus Gott. Eine Verschiedenheit der Zeiten besteht nur insofern, als Plotin – mit fast allen griechischen Philosophen – im Gebiet der Erscheinung eine unendliche Reihe gleichartiger Weltperioden lehrt. Jenseits alles Wechsels aber beharrt, selbst unbewegt, obschon aller Bewegung Quell, in weltüberlegener Hoheit das ewige Sein. Mannigfache Bilder aus der sinnlichen Welt möchten begreiflich machen, wie alles gänzlich an dem Einen hängt und doch die Vielheit eine gewisse Selbständigkeit bewahrt, wie das Ursein alle Fülle des Lebens erzeugt, ohne dabei sich selbst zu verlassen. Vornehmlich dient diesem neuen Gedanken das alte Lieblingsbild der griechischen Denker: das Licht, das bei sich verbleibt und zugleich die Welt durchleuchtet, das aber im Ausstrahlen nach und nach kraftloser wird; auch die Vorstellung vom Ausfließen aus einem Quell, sowie vom Hervorgehen aus dem Samen wird gern zur Erläuterung verwandt. Mögen diese Bilder den Widerspruch der Sache kaum verdecken, sie alle vertreten die Überzeugung, daß das Alleben mit innerer Notwendigkeit verläuft, kein Werk freien Handelns und bewußter Überlegung bildet, auch daß der Weltprozeß nichts will und nichts bedeutet außer der eigenen Bewegung, dem eigenen Sein.
In solchen Bildern und Lehren erscheint ein sehnliches Verlangen nach Unterordnung aller Mannigfaltigkeit unter eine beherrschende Einheit, nach Erhöhung des menschlichen Daseins zu einem kosmischen, ja göttlichen Leben; die kräftige Durchführung dessen bedeutet eine Wendung weltgeschichtlicher Art. Einen festen Zusammenhang der Wirklichkeit hatte die griechische Philosophie von jeher gelehrt und dem Menschen eine Einfügung in das All geboten. Aber das Teilhaben an der Welt war noch kein Besitzen der Welt, im tiefsten Grunde führte der einzelne sein besonderes Leben. Jetzt aber wird eine allumfassende, alldurchdringende Einheit zur Quelle des gesamten Lebens, jeder Punkt wird innerlich damit verbunden, alles Einzelwesen hat daraus zu schöpfen; sich davon absondern heißt völliger Nichtigkeit verfallen. So werden die engen Kreise gesprengt, ein einziges Alleben durchflutet die unermeßliche Weite. Es ist aber dies Alleben ganz und gar göttlicher Art; mögen wir das Gute jenseits der Welt, mögen wir es in ihr suchen, immer kommen wir auf Gott, alle verschiedenen Lebensbahnen sind nur verschiedene Wege zu Gott, in allen besonderen Gebieten hat Wert nur ihr Zeugnis von Gott.
So entsteht hier zuerst eine religiöse Lebensführung auf philosophischem Grunde, eine religiöse Gedankenwelt, ein religiöses Kultursystem. Es scheidet sich aber das Leben in zwei Hauptäste gemäß der Überzeugung, daß das göttliche Wesen in zwiefacher Art wirksam und zugänglich ist: unmittelbar in weltüberlegener Hoheit, mittelbar im ganzen All nach den Graden seiner Abstufung. Daraus ergeben sich verschiedene, wenn auch verwandte Wirklichkeiten und Lebensformen. Das Suchen der Gottheit in der Welt folgt der Idee einer durchgehenden Ordnung und Abstufung. Jedes Einzelwesen hat seine feste Stelle, an dieser und nur an dieser empfängt es seinen Anteil am wesenhaften Sein und am vollkommenen Leben; es empfängt dies Leben durch eine Mitteilung der nächsthöheren Stufe, um es von sich aus weiterzuleiten, es vermag nichts, ja es ist nichts außer diesem Zusammenhange. Das ist der philosophische Grundgedanke der Hierarchie, aber auch der Ursprung eines großartigen künstlerischen Weltbilds, bei dem »die Kräfte auf- und niedersteigen und sich die goldenen Eimer reichen«.
Gegenüber dieser Gedankenrichtung wirkt die andere der unmittelbaren Eröffnung Gottes jenseits der Welt der Vielheit in einem Reiche, wo alles Abbild aufhört und das Urbild alles ist. Erst in solcher Weltüberlegenheit offenbart sich der tiefste Grund des Seins und die Fülle der Seligkeit. Mit der Mannigfaltigkeit verschwindet auch alle Vermittlung, unmittelbar ist Gott hier alles in allem. Das ist die Welt der Mystik, ein Gegenstück sowohl als eine Ergänzung der hierarchischen Ordnung.
γ. Der nähere Inhalt von Welt und Menschenleben.
Die nähere Ausführung der Welt Plotins enthält verschiedene Gedankenreihen, die sich ganz kaum entwirren lassen. Zunächst folgt er den Bahnen des Platonismus, indem er in Stoff und Form den Hauptgegensatz der Welt und im Bilden und Gestalten den Kern des Lebens erblickt. Auch hier behauptet sich damit die künstlerische Denkart des Griechentums und die weltbeherrschende Macht der Schönheit. Eine echtgriechische Überzeugung bekunden die Worte Plotins: »Das Häßliche ist Gott wie der Natur fremd und feindlich.« Aber zugleich erfüllt ihn ein tiefer Widerwille gegen den sinnlichen Stoff, der uns fesselt und herabzieht. Er gilt als gänzlich vernunftlos und aller Gestaltung bar, als etwas Rohes und Tierisches; er scheint – in einem Nachklang der alten Lehre vom Chaos – ein Erzeugnis einer uranfänglichen, ungöttliche Natur. Ein solcher Stoff hat keinen Platz in einer gotterfüllten Welt; so zerreißt der Zusammenhang der Wirklichkeit, und es entstehen zwei Welten, die eine der bei sich selbst befindlichen, reingeistigen Innerlichkeit, die andere des in den Stoff gesunkenen und der Sinnlichkeit verketteten niederen Seelenlebens. Zugleich wird zur Pflicht, beide Welten mit denkbarster Schärfe zu scheiden. Das Sinnliche dünkt nicht etwa in besonderen Arten und Auswüchsen, sondern mit seinem ganzen Wesen und in jeder Gestalt verwerflich; die Sinnlichkeit als solche wird zur drückenden Hemmung und Last. Die Weltflucht, d. h. die Flucht aus dem sinnlichen Dasein, läßt sich nicht tiefer begründen, als es hier geschehen ist. Aber Plotin bleibt viel zu sehr Grieche und Künstler, um mit der Sinnlichkeit allen und jeden Stoff und zugleich die Darstellung der Form im Stoffe aufzugeben. So wird ein Begriff des Stoffes von allem Sinnlichen abgelöst und in die unsinnliche Welt aufgenommen. Auch sie enthält einen Gegensatz von Formgeben und Formempfangen; der »intelligible« Stoff bezeichnet das noch Unbestimmte, die bloße Möglichkeit, welche die nähere Gestaltung erst erwartet. So flüchtet sich hier mit den anderen Idealen der griechischen Welt auch das künstlerische Bilden in ein übersinnliches Reich.
Je schärfer sich aber eine höhere Welt von dem groben und dunklen Stoffe scheidet, desto reiner entwickelt sie den Charakter reiner Geistigkeit. Die Einmengung sinnlicher Vorstellungen, welche die klassischen Systeme durchdringt, wird hier, wenn auch nicht ganz überwunden, so doch sehr gemindert; es arbeiten sich Begriffe heraus, die oft als der Neuzeit eigentümlich gelten, so der Begriff des reinen Beisichseins der Seele und ihrer strengen, aller Zusammensetzung überlegenen Einheit. Dem verschärften Begriff des Geisteslebens entspricht eine vollere Unabhängigkeit, ja die Erhöhung zu einer eigenen Welt. Die Innerlichkeit bedeutet nicht mehr einen besonderen Kreis neben den übrigen Dingen, sondern mit überlegener Kraft zieht sie alles an sich und wächst zu einer vollen, selbstgenugsamen Wirklichkeit. Zugleich beginnt eine Verschiebung aller Größen ins Unsinnliche, Lebendige, Innerliche. Hier wird es voller Ernst mit der Verwandlung der Ideen in reingeistige Größen, die Zeit gilt als ein Erzeugnis der an sich zeitlosen Seele, auch der Raum scheint vom Geist aus entworfen. Nun ist der Lebensprozeß nicht mehr wie früher ein Verkehren mit einer draußenbefindlichen, wenn auch wesensverwandten Wirklichkeit, er wird eine Bewegung völlig innerhalb des Geistes. Im Innern liegen seine Aufgaben und seine Leistungen, hier beginnt und hier endet sein Wirken.
Mit solcher Umwandlung entwächst das Innenleben der nächsten seelischen Lebensform, zum Reich des Bewußten gesellen sich die Reiche des Überbewußten und des Unterbewußten. So entstehen die drei Gebiete des Geistes, der Seele, der Natur, sie alle Stufen des weltbildenden Innenlebens. Das Niedere wird dabei vom Höheren umfaßt und getragen, die Natur von der Seele, die Seele vom Geist, der Geist vom göttlichen Sein. Daher befindet sich nicht die Seele im Leibe, sondern der Leib in der Seele.
Über den allgemeinen Begriff des Innenlebens aber drängt es Plotin hinaus zu einer allesbeherrschenden Haupttätigkeit. Er findet sie mit der altgriechischen Überzeugung im Denken und Erkennen. Ja, erst er entwickelt diese in ihre äußerste Konsequenz, indem er alles geistige Sein auf das Denken zurückführt und auch die Stufen des Alls in Stufen des Denkens verwandelt. Wohl unterscheidet auch Plotin mit Aristoteles drei Haupttätigkeiten: Erkennen ( θεωρεῖν), Handeln (πράττειν), künstlerisches Schaffen ( ποιεῖν). Aber ein wahrhaftiges Leben gewährt nach ihm nur das Denken, das Schaffen ist von diesem untrennbar, da es darin sein Wesen hat, ein Sein mit Gedanken zu erfüllen; das Handeln dagegen wird tief herabgesetzt. Nur als Anwendung der Theorie hat es einigen Wert, sonst ist es ein bloßer Schatten, mit dem sich befassen mag, wer zur Theorie nicht taugt. Aber dieser Anspruch auf eine volle Selbstherrlichkeit verwickelt das Denken in die gefährlichste innere Krise. Um allein auf sich selbst zu stehen und aus eigenem Vermögen Wahrheit zu schöpfen, muß es ganz und gar den Gegenstand an sich ziehen, darf es zwischen sich und ihm nicht den mindesten Abstand dulden. Daher genügt nicht mehr die Vorstellung der klassischen Zeit von einer Wesensverwandtschaft zwischen Denken und Sein, da sie die Einheit nicht hinreichend sichert und die Spaltung nicht völlig aufhebt. Letzthin darf das Denken den Gegenstand gar nicht von sich selbst unterscheiden und ihn sich als etwas anderes entgegensetzen, es muß unmittelbar und ganz mit ihm zusammenfallen. Ist es dann aber noch ein gegenständliches Erkennen im alten Sinne? In Wahrheit verliert es mit der Aufhebung alles Unterschiedes von Erkennendem und Erkanntem alle deutliche Abgrenzung, alle klare Form, allen greifbaren Inhalt; als unmittelbare Einigung mit den Dingen schlägt es um in ein Wogen und Wallen der Seele, ein formloses Fühlen, eine unfaßbare Stimmung. So zerstört der Intellektualismus in seiner Überspannung sich selbst. Sahen wir vorher das künstlerische Ideal sich zu einem übersinnlichen Reiche flüchten, so kann das Erkennen sich hier nur halten, indem es aufhört, eigentliches Erkennen zu sein. Demnach treibt die veränderte Weltlage das griechische Leben dazu, seine eigenen Voraussetzungen aufzugeben und die Zusammenhänge zu zerstören, aus denen es erwachsen war. Mag es inmitten der Auflösung auf neue Bahnen führen und noch im Untergange seine Größe erweisen, das Eigentümliche der antiken Lebensführung, ihre Klarheit und ihre Plastik ist aufgegeben; auf dem eigenen Boden der griechischen Philosophie steigt das moderne Ideal freischwebender Stimmung auf.
Was aber bedeutet in diesem All der Mensch, und welche Aufgabe hat sein Leben? Er erhält hier kein besonderes Gebiet und keine eigentümliche Arbeit zugewiesen; das Leben mit seinesgleichen, der gesellschaftliche Kreis, wird ganz zurückgestellt. Unser Dasein empfängt seinen Inhalt gänzlich vom All und hängt völlig am Geschick des Ganzen; das aber gibt dem Menschen eine eigentümliche Größe, daß er die Unendlichkeit des Alls mit allen Stufen und Bewegungen innerlich mitzuerleben vermag. Er heißt ein »Mikrokosmos« in einem weit ausgeprägteren Sinne als bei den älteren Forschern. Denn früher, z. B. bei Aristoteles, besagte jener Ausdruck nicht mehr als ein Teilhaben des Menschen an allen Elementen und Kräften der Welt; jetzt dagegen bezeichnet er unser Vermögen, das ganze All innerlich aufzunehmen und als unser eigenes Selbst zu besitzen. Das ergibt eine unvergleichlich höhere Schätzung unserer Seele. Sie ist gleichen Wesens mit Gott ( ὁμοούσιος), derselbe Ausdruck, den das christliche Dogma für Christus verwendet) und daher ewiger und unbegrenzter Natur. »Die Seele ist vieles und alles, sowohl was oben als was unten ist, soweit sich das Leben erstreckt.« Und wir sind jeder ein selbständiges Gedankenreich, eine »intelligible« Welt (κόσμος νοητός). Nahe liegt hier der moderne Gedanke einer Entwicklung individuell verschiedener Welten und damit eines unvergleichlichen Wertes des einzelnen Individuums, um so mehr, da Plotin die Verschiedenheit aller einzelnen innerhalb eines großen Weltjahres lehrt. Aber er ist viel zu erfüllt und entzückt von dem Gedanken, daß jeder von uns das unermeßliche All als Eigenbesitz erlebt, um der Verschiedenheit der Individuen nachzugehen. Sie hätte auch leicht einen Widerspruch mit seiner Grundüberzeugung von der alleinigen Realität des Allgemeinen ergeben.
Mit dem All teilt der Mensch den Gegensatz eines reingeistigen und eines zur Sinnlichkeit gesunkenen Seins. Unsere Seele ist von der reinen Geistigkeit abgefallen und mit einem Körper behaftet; das verstrickt sie in alle Dunkelheiten und Mühen der Sinnlichkeit, durch eine Reihe von Geburten muß sie wandern und wandern, bis eine völlige Läuterung sie zur Ideenwelt zurückführt. So wird zur ersten Aufgabe und zur Grundbedingung alles weiteren Tuns die Ablösung von der Sinnlichkeit; es gilt eine ernste und schwere Arbeit, eine Ausrottung alles dessen, was dem sinnlichen Dasein verkettet, eine gänzliche Zurückziehung auf das geistige Selbst. – In der Ausführung dessen fehlen Anweisungen im Sinne der gewöhnlichen Askese nicht: wir sollen den Körper schwächen und niederdrücken, um damit zu erweisen, daß unser Selbst etwas anderes ist als die Außendinge. Aber durchgängig behandelt Plotin die Aufgabe in dem großen Sinne eines Mannes, der nicht auf dem Einzelnen und Äußeren besteht, weil ihm alles am Ganzen und Innern liegt. Was er verlangt, ist eine Reinigung ( κάθαρσις) des Wesens, eine Abwendung alles Begehrens vom Äußeren, eine gänzliche Wendung des Willens nach innen. Unterliegen wir ja nicht den Eindrücken der Umgebung, sondern nehmen wir gleichgültig hin, was das Schicksal uns auferlegt, parieren wir in stolzer Erhebung über die bloße Natur und den kläglichen Stand der Menge wie tüchtige Athleten alle Schicksalsschläge! – Solche Ablösung vom Stofflichen und von allem äußeren Ergehen ist zugleich ein Eintritt in das Reich der Freiheit. Denn nicht weiter reicht unsere Abhängigkeit als die Verstrickung in das sinnliche Dasein mit seiner dunklen Notwendigkeit; es steht bei uns, jenes ganze Gebiet zu verlassen und in der übersinnlichen Welt volle Freiheit zu finden.
Eine solche Überzeugung bindet das Wirken in keiner Weise an die Umgebung, das Äußere hat hier weder anzuregen und vorzubereiten, noch zu bestätigen und weiterzuführen; der aristotelische Gedanke, daß das Innere zu seiner Vollendung der Darstellung nach außen bedarf, ist völlig aufgegeben. Hier entsteht keine Lebenserfahrung mit einem Eingehen in den Gegenstand und einer Weiterbildung durch ihn, keine Schätzung der Arbeit mit ihrer engen Verflechtung von Sache und Tätigkeit. Vielmehr liegt alles an der reinen Innerlichkeit, an einem Leben und Weben weltumfassender Geistigkeit. So droht die innerste Seele des Lebens sich von aller Kulturarbeit abzusondern, diese als nebensächlich, ja gleichgültig zu behandeln, selbst aber in der Ablösung alle deutliche Gestalt einzubüßen. Solche Spaltung hat viel Schaden gestiftet. Aber im Gange der Geschichte war sie wohl nicht zu entbehren. Denn ohne jene Scheidung hätte das Innere schwerlich eine volle Selbständigkeit und die Erweiterung zu einer Innenwelt erreicht, auch der Mensch sich nicht von der Gebundenheit an die Umgebung zu voller Freiheit des Lebens erhoben.
Es erlangt aber die auf sich selbst gestellte Innerlichkeit eine Aufgabe und einen Inhalt in dem allmählichen Vordringen zu immer einheitlicherer Erfassung der Dinge; es ergibt sich eine Mannigfaltigkeit, indem die Hauptreiche der Wirklichkeit zu Stufen des Lebens werden und vom Menschen ein Aufsteigen fordern. Durch alle Stufen geht der Zug ins Weite, Ganze, Grenzenlose; alles drängt zur Entwicklung einer freischwebenden Stimmung, zugleich aber zum Bruch mit der an den Gegenstand gebundenen Tätigkeit, mit den festen Abgrenzungen und plastischen Maßverhältnissen des klassischen Lebensideals. Durchlaufen wir rasch die Stufen dieser Bewegung.
δ. Die Stufen und Zweige des geistigen Schaffens.
Die niederste Stufe des Innenlebens bildet die Natur. Denn nach Plotin gibt auch der Außenwelt alle Gestalt und alles Leben die Seele, indem sie als bildende Kraft im dem Stoffe wirkt, ja, der Naturprozeß ist im Grunde ein Seelenleben niederer Art, ein Schlummerstand des Geistes, ein traumhaftes Sichanschauen der Seele des Alls. Bedeutet aber die Natur kein selbständiges Reich mit eigenen Kräften und Gesetzen, so liegt der Gedanke nahe, sie vom Innenleben her zu bewegen und nach den Zwecken des vernünftigen Wesens zu lenken. Zugleich gestattet, so scheint es, die Idee eines inneren Weltzusammenhanges, einer gegenseitigen Sympathie aller Dinge, wie schon die Stoa sie vertrat, von dem Ergehen der einen Stelle auf das der anderen zu schließen, d. h. zu weissagen. Denn »voll ist alles von Zeichen, und weise ist, wer aus dem einen das andere lernt«.
Der Zusammenhang mit der älteren Naturauffassung ist hier ebenso deutlich wie eine beträchtliche und bedenkliche Verschiebung unverkennbar. Auch dort erhielt die Natur eine Beseelung, aber das Stoffliche behauptete daneben ein eigenes Vermögen, und die außermenschliche Natur blieb selbständig gegenüber unserem Seelenleben; jetzt dagegen liegt alles an der Seele, und die Zusammengehörigkeit der Dinge verwischt alle Grenzen der einzelnen Kreise. Dort war die Naturauffassung künstlerisch, hier wird sie mystisch und bald auch magisch. Mit einem Glauben an die Magie umflutete die damalige Zeit Plotin, er selbst gibt jener einen tieferen Sinn und hält sie frei von bloßer Zauberei, ihm bedeutet »die wahre Magie die Liebe im All und der Streit«. Aber die philosophische Vertiefung des Grundgedankens war zugleich eine Befestigung, unsinnigstem Aberglauben ward damit die Bahn geöffnet.
Frei über dem Stoff steht bei Plotin mit eigenem Fürsichsein das Seelenleben. Die Art, wie der Denker mit überzeugenden Gründen als seine Hauptzüge Einheitlichkeit und Selbsttätigkeit dartut, hat Folgen auch für das Handeln: das Seelenleben trägt in sich selbst seine Kraft und auch seine Verantwortung; es wird nicht von draußen getrieben, sondern entscheidet aus eigenem Vermögen.
Wenn Plotin von der Seele den Geist als eine andere und höhere Stufe abhebt, so folgt er einer breiten Strömung seiner Zeit. Aber was sonst in vagem Umriß blieb, das wird jetzt genauer gefaßt und tiefer begründet. Dem Seelenleben im engeren Sinne ist eigentümlich das Bewußtsein mit seinem tastenden Suchen und mühsamen Überlegen. Unmöglich kann aber dies den Kern des Innenlebens und den Quell der Wahrheit bilden, eine ursprünglichere Welt muß hinter ihm wirken. Denn was dort geschieht, setzt immer einen tieferen Grund voraus: wenn wir über uns denken, so finden wir immer schon eine denkende, nur gleichsam ruhende Natur; wir könnten Vernunft nicht suchen ohne Vernunft schon zu besitzen. Die Reflexion scheidet, was zusammengehört, sie kann leicht in Irrtum geraten. Zu festen Zusammenhängen und sicheren Wahrheiten führt nicht sie, sondern nur ein schaffendes Denken. So sei ein Beisichselbstsein des Geistes, ein wesenhaftes Geistesleben über das Bewußtsein der Individuen hinausgehoben. Jenes Leben vollbringt alles Schaffen, es erzeugt alles Streben zum Wahren, Guten und Schönen, alles Verlangen des Menschen nach Göttlichkeit. Sehen wir nun, wie diese Hauptrichtungen der geistigen Tätigkeit sich auf dem neuen Boden gestalten.
Die Erkenntnis kann nach Plotin nicht ein Aneignen draußen befindlicher Dinge sein und nicht durch die Mitteilung solcher entstehen. So sie fassen, das heißt auf echtes Wissen verzichten. Denn dabei erhielten wir bloße Bilder, ohne je ermitteln zu können, wie weit sie den Dingen entsprechen. Mögen im sinnlichen Gebiet mit seinem unauflösbaren Dunkel die Gegenstände dem Erkennen vorangehen, im geistigen Reich muß der Vorwurf aus der Denktätigkeit selbst entspringen, Denken und Sein gehören hier untrennbar zusammen. Das aber ist nur möglich, wenn das Denken nichts anderes erkennt als sich selbst, wenn es zur Selbsterkenntnis des denkenden Geistes wird. Der Fortgang des Erkennens wird dann zur Abstreifung alles Fremden, zur Zurückziehung des Denkens aus der bunten Fülle der Erscheinungswelt auf sein eigenes innerstes Wesen. So gestaltet sich die Wissenschaft mehr und mehr zu einer Heraushebung der Grundformen des Denkens, sie wird eine selbstgenugsame, alles Stoffliche ablehnende Logik. Es gibt hier keine Auseinandersetzung mit der Umgebung und keine Weiterbildung durch die Erfahrung, ebensowenig einen Ausbau einzelner Wissenschaften.
In verwandter Gesinnung erhebt Plotin auch das Gute sowohl über alle Bindung an etwas Äußeres als über alles subjektive Behagen, um es ganz und gar in eine sich selbst angehörige, vom absoluten Leben erfüllte Geistestätigkeit zu setzen. Zunächst wird der Lust alle Selbständigkeit abgesprochen. Die Lust ist immer Lust an etwas und muß daher in einem Gegenstande begründet sein. Der subjektive Zustand folgt dem Gehalt des Lebens, nicht das Streben erzeugt das Gut, sondern das Gut das Streben. Tüchtigkeit und Glück bedürfen keiner Spieglung in unserem Bewußtsein. Wie man gesund und schön bleibt, auch wenn man nicht daran denkt, so braucht man sich auch die Weisheit und Tugend nicht immer ausdrücklich vorzuhalten. Je mehr unsere Tätigkeit sich vertieft, und je enger das Ergehen sich unserem eigenen Wesen verbindet, desto mehr verblaßt, ja verschwindet die Empfindung von Lust und Leid. Denn nur das Fremde empfinden wir als etwas Besonderes, nicht uns selbst und unser Eigentum. So gehört zu voller Selbständigkeit eine Befreiung von der Macht der Lust.
Der altgriechischen Bindung des Glückes an die Tätigkeit bleibt auch Plotin getreu, aber wir sahen ihn die Tätigkeit nicht als ein Wirken zur Umgebung und als eine sichtbare Leistung verstehen. So bedarf es nach seiner Überzeugung zur Vollendung der Tugend keiner Erweisung nach außen, sonst müßten wir wünschen, daß Ungerechtigkeit, Not und Krieg entstünden, um uns als gerecht, freigebig, tapfer erweisen zu können. In Wahrheit bildet das innere Verhalten, die lebendige Gesinnung eine volle, unablässig wirksame Tätigkeit. Wiederum droht die äußerste Konsequenz einer Überzeugung ihren Anfangsstand zu vernichten. Der kräftige Lebensmut der Griechen erwartete alles Glück von der Tätigkeit. Aber je härter die Widerstände des Lebens wurden, desto weiter mußte die Tätigkeit sich zurückverlegen, bis sie jetzt alle Beziehung zur Umgebung aufgibt und lediglich eine innere Bewegung des Wesens, bei sich selbst befindliche Gesinnung wird. Jetzt hat sie kein anderes Ziel als die Erfassung des absoluten Seins, die Wesenseinigung mit Gott; sie macht gleichgültig gegen die sichtbare Welt und einsam gegen die menschliche Gesellschaft. Auch fehlt aller Drang, die Verhältnisse umzuwandeln, den Stand unsers Daseins zu heben. So schwebt auch die Idee des Guten hier in weltferner Höhe über der praktischen Arbeit.
Nirgends jedoch ist die Wandlung so augenscheinlich wie beim Schönen. Eine überwiegend geistige Art hatte diesem schon Plato zuerkannt, in die nähere Ausführung aber war ihm viel Sinnliches eingeflossen. Erst Plotin setzt jene Geistigkeit völlig durch und gibt zugleich dem Schönen eine neue Fassung. Es kann nicht in dem Gleichmaß (συµµετρία) liegen, worin es gewöhnlich gesucht war. Denn dann könnte schön nur etwas Zusammengesetztes sein; nun aber gefällt selbst im Sinnlichen Einfaches, wie das Sonnenlicht, das Gold und die Sterne; auf geistigem Gebiet aber verlieren die Maßverhältnisse alle Bedeutung. In Wahrheit besteht das Schöne in dem Siegen des Höheren über das Niedere, der Idee über den Stoff, der Seele über den Körper, der Vernunft und des Guten über die Seele; Häßliches aber entsteht da, wo das Niedere sich behauptet und der Stoff die Idee erdrückt. Bei solcher Fassung ruht das Schöne auf dem Guten, als dem herrschenden Wertbegriff, und darf sich nicht von ihm trennen. Die äußere Erscheinung hingegen wird zur Nebensache, das Schöne entsteht nicht durch die Verbindung von Innerem und Äußerem, sondern lediglich aus dem Inneren und für das Innere. Das künstlerische Schaffen versenkt sich nicht in den Stein, sondern es bleibt bei sich selbst und geht von Seele zu Seele; das äußere Werk, die sichtbare Leistung, ist nur ein Abbild, eine Spur der inneren Schöpfung im Geist des Künstlers und daher notwendig geringer. Bei solchem Vorrang der inneren Tätigkeit kann die Kunst nicht mehr eine Nachahmung der Natur bedeuten. Vielmehr heißt es, daß die Natur selbst etwas Höheres nachahmt, und daß die Kunst bei ihr nicht die sinnliche Gestalt, sondern die in dieser wirksame Vernunft darstellt, vor allem aber, daß sie kraft der innerlich gegenwärtigen Schönheit vieles aus eigenem Vermögen hinzutut, sowie Mängel ergänzt. Hier zuerst erscheint die Überzeugung, daß die Kunst gegenüber der nächsten Welt eine neue Wirklichkeit aufbaut. Aber solche Anerkennung einer höheren Art hat Plotin nicht zu genauerer Befassung mit dem Schaffen der Kunst getrieben. Auch beim Schönen geht sein Streben viel zu ausschließlich auf das Verhältnis des Menschen zum All, als daß der Ausbau eines besonderen Gebietes ihn reizen und fesseln könnte. Wie die Wahrheit jenseit der Wissenschaft, das Gute jenseit des Handelns, so droht die Schönheit jenseit der Kunst zu verharren.
Demnach erscheint auf allen Gebieten eine Ablösung der Seele von der Bindung an Gegenstände, eine durchdringende Verinnerlichung alles Wirkens und Schaffens. Aus einem Stück der Welt wird das Geistesleben zum alleinigen Träger der Wirklichkeit. Aber bei solcher Befreiung verbleibt es zunächst in ferner Jenseitigkeit, es ist eine vollkommen reine Form, aber eine Form ohne alle nähere Bestimmung, ohne allen greifbaren Gehalt. Wohl geht durch alle Betätigung ein gewaltiges, wesenbewegendes Streben zur Höhe, aber die Höhe ist von der Welt der Erfahrung völlig geschieden; scheinbar von aller Schwere befreit, schweben die Gebilde wie nebelhafte Schatten über dem Stande des Menschen. Alle Farben verblassen, alle Umrisse verschwimmen in diesem Schweben und Weben. Auf so überragender Höhe aber drängt es notwendig zum letzten Schritt, zur Wendung aus dem ganzen Reich der mittelbaren Erweisung zu einem unmittelbaren Erfassen des absoluten Wesens, zu völliger Versenkung in Gott.
ε. Die Einigung mit Gott.
Die Aufgabe, Gott bei sich selbst zu finden, bildet in dieser Gedankenwelt die weitüberlegene Höhe des Lebens. Weist doch dahin alle Offenbarung im Weltall wie das Abbild auf das Urbild zurück, gilt es doch dort unmittelbar und als Ganzes zu erreichen, was sonst nur durch Vermittlung und stückweise zugänglich ist, den Herrn des Hauses zu sehen, nicht das bloße Gerät. So erklärt sich leicht, daß an dieser Stelle das Gemütsleben Plotins, das sonst mehr verhalten die Arbeit begleitet, überschwenglich aufwallt und mit flammender Glut alle Darstellung durchdringt. Jene Wendung bedeutet ebenso eine Rückkehr zu uns selbst wie einen völligen Abbruch alles bisherigen Tuns. Was wir suchen, ist keineswegs fern, und es liegt nicht viel zwischen ihm und uns; ist es doch unser eigenes, bisher entfremdetes Wesen, das wir suchen, vollziehen wir doch eine Rückkehr in das wahre, glückselige Vaterland. Aber da wir uns an Fremdes verloren hatten, so bedarf es einer völligen Wandlung, einer inneren Umwälzung; das Neue entwächst nicht allmählich dem Alten, es bricht unvermittelt wie eine Offenbarung, ein Wunder hervor. »Dann darf man glauben, jenes erblickt zu haben, wenn die Seele plötzlich Licht empfängt«. Statt rastlos weiterzustreben, gilt es hier ruhig zu warten. »Man muß in Ruhe bleiben, bis es erscheint, und sich schauend verhalten, wie das Auge den Aufgang der Sonne erwartet.« Ja, das äußere Auge muß schließen, wer ein Gesicht für die Innenwelt gewinnen will.
Darüber aber, was die unmittelbare Anschauung des göttlichen Seins gewährt, können Begriffe nichts vermelden, sie übermitteln höchstens, was jenes Sein nicht ist, alle weitere Aussage ist nicht mehr als ein bloßes Gleichnis. Auch von dem Stande der Erhebung, des Außersichseins, der »Ekstase«, können nur Bilder einige Vorstellung geben. Sie vertreten namentlich zweierlei: die Entrückung über den gewöhnlichen Lebensstand und das völlige Einswerden mit dem Allwesen; jenes geschieht, wenn von einem gänzlichen Schweigen, einem Vergessen aller Dinge, einer vollen Einsamkeit usw. gesprochen wird; dieses, wenn es heißt, daß das Auge selbst nun Licht geworden ist, oder wenn der Denker, als könne der Gesichtssinn die volle Einigung nicht zur Genüge bezeichnen, zu Ausdrücken vom Tastsinn (Berühren, Fühlen, Betasten) greift.
Das im Grunde allen Begriffen überlegene göttliche Wesen läßt sich aber etwas näher bringen durch die Ideen des Einen und des Guten. Der strenge Begriff der Einheit, der die Einheit der bloßen Zahl weit übersteigt, verbietet alle und jede Unterscheidung innerhalb des höchsten Seins. Daraus wird gefolgert, daß jenes Sein sich auch nicht von sich selbst unterscheiden könne; es kann daher kein Selbstbewußtsein besitzen, keine Persönlichkeit sein. Die unpersönliche Fassung des Geisteslebens, die von Anfang her in der griechischen Philosophie überwog, die aber meist durch irgendwelches Gegengewicht gemildert wurde, erhält zum Schluß den stärksten Ausdruck. Freilich nur im Begriffe. Denn jenes eigenschaftslose Sein wird in Wahrheit immerfort mit einem Innenleben ausgestattet, das unpersönliche Wesen verwandelt sich unvermerkt in eine allbelebende Gottheit, das Aufgehen in die Unendlichkeit in eine völlige Hingebung des Gemütes an die höchste Vollkommenheit, das spekulative Denken in tiefinnerliche Religion. Auch verbindet Plotin unbedenklich mit dem absoluten Sein die Idee des Guten, eine möglichst unpersönliche Fassung des Guten versteckt einigermaßen das Wagnis dieser Wendung.
Aber alle Probleme und Widersprüche haben Plotin in der vollen Hingebung an jenes höchste Sein nicht gestört. Wie der Stand der Einigung alles andere Leben unvergleichlich überragt, so tut es auch das von ihm gebotene Glück. Der Besitz des ganzen Weltalls wiegt dieses Glück nicht auf, aller menschliche Erfolg verschwindet ihm gegenüber. Der Denker schwelgt in dem Gedanken einer ausschließlichen Zurückziehung auf die weltüberlegene Einheit, die zugleich alle Wirklichkeit in sich trägt; hier zuerst zeigt im Abendlande jener Gedanke die gewaltige Macht über das menschliche Gemüt, die er später oft bewährt hat und immer neu zu bewähren vermag. Zu so hohem Ziel die Menschen zu erwecken, das wird jetzt das Hauptwerk der Philosophie. Aber bei einer Aufgabe, die so sehr das ganze Wesen fordert, kann sie den Weg uns nur zeigen, gehen, muß ihn ein jeder selbst aus eigener Wahl und Entscheidung. »Bis zum Wege und zur Fahrt geht die Lehre. Das Schauen aber ist die Sache dessen, der sehen will«.
So das Leben auf der Höhe mystischer Einigung mit dem Grunde des Alls. Nach Plotin erreicht das irdische Leben sie nur in seltenen Augenblicken; gewährte die Gottesidee nicht mehr, so könnte sie wenig an seinem Gesamtstande ändern. In Wahrheit wirkt sie mittels der Denkarbeit weit über jene unmittelbare Anschauung hinaus zur Vertiefung der ganzen Wirklichkeit. Alles Leben erhält von der Gottheit her einen neuen Anblick, das veränderliche und zerstreute Sein wird auf ein unwandelbares und einheitliches aufgetragen. Die Ewigkeit hebt sich als stehende Gegenwart von aller bloßen Zeitdauer ab und wird der wahre Standort, von dem aus das Vernunftwesen die Wirklichkeit erlebt. Alle Größen verschieben sich vom Relativen ins Absolute und verändern dadurch ihre alte Bedeutung. So namentlich der Begriff der Unendlichkeit. Die altgriechischen Denker empfanden am Unendlichen vornehmlich den Mangel einer Abgrenzung und verwarfen es daher als vernunftwidrig; jetzt erhält es die Bedeutung der Überlegenheit gegen jede versuchte Einschränkung und wird als unbegrenzte Lebenskraft ein wesentliches Merkmal der Gottheit.
Auch die folgenreiche Überzeugung taucht hier auf, daß im absoluten Sein alle Gegensätze der Wirklichkeit überwunden sind, ja schließlich in Eins zusammenfallen. Denn mag Plotin diese zu Beginn der Neuzeit mit großem Nachdruck verkündete Idee nicht lehrhaft formulieren, er bringt sie vollauf zur Wirkung. Manches davon wurde schon ersichtlich, einiges sei noch hinzugefügt.
Jenes höchste Sein kennt keine Bewegung im Sinne einer Veränderung, vielmehr waltet in ihm voller Friede, unwandelbare Ruhe. Aber diese Ruhe des göttlichen Seins ist nicht träger und toter Art, sie enthält ein unablässiges Wirken, sie ist das höchste und vollkommenste Leben. Der antike Begriff der Muße, der rein bei sich selbst befindlichen und ganz in sich selbst befriedigten Tätigkeit, des vollen Gleichgewichts von Ruhe und Bewegung, rettet sich jetzt von den menschlichen Verhältnissen in den innersten Grund der Wirklichkeit, wohin nur die Spekulation ihm folgen kann. – Sodann verbindet dieser Grund Wesen und Tätigkeit. Hier hat das Tun nicht eine dunkle Natur hinter sich, und das Wesen liegt nicht unzugänglich jenseit des Wirkens, sondern im echten Wirken besteht und erschließt sich das ganze Wesen; nur solche Gegenwart des Wesens gibt dem Wirken Gehalt und Wahrheit. Zugleich verschwindet aller Abstand zwischen dem Dasein und seinem Grunde, denn das höchste Sein erschafft sich selbst, es ist seine eigene Ursache ( causa sui). – Auch Freiheit und Notwendigkeit fallen hier in Eins zusammen. Das göttliche Sein kennt keinen Zufall und keine Willkür, aber auch keine Abhängigkeit von Fremdem und Äußerem, es lebt allein aus sich selbst. Durch den Aufstieg zum höchsten Sein kann auch der Mensch solche göttliche Freiheit gewinnen, die unvergleichlich mehr bedeutet als die bloße Befreiung von der Sinnlichkeit.
Endlich findet auch das Problem der Vernunft der Wirklichkeit auf dieser weltüberlegenen und weltüberblickenden Höhe eine eigentümliche Lösung. Die hier gebotene Theodizee hat den Stoikern manches entlehnt, aber sie stellt alles Empfangene in neue Zusammenhänge und wird damit die bedeutendste Leistung des Altertums in dieser Richtung. – Plotin bestreitet keineswegs eine weite Ausdehnung des Bösen, aber vertiefte Begriffe scheinen es ihm vollauf überwinden zu können. Zunächst behandle der Mensch das Problem nicht von sich und überhaupt vom Teile aus, sondern vom Ganzen her; »nicht auf den Wunsch des einzelnen, sondern auf das All muß man blicken«; »wenn das Feuer in dir erlischt, so ist nicht schon das ganze Feuer erloschen«. Alsdann werden zur Rechtfertigung des Weltbefundes alle Gedankenreihen des plotinischen Systems aufgeboten, namentlich reichen eine metaphysische und eine ästhetische Betrachtung einander die Hand. Das Böse hat im strengen Sinne überhaupt kein Wesen, es ist nicht eine eigene Natur, sondern nur ein geringeres Gutes, eine Beraubung besonderer Eigenschaften, ein Fehlen und Sinken. Auch auf den niederen Stufen der Wirklichkeit hat das Gute das Übergewicht; darum hat es guten Grund, daß auch sie bestehen. Auch deswegen sind sie notwendig, weil die Vollkommenheit des Alls eine Mannigfaltigkeit fordert, demnach neben dem Höheren auch Niederes vorhanden sein muß. Bei einer Bildsäule kann nicht alles Auge, in einem Gemälde nicht alles Licht, in einem Schauspiel nicht alles Held sein. Bedenken wir ferner den inneren Zusammenhang, die durchgehende Ordnung des Alls. Nicht nur sind Ursachen und Wirkungen einander streng verkettet, unbestreitbar ist auch ein Walten sittlicher Normen; auch hier noch erhält sich der altgriechische Glaube an eine weltbeherrschende Gerechtigkeit. Mögen ferner die einzelnen Teile der Welt einander widerstreiten, das Ganze bildet eine Harmonie, die alle Gegensätze umspannt; auch was wir Menschen widernatürlich schelten, das gehört zur Natur des Ganzen. Wer die Wirklichkeit tadelt, hat gewöhnlich nur die sinnliche Welt im Auge. Aber über dieser Welt eröffnet das Denken eine Welt reiner Geistigkeit und Wesenhaftigkeit, die kein Übel kennt, und die auch ihr sinnliches Abbild emporhebt.
So wird der altgriechische Gedanke der Vernunft und Schönheit des Alls tapfer festgehalten. Auch der letzte selbständige Denker des Griechentums steht zu der Überzeugung, daß es nicht eine neue Welt zu schaffen, sondern sich mit der vorhandenen durch rechtes Erkennen zu verständigen gilt. Auch ihm erscheint die Wirklichkeit als ein fertiges Reich der Vernunft; für große Erneuerungen, für eine wahrhaftige Geschichte mit freiem Wollen und erhöhendem Handeln ist hier kein Platz; wir haben nur durch den trüben Schein zum Grundbestande vorzudringen, um alle Unvernunft aufzulösen. So behauptet sich das Denken bis zum Schluß als die Macht, die den Menschen über sein Geschick beruhigt und mit dem All verbindet.
Je mehr aber bei Plotin sich der Mensch seiner besonderen Art entäußert und aus der Unendlichkeit lebt, desto mehr verwandelt sich unser Tun aus einem Streben in ein Besitzen, aus rastlosem Fortschreiten in volle Ruhe. Die Ruhe im Urgrund der Dinge jenseit aller Kämpfe und Gegensätze, sie wird in den Wirren jener Zeit und bei jähem Sinken der Kultur das höchste, ja das einzige Ziel. Die Welt, die den Menschen zunächst umfängt, hat jetzt ihre Hauptaufgabe in dem Hinweis zu jener höheren Welt; sie ist wertvoll nicht sowohl durch das, was sie selber ist, als durch das, was sie ahnen läßt, als Zeichen und Gleichnis eines höheren Seins. Solcher symbolische Charakter des nächsten Daseins gibt der allegorischen Deutung ihre tiefste Begründung, das Aufsteigen vom Sichtbaren zum Unsichtbaren, vom Bilde zur Wahrheit wird zur Hauptbewegung des Lebens.
Wie bei Plotin die Denkarbeit auf ihrer Höhe ganz und gar zur Religion wird und als Religion alles Leben beherrscht, so ist es vornehmlich die Religion, die ihn mit seiner Umgebung verbindet und auch seine Stellung zu den Bewegungen seiner Zeit bestimmt. Ein freundliches Verhältnis zu den Volksreligionen fand Plotin dadurch, daß seine Lehre von der Abstufung des höchsten Seins durch jene Folge von Reichen auch den Polytheismus sich anzueignen vermochte. Wie der ausschließliche Monotheismus der griechischen Denkweise stets widersprach, so verbot auch einem Plotin die strenge Einheit des tiefsten Grundes nicht eine Annahme vermittelnder Kräfte, sichtbarer und unsichtbarer Götter. Mit solcher Begründung schien die väterliche Religion seelisch vertieft und sicher verankert, entgegenkommende Gemüter konnten von hier eine Wiederbelebung des alten Glaubens hoffen, auch die orientalischen Religionen waren leicht der Bewegung einzufügen. Auf den Neuplatonismus stützte sich der letzte Restaurationsversuch (Julian), neuplatonische Gedanken bildeten die letzte Hilfe des erlöschenden Griechentums. So hat die Philosophie das griechische Leben treu bis zu Ende begleitet.
Was Plotin mit dem Griechentum verband, das schied ihn vom Christentum. Welche Punkte ihm dabei vornehmlich gegenwärtig waren, lassen Äußerungen gegen christliche Gnostiker ersehen. Er tadelt an ihren Lehren namentlich folgendes: 1. Die Überschätzung des Menschen. – Wohl verbindet den Menschen sein Denken mit den tiefsten Gründen, aber er bleibt ein bloßer Teil der Welt, und nicht bloß auf ihn, sondern auf die ganze Welt erstreckt sich das göttliche Walten. 2. Die Herabsetzung und Entseelung der Welt. – Wer das Weltall tadelt, weiß nicht, was er tut, und wie weit seine Keckheit geht. Auch ist es grundverkehrt, dem geringsten Menschen eine unsterbliche Seele zu gönnen, sie dem Weltall dagegen und den ewigen Gestirnen abzusprechen. 3. Ein tatloses Verhalten. – Nicht beten sollen wir, sondern kämpfen. Scheuen die Guten den Kampf, so siegen die Schlechten. Auch für das eigene Heil gilt es zu handeln, nicht Rettung zu erflehen. Vollendete, auf Einsicht begründete Tugend offenbart uns Gott. Ohne wahrhaftige Tugend aber ist Gott ein leeres Wort.
Wie weit diese Vorwürfe zutreffen, und ob sie über die Gnostiker hinaus das Christentum selber treffen, das gehört nicht hierher; jedenfalls bekunden sie deutlich, daß trotz aller Wandlungen die Hauptzüge des altgriechischen Lebensideals ungetrübt sich behaupten: die Einordnung des Menschen in das All, die Beseelung, ja Vergötterung der Natur, die Erwartung des Glückes von einer tätigen Haltung, die Schätzung des Denkens und Erkennens als des göttlichen Erbteils im Menschen.
Dem Christentum steht Plotin noch ferner, als jener Angriff zum Ausdruck bringt, aber zugleich findet sich mehr Verwandtschaft, als der Zusammenstoß ersehen läßt. Hier wie da eine durchgängige Verinnerlichung des Daseins und eine Richtung alles Lebens auf Gott, beides weniger in Mitführung als unter Abstoßung der Welt. Aber die Innerlichkeit findet Plotin in einer unpersönlichen Denktätigkeit, das Christentum in einer Entfaltung persönlichen Lebens; dort liegt das Heil an der Kraft des Denkens, hier an der Aufbringung rechter Gesinnung. Solcher Grundunterschied treibt bei den wichtigsten Lebensfragen auseinander. Bei Plotin ein dauerndes Liegenlassen der nächsten Welt, ein Verblassen der Zeit vor der Ewigkeit, Ruhe und Friede im Schauen der ewigen Einheit; im Christentum ein Eingehen des Ewigen in die Zeit, eine weltgeschichtliche Bewegung, das Aufnehmen eines Kampfes gegen das Böse der Welt. Dort ein Verschwinden des Menschen vor der Unendlichkeit des Alls, hier eine Versetzung des Menschen und der Menschheit in den Mittelpunkt des Ganzen. Dort vereinsamt der Denker auf steiler Höhe der Weltbetrachtung, hier schließen sich die Menschen zur Gemeinschaft des Wirkens und Leidens zusammen. Wir mögen die Größe der Gedanken Plotins und auch die Glut seines religiösen Gefühls aufs höchste schätzen und werden es doch vollauf verstehen, daß das immer stärker anschwellende Verlangen nach Rettung und Seligkeit nicht seinen Weg, sondern den des Christentums einschlug.
Plotin zeigt besonders deutlich den tiefen Widerspruch, der das Streben des späteren Altertums durchdringt und hemmt, den Widerspruch, daß die mit Sehnsucht erstrebte weltüberlegene Innerlichkeit an eine im Grunde seelenlose, unpersönliche Welt gekettet blieb. Erst das Christentum hat diesen Widerspruch überwunden, indem es eine jenem Streben entsprechende Welt erschloß und damit das Lebensproblem auf neue Bahnen führte. Wieviel aber das Christentum selbst Plotin verdankt, das werden wir später sehen.
ζ. Rückblick.
Wie zu Beginn, so müssen wir auch zum Schluß darauf bestehen, daß gegen Plotin gerecht nur sein kann, wer durch die erste Erscheinung zur Seele des Mannes vordringt. Geschieht dies nicht, so reizen seine Lehren fast durchgängig zum Widerspruch; nur ihre matte, erschöpfte und weltflüchtige Umgebung kann sie dann leidlich entschuldigen. Zurückziehung von der Kulturarbeit, Vereinsamung gegen die menschliche Gesellschaft, Formlosigkeit des Geisteslebens, magische Naturauffassung, sie alle weisen auf Plotin zurück. Freilich entspringen seinem Denken auch fruchtbarere Bewegungen: sowohl das Gemütsleben der mittelalterlichen Mystik als die Versuche einer Konstruktion der Philosophie aus reinem Denken, die immer von neuem Anhänger finden, sie sind von ihm ausgegangen. Aber erst jenseit aller einzelnen Lehren, ja oft im Gegensatz zu ihnen liegt seine weltgeschichtliche Leistung: die Zerstörung des antiken Lebensideals klarer Plastik und die Geburt eines neuen Ideals seelischer Erregung und schwebender Stimmung, die Abwerfung aller Bindung an die Umgebung und das Freiwerden reiner Innerlichkeit, die Unterordnung aller Mannigfaltigkeit des Wirkens unter die Bewegung eines urgründigen, allumfassenden Wesens. Damit wurde der Boden für eine neue Weltanschauung und Lebensführung bereitet, das Subjekt hatte sich als Geisteswesen der gegebenen Welt viel zu überlegen gezeigt, um sich je wieder einer ihr angehörigen Ordnung als bloßes Glied einfügen zu können; in dem hier Begonnenen lag, oft tief vom Schutt einer verfallenden Welt bedeckt, eine Fülle lebenskräftiger Keime, die unter günstigeren Bedingungen sich zu weltbewegenden Mächten entwickeln sollten.
Plotin hat nicht bloß das Altertum abgeschlossen und innerlich aufgelöst, nicht bloß dem alten Christentum erweiternde Weltgedanken zugeführt und dem Mittelalter, wenn auch durch vielfache Vermittlung, einen Neben- und Unterstrom reiner Innerlichkeit erhalten, zur Vertiefung aller seiner Bekenntnisse, auch der Renaissance waren seine Ideen unentbehrliche Hilfen zum Aufstieg ihres Lebens, auch das moderne Denken und Schaffen verdankt ihm viel, es sei nur Goethes und Schellings gedacht. So hat Plotin durch alle Zeiten gewirkt, als ein wahrhaft ursprünglicher Denker ist er auch heute noch nicht erschöpft, noch immer kann er wertvolle Anregung bieten.
Seine nächsten Wirkungen auf dem Boden des absterbenden Griechentums haben für unsere Betrachtung keinen Wert, sie gehören mehr in die Geschichte der Religion oder in die der Fachwissenschaft als in die der philosophischen Lebensanschauung. So gilt es für uns mit Plotin vom Altertum Abschied zu nehmen.
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c. Die Größe und die Grenze des Altertums.
Der Rückblick auf die Lebensanschauungen des Altertums hat über die einzelnen Erscheinungen hinaus auf das Ganze zu gehen; in dem Ganzen aber sahen wir drei Perioden sich scheiden: die des geistigen Schaffens, der besinnlichen Lebensweisheit, der religiösen Erregung und Spekulation. Die nachklassische Zeit verstärkt immer mehr das Subjekt und erstrebt ein Leben aus reiner Innerlichkeit, sie zuerst hat die Moral wie die Religion in ihrer vollen Eigentümlichkeit erfaßt und als selbständig anerkannt. – In der Schätzung und Behandlung der verschiedenen Perioden hat die Neuzeit vielfach geschwankt. Wo eine humanistische Begeisterung namentlich den Unterschied des Altertums von der Neuzeit hervorkehren hieß und von dort dem geistigen Schaffen frische Antriebe zuführen wollte, da gewann den Blick und die Liebe leicht allein die klassische Zeit; wo dagegen die Antike mit direkter Wendung zur Einzelseele Belehrung und Veredlung gewähren sollte, da standen die späteren Zeiten voran. Während der Aufklärungszeit waren die Schriften eines Lucrez und eines Seneca, eines Plutarch und eines Marc Aurel in den Händen aller Gebildeten. Mit dem Neuhumanismus ist das anders geworden. Jetzt aber nähert das Zurückgehen auf das Subjekt und das wachsende Verlangen nach Verinnerlichung des Lebens uns wieder mehr dem späteren Altertum. Das gilt auch für die religiöse Bewegung, deren genauere Kenntnis und unbefangene Würdigung wir erst der neuesten Forschung verdanken.
Aber alle Mannigfaltigkeit ruht auf einer gemeinsamen Art, und was diese Art uns bedeutet, darüber gilt es ein Urteil zu bilden.
Augenscheinlich sind die Lebensbilder treue Zeugnisse des griechischen Geistes, zugleich haben sie mit ihrer philosophischen Arbeit seine Ausbildung und Befestigung nicht wenig gefördert. – Sie alle bekennen die griechische Schätzung der Tätigkeit als der beherrschenden Seele des Lebens, ihre Erweckung und Behauptung entscheidet über sein Gelingen. Aber die Tätigkeit selbst hat sich unter dem Einfluß der Philosophie mehr und mehr umgestaltet, sie hat sich immer mehr in das Innere zurückgezogen und zugleich das Verhältnis des Menschen zur Welt verändert. Aber auch bei solcher Verinnerlichung bleibt sie immer Tätigkeit, fordert sie ein eignes Beginnen, ein selbständiges Handeln des Menschen. Selbst bei der Religion rufen die griechischen Denker ihn zur Aufbietung eigenen Vermögens auf; was seiner Natur an Göttlichem innewohnt, das hat eigne Kraft zu beleben und siegreich über das Niedere zu machen. Solche Schätzung der Tätigkeit wird von der Überzeugung getragen, daß unser ganzes Wesen in die Tätigkeit aufgeht, daß sie nicht an der Oberfläche verläuft, sondern alle Tiefe in sich zieht. So nur kann sie den Kern des Lebens bedeuten. Dabei bleibt sie immer fest auf die Welt gerichtet und eng mit der Welt verbunden, sie verflüchtigt nicht in indischer Weise die Dinge zu wesenlosem Schein, sondern sie findet in ihnen ein sicheres Gegengewicht, sie will sich durch sie erfüllen und durch sie wachsen, sie gewinnt durch sie einen reichen Gehalt.
Wie solche Schätzung der Tätigkeit eine hervorragende Stärke des Lebenstriebes erweist, so wirkt sie dahin, nichts im Umkreise unseres Vermögens ungenutzt liegen zu lassen, vielmehr alles in Fluß zu bringen, alles zu höchster Leistung zu heben. Auch das wachsende Anschwellen der Widerstände bricht nicht den Willen zum Leben, man verneint gewisse Arten des Lebens, aber in der Verneinung der besonderen Art begehrt man das Leben selbst und ermittelt ihm neue Wege. Aus solcher Lust am Leben und Wirken strömt eine unversiegliche Frische, eine bewunderungswürdige Elastizität, die großer Wendungen fähig ist und aus schwerster Hemmung immer wieder den Weg zum freudigen Schaffen findet, immer wieder sich aus der Welt eine geistige Heimat bereitet.
Bedenken kann freilich erregen, ob die Versetzung in Tätigkeit nicht als zu leicht gedacht wird. Es scheint nur einer vollen Anspannung der Kraft, einer Verschanzung im eignen Vermögen zu bedürfen, um allen Widerständen überlegen zu werden und das Leben auf seine Höhe zu führen. Es fehlen hier innere Verwicklungen im Befunde des menschlichen Geisteslebens; wie dieses vorliegt, gilt es als gut und der Wahrheit zugewandt; so bildet es mehr eine naturgegebene Größe, eine höhere und edlere Natur, als daß es um sich selbst zu ringen und freiem Schaffen eine Selbständigkeit erst zu sichern hätte.
Das ergibt eine eigentümliche Stellung zum Leide: dieses wird nicht in das Innere des Lebens aufgenommen und zu seiner Weiterbildung verwertet, es werden nicht durch schmerzliche Erschütterung hindurch neue Anfänge gesetzt, nicht ein »Stirb und werde« gefordert, sondern durchgängig gilt es als Summe der Lebensweisheit, das Feindliche sich möglichst fernzuhalten und ihm allen Einfluß auf den inneren Lebensstand zu versagen. Bei einem Wachsen der Widerstände forderte das eine Zurückdrängung, ja Abstumpfung des Gefühls; eine solche aber war unmöglich dauernd durchzusetzen. So lasse alle Schätzung des griechischen Tätigkeitstriebes nicht verkennen, daß das hohe Ziel hier zu rasch, zu unvermittelt erreicht werden sollte.
Die Verwandlung des Lebens in Tätigkeit wurde von den griechischen Denkern an erster Stelle vom erkennenden Denken erwartet. Das Denken erscheint als der göttliche Funke im Menschen, als das, was den Menschen über die Kleinheit des bloßen Menschen hinaushebt und ihm an voller Glückseligkeit und göttlicher Ewigkeit teilgibt. Dem entspricht ein unermüdliches Streben, den ganzen Umfang des Lebens mit tief dringender Gedankenarbeit zu durchleuchten, alle Mannigfaltigkeit zu verketten, ein deutliches Gesamtbild zu gewinnen. Wohl nimmt in der Folge der Zeiten das Denken verschiedene Gestalten an, aber auf griechischem Boden bleibt es immer das Denken, das dem Leben seine Ziele weist und seinen Gehalt zuführt. Dem Denken leistet das Handeln Folge, es erlangt ihm gegenüber keine Selbständigkeit, es treibt nicht aus sich eigentümliche Überzeugungen hervor. Diese Schätzung des Denkens, welche der allgemeingriechischen Überzeugung entspricht, vertieft sich bei den Philosophen durch die Stellung, die sie dem Menschen zur Welt und Wirklichkeit geben. Die Welt gilt hier, wenn auch nicht dem unmittelbaren Befunde, so doch ihrem Grundbestande nach als geschlossen und vollendet, der Mensch aber ist auf sie angewiesen und schöpft aus ihr den Gehalt seines Lebens; das Denken nun ist es, das die Welt dem Menschen eröffnet und ihn mit ihr verbindet, das Denken ist es, das mit seinem Sehen und Verstehen aus dem Ganzen über die Mißstände des ersten Anblicks hinaushebt und den Menschen mit der Wirklichkeit aussöhnt. So ein starker Intellektualismus, bestreitbar in seinen Voraussetzungen, aber von mächtiger Wirkung zur Klärung und Bewußtheit des Lebens. Von hier aus hat die Wissenschaft ihre herrschende Stellung in der Kultur erlangt.
Aber den Intellektualismus mildert auf griechischem Boden der wunderbare Gestaltungstrieb, der wie das griechische Streben überhaupt, so auch die Arbeit an den Lebensbildern durchdringt. Wohl zeigen die verschiedenen Denker verschiedene Grade künstlerischer Vollendung, aber gemeinsam ist die kräftige Herausarbeitung und deutliche Formung dessen, was die Tiefe der Seele bewegt, gemeinsam das Streben, die verschiedenen Gedanken in ein anschauliches Ganzes zu fügen und als solches zur Wirkung zu bringen. So nur konnten ausgeprägte Typen der Lebensanschauung entstehen und treue Begleiter aller weiteren Bewegung der Menschheit werden.
Aber die Macht der Form und Gestalt reicht hier weit über die bloße Darstellung hinaus in den inneren Gehalt des Lebens. Das Schaffen und Schauen des Schönen erscheint als der Gipfel des gesamten Lebens, es bestimmt das Gesamtbild der geistigen Tätigkeit. Wie das künstlerische Schaffen und Schauen mit unablässiger Bewegung ein stilles Ruhen in sich selbst verbindet, so wird allem Leben ein Ruhen in der Bewegung als höchstes Ziel vorgehalten und damit sowohl alle Trägheit als alles ungestüme Weiterhasten verpönt. Wie das Schöne nicht seiner Folgen wegen, sondern allein durch sich selber gefällt und beglückt, so wird alles Geistesleben um seiner selber willen, nicht eines Nutzens wegen begehrt, dem Guten mit seiner inneren Schönheit aller Lohngedanke ferngehalten, das Böse als an sich häßlich verworfen. Ja das Ganze des Lebens erscheint als eine Herausarbeitung, Darstellung und Anschauung der eigenen Natur, als eine Bildung der Seele zu einem lebendigen Kunstwerk; so trägt es höchste Freude in sich selbst, zugleich aber auch einen sicheren Halt gegen alle unbegrenzte Lebensgier.
Weiter ist es die Gestalt, welche den Menschen dem All untrennbar verbindet. Denn ihr Wirken bei uns erscheint als der Höhepunkt eines Weltgeschehens, Formen und Bilden durchdringt hier das ganze All, das Weltphänomen der Form wird hier zuerst von der Denkarbeit ergriffen und der Menschheit zu vollem Besitz gebracht. Der Mensch gewinnt damit einen inneren Zusammenhang mit der Welt und darf sich heimisch in ihr fühlen; indem sein Denken aus dem Chaos des ersten Eindrucks einen herrlichen Kosmos heraussieht, führt es das Leben zu höchster Freude und Seligkeit.
Alles zusammen ergibt trotz klaren Einblicks in die Nöte und Sorgen der menschlichen Lage eine freudige Bejahung des Lebens, eine Bejahung, der ein kräftiges und erfolgreiches geistiges Schaffen eine sichere Wurzel gibt. Die Lebensbilder zeigen deutlich, wie sehr dies Schaffen das ganze menschliche Dasein einnimmt, wie es eine ebenso universale wie charaktervolle Kultur erzeugt und dadurch dem Menschen die Kraft wie die Tiefe seines eignen Wesens erschließt.
Wir wissen, wie spätere Verwicklungen und Erfahrungen der Menschheit die hier gebotene Lösung des Lebensproblems unzulänglich machten. Das griechische Denken gab dem Menschen eine große Gegenwart und wollte mit dieser ihn ganz erfüllen. Das forderte aber eine Höhe und eine Kraft des Lebens, die sich nicht dauernd festhalten ließ. Wurde aber ein Sinken als unvermeidlich empfunden, so wurde es zu einem schweren Mangel, daß das griechische Leben an eine geschlossene Welt gebunden blieb, daß es keine Möglichkeit einer inneren Erneuerung, keinen weiteren Ausblick, keine Hoffnung einer besseren Zukunft hatte; jene Bindung mußte zu einem unerträglichen Drucke werden, sobald die Schranken und Schäden des menschlichen Daseins voll zum Bewußtsein kamen. So ward ein Bruch unvermeidlich, und auch das ist nicht zu verkennen, daß jene Art sich unmöglich einfach wiederaufnehmen läßt; nur Künstelei kann an dieser entscheidenden Stelle alles echte Menschentum an die griechische Fassung binden.
Aber das besagt keineswegs, daß das Griechentum uns zur bloßen Vergangenheit geworden ist. In diesen Dingen steht die Entscheidung nicht auf einem schlichten Ja oder Nein, hier kann innerhalb eines weiteren Lebens etwas wirksam, ja unentbehrlich bleiben, was nicht das Ganze bedeutet, auch nicht den letzten Abschluß bilden kann. Das aber gilt von der griechischen Aufbietung geistigen Vermögens und der Schöpfung eines großen Reichs der Kultur; wir erkennen darin eine Stufe des Lebens, die einen dauernden Wert behält und sich ohne schweren Schaden nicht überspringen läßt. Einige Beispiele dürften das anschaulich machen. Zur Ordnung des menschlichen Lebens und Zusammenseins berufen die griechischen Denker die Gerechtigkeit: ein jeder soll in voller Aufbietung seines Vermögens dem Ganzen etwas leisten, den Leistungen aber soll die Schätzung und Stellung entsprechen. Diese Lösung ward überschritten und als leitende Lebensmacht die Liebe mit ihrer freien und unbemessenen Gnade verkündet; von hier aus mag es als eine unerträgliche Härte erscheinen, in die Gerechtigkeit den letzten Abschluß zu setzen, da den unerschöpflichen Quellen der Liebe gegenüber die bloße Gerechtigkeit zu starr und eng wird. Aber das läßt sich vollauf anerkennen und zugleich darauf bestehen, daß die menschlichen Verhältnisse sich unmöglich allein aus Liebe gestalten lassen, daß im besonderen daraus keine staatliche Ordnung hervorgehen kann. Was als letzter Abschluß, als letzte Berufung unentbehrlich, das macht für die menschliche Lage eine andere Stufe keineswegs überflüssig; so bleibt von dauerndem Wert auch die Gerechtigkeit.
Dieser Frage eng verbunden ist die Beurteilung des geistigen und moralischen Standes der Menschen. Die Griechen, auch ihre tiefsten Denker, messen den Menschen am Menschen, sie gewahren dabei große Unterschiede, sie zerlegen im besondern die Menschheit in eine kleine Zahl edler und eine weitüberwiegende Mehrzahl gewöhnlicher, wenn nicht gemeiner Naturen. Das wird unerträglich, sobald der Mensch sich nicht mehr am Menschen, sondern an Gott, dem Ideal der Vollkommenheit, mißt. Dem Unendlichen gegenüber verschwinden nämlich die Unterschiede des Endlichen, ein gemeinsamer Stand und ein gemeinsames Ziel hebt sich aus allen Abstufungen hervor und zwingt, eine Gleichheit aller Menschen im innersten Grunde anzuerkennen. Aber kann diese göttliche Ansicht der Dinge die menschliche völlig verdrängen, muß nicht jede Gestaltung menschlicher Verhältnisse mit großen Unterschieden der Individuen rechnen? Es ist ein gefährlicher Irrtum, deshalb, weil am letzten Punkt eine Gleichheit bestehen muß, diese für die ganze Breite des Lebens zu fordern und sie damit leicht auf den Stand eines geringen Durchschnitts herabzudrücken.
Das Griechentum hat den Menschen zur vollen Erweckung und Erweisung seiner geistigen Kraft aufgerufen und dabei eine wunderbare Individualität eingesetzt, es vollzog die Schöpfung eines allumfassenden Reiches der Wahrheit und Schönheit und gab mit solcher Kultur dem Menschen eine sichere Überlegenheit gegen alle bloße Natur, auch ein freudiges Selbstvertrauen, es bildet als Ganzes einen herrlichen Tatbeweis seiner Größe. Später haben sich mehr die Schranken des menschlichen Vermögens bemerklich gemacht, und diese Schranken haben das Denken und Empfinden oft ausschließlich beherrscht. Aber ein solches Verweilen bei den Schranken hat ein gutes Recht nur, wenn zuvor das Vermögen entfaltet und erprobt ist. Ein bloßes Vorhalten der Schranken, ein Klagen über menschliche Ohnmacht und Schlechtigkeit drückt das Leben von vornherein nieder und lähmt allen Antrieb zum Schaffen, ja ohne Erprobung der Kraft führt es leicht zu innerer Unwahrheit, zu eitler Selbstgefälligkeit und nur scheinbarer Entsagung. Nur wer mutig den Kampf unternahm, hat gutes Recht den Erfolg und Mißerfolg abzuwägen; wer mit dem Verzicht beginnt, kommt nicht weit und gerät in Gefahr, die eigne Schwäche dem menschlichen Geschick aufzubürden. Selbst übergroßes Wagnis ist besser als zaghafter Kleinmut.
So verbleibt das gute Recht einer Lebensschicht, wo der Mensch vertrauensvoll seine Kraft in den Lebenskampf einsetzt und in ihm zu bewähren sucht. Ist aber das der Fall, so verdient eine hohe Schätzung das Griechentum, das in unserem Kulturkreise zuerst das geistige Vermögen des Menschen in seinem ganzen Umfang belebte und zu gleichmäßiger Entfaltung brachte, das fest in der Wirklichkeit stand und zugleich unvergleichlich mehr aus ihr machte. Was immer an ihm vergänglich sein mag, dauernd wirkt aus ihm ein Antrieb zur Belebung aller Kraft, ein freudiger Glaube an das Vermögen des Menschen, ein energisches Zusammenfassen aller Mannigfaltigkeit zur Einheit und zur Harmonie, ein Verschmähen aller gemeinen Nützlichkeit, eine Anerkennung des Selbstwerts des Lebens und ein Streben, ihm bei sich selbst einen Sinn und einen Halt zu geben; so wirkt aus ihm eine durchgängige Veredlung und Erhöhung des Menschentums. So gewiß diese Aufgaben für alle Zeiten bleiben, so gewiß bleibt uns dauernd wertvoll, was uns im Wirken für sie durch eindringliche Vorhaltung einer großen Leistung zu stärken vermag; das aber tut das Griechentum, so bleibt es ein »Besitztum für immer«.