Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Die unermüdliche, eindringende und umsichtige Arbeit der neueren Forschung hat uns dahin aufgeklärt, daß das nachklassische Altertum nicht einen bloßen Anhang und Nachklang bildet, sondern daß es eine selbständige Art besitzt, die für die Weiterbewegung der Menschheit von größter Bedeutung war. Auch enthält es mehr innere Bewegung und Wandlung, als früher ihm zugestanden ward. Zunächst erwächst die Kultur des Hellenismus, welche das Leben unter neue Bedingungen und Aufgaben stellt, nach verschiedenen Richtungen hin Hervorragendes leistet und eine die Völker umspannende Gemeinschaft der Bildung bereitet. Aber der überwiegend rationale Gehalt, den das Leben hier bekommt, genügt nicht auf die Dauer, und nun vollzieht sich unter gewaltigen Erschütterungen eine Wendung zur Religion; von dem Volke steigt sie mehr und mehr auch zu den Gebildeten auf, um schließlich das gemeinsame Leben zu führen. Auch die Lebensanschauungen bekunden eine selbständige und eigenwertige Art des späteren Altertums, auch sie fordern seine Zerlegung in zwei Abschnitte, den einen einer rationalen Kulturarbeit, den anderen einer religiösen Sehnsucht und Hoffnung. Wie verschieden dabei der Anblick des Lebens ausfällt, wird die folgende Betrachtung zeigen.
a. Die geistige Art der hellenistischen Zeit.
Der hellenistischen Zeit fehlten die Hauptantriebe des klassischen Lebens: das große geistige Schaffen und die Gemeinschaft des heimatlichen Stadtstaats. Wohl führte dieser Staat noch lange die überlieferten Formen weiter, aber den Formen fehlte das Leben; über die Schicksale der Völker und Staaten wurde an anderen Stellen, wurde namentlich an den Höfen der Fürsten entschieden, während die Kleinstaaten zu ödem Spießbürgertum verkümmerten. Die Politik wird jetzt zur Sache einzelner hervorragender Individuen; mit dem Wachstum ins Große und Technische löst das Staatsleben sich weit mehr von der Arbeit und der Gesinnung einer engbegrenzten Gemeinschaft ab. Aber zugleich wird der Einzelne freier gegenüber der Umgebung, nicht mehr binden ihn Glaube und Sitte seines Volkes und verbieten ihm eigene Wege. Zugleich durchbricht das Leben die Schranke einer besonderen Nation, es entsteht eine Weltkultur, eine weltbürgerliche Gesinnung erwacht und wirkt, wenn auch nicht mit dem Sturm und Drang des modernen Weltbürgertums, so doch zur Abschleifung nationaler Gegensätze und zur Schätzung des Menschen als Menschen. Zugleich ergreift die Bildung weitere Schichten, das Leben gewinnt an Breite, schaffende Persönlichkeiten werden selten, aber es hebt sich der Stand des Ganzen.
Solcher Ausdehnung entspricht eine innere Wandlung des Lebens, die namentlich das Individuum anders stellt. Die klassische Zeit ist vornehmlich groß durch ein geistiges Schaffen, das den Gegensatz von Subjekt und Objekt umspannt, den Menschen und die Welt aufs engste verbindet. Ein Zusammentreffen mannigfacher Gunst des Schicksals ließ dort eine einzigartige Zeit des geistigen Heroismus entstehen, aus deren wunderbaren Werken wir noch immer schöpfen und sicherlich lange schöpfen werden. Aber wie alle Festtage hat eine solche Zeit eine knappe Frist, jene Einheit hält sich nicht dauernd, Subjekt und Objekt zerwerfen sich, zwischen dem Menschen und der Welt entsteht eine tiefe Kluft. Solche Spaltung gibt vieles auf. Unmöglich kann nun die Kunst ihre wesenerhöhende Größe bewahren, unmöglich die Religion die geistige Arbeit beseelen. Mag sie sich beim Volke erhalten, der Gebildete entfremdet sich ihr und findet sich mit ihr durch eine vernünftelnde Deutung ab, wenn er sie nicht gänzlich ablehnt. Wohl verbleibt der sittliche Kern des griechischen Glaubens, der Glaube an eine Gerechtigkeit in den menschlichen Geschicken, aber daneben huldigt diese Zeit, die zahlreiche Umwälzungen und jähe Schicksalswechsel erlebt, einem Glauben an die Macht der Göttin Tyche, des entweder völlig blinden oder gar neidischen und übelwollenden Zufalls. Aber mag der Eindruck der Unvernunft unserer Geschicke wachsen, die Mißstände werden zunächst nicht so peinlich empfunden, um den Menschen niederzudrücken und ihm das Leben zu verleiden, vielmehr fühlt sich eine ruhige Selbstbesinnung und kluge Lebensweisheit noch den Problemen vollauf gewachsen; das macht die Philosophie zur Führerin der gebildeten Welt, zu einem Ersatz der Religion. Durchgängig wird hier das Leben mehr auf umsichtige Überlegung gestellt als durch geistiges Schaffen getrieben.
Aber das weitere Auseinandertreten von Mensch und Welt bringt auch manchen Gewinn: es klärt sowohl das Objekt als es das Subjekt verstärkt. Daß die Welt selbständiger gegenüber dem Menschen wird, das gibt der Arbeit der Wissenschaft mehr Bedeutung und Wert; die wissenschaftliche Forschung blüht auf dem Boden des Hellenismus in reicher Fülle auf und legt die Bahnen für Jahrtausende fest, »das wahrhaft Große des Hellenismus ist seine Wissenschaft« (Wilamowitz). Die einzelnen Wissenschaften erlangen jetzt eine volle Selbständigkeit, zugleich wächst das technische Vermögen des Menschen über seine Umgebung. Andererseits gewährt die Kunst dem subjektiven Empfinden weitesten Spielraum, in der Wendung zur Virtuosität steigert sie oft den Ausdruck der Kraft ins Überspannte, sie liebt das Blendende und Riesenhafte, auch die Pracht, den Pomp, das Dekorative, sie nähert sich damit schon dem, was später barock genannt ward. Aber im Rückschlag dagegen entsteht auch eine Sehnsucht nach reiner Natur und schlichtester Lebensführung, eine sentimentale Freude an der Naturumgebung und ein Streben nach einem engen Verkehr mit ihr; gegenüber der Überreife der Kultur, die mehr und mehr ein schweres Übel dünkt, erhebt sich die Forderung einer Rückkehr zu unverdorbenen Anfängen, das Lob eines begrenzten, friedlichen Lebens.
Wie hier durchgängig das Individuum freieren Raum gewinnt und die Seele sich mehr mit sich selbst befaßt, so wachsen auch die Beziehungen von Individuum zu Individuum an Gehalt und Wert, »die hellenistischen Dichter zuerst haben die Liebe in den Rang der obersten poetischen Leidenschaft eingesetzt« (Rohde), die Verhältnisse des bürgerlichen Lebens geben dem Drama einen unerschöpflichen Stoff, das Privatleben kann sich nach allen Richtungen frei entfalten, der auf sich selbst gestellte Privatmensch wird mehr beachtet und geschätzt.
Die eigene Leistung der Zeit wird dabei aufs wertvollste ergänzt durch die damals noch in der Überfülle ihrer Schöpfungen wirksame klassische Zeit. Ihre Schätze zu wahren, sie voll zu verwerten und zu genießen, das gewinnt besonderen Reiz und Wert. Da aber nur Lernen und Wissen die Güter jener reichen und schönen Kultur zuführt, so wird die gelehrte Bildung zum Grundstock aller höheren Gesittung. Lernen und Wissen ergeben auch eine eigentümliche soziale Gliederung: eine gebildete Gesellschaft sondert sich ab und hebt ihre Glieder über alle Scheidung der Völker und Stände hinaus. So ein Zeitalter der Bildung mit allen Vorzügen einer solchen, mit ihrer Weite und Beweglichkeit, ihrem verfeinerten Empfinden und ihren edlen Genüssen, aber auch mit ihren Schranken, vornehmlich dem Mangel eines das Ganze des Lebens beherrschenden Zieles, mit einer Leere im Grunde der Seele.
Das Ganze dieser Zeit nähert sich mannigfach modernen Bewegungen, manches entsprang schon hier, was leicht als ausschließlich modern gilt. Aber alle Verwandtschaft beläßt einen wesentlichen Unterschied: das Subjekt des Hellenismus eignet sich mehr eine gegebene Kulturwelt an und bescheidet sich damit, sie nach einzelnen, freilich wichtigen Richtungen weiterzubilden, sie sucht deren Gehalt mehr in eigenes Gefühl und Reflexion umzusetzen. Nicht aber bricht es schroff mit der Überlieferung, nicht fordert es gänzlich neue Bahnen. Das aber tut die Neuzeit, indem hier das Subjekt in kräftiger Selbstbesinnung den ganzen überkommenen Lebensstand unzulänglich, ja unerträglich findet, ihn aufs härteste angreift, den Aufbau einer neuen Welt aus eigenem Vermögen wagt. Daß im Hellenismus die Woge des Lebens nicht steigt, sondern fällt, das kann alle Fülle seiner Leistungen nicht verdecken.
Solcher Lage entspricht die Art der Philosophie. Sie dringt nicht mehr kühn in den Urgrund der Dinge vor, sie sucht nicht die gesamte Kultur umzuwandeln und zu veredeln. Den Individuen aber verspricht sie einen festen Halt und eine aufklärende Orientierung, ihnen möchte sie zu einem glückseligen Leben und zu innerer Selbständigkeit verhelfen; so wird sie der gebildeten Welt der Hauptweg zur sittlichen Hebung. Dieser praktische Zug kommt freilich erst im Lauf der Jahrhunderte und unter Mitwirkung der Römer zu voller Herrschaft, er sei nicht zu sehr in die nur bruchstücksweise überlieferten Anfänge hineingedeutet. Aber unleugbar bildet seit den klassischen Systemen das Individuum mit seinem Glücksverlangen den Mittelpunkt aller Arbeit; zum Ideal wird der Weise mit seiner vollen Unabhängigkeit und Selbstgenügsamkeit.
Auch das bekundet eine andere Art, daß jetzt eine kleine Anzahl von Denkweisen gleich zu Beginn einen Grundstock festlegt und zu einem lehrhaften Bekenntnis formuliert, um dabei durch eine lange Reihe von Jahrhunderten treu zu beharren, während früher jede Leistung rasch eine Weiterbewegung und Gegenwirkung hervorrief. Wie überhaupt das Geistesleben der hellenistischen Zeit, so zeigt auch die Philosophie statt großer, die Menschheit aufrüttelnder Helden mehr Zusammenschluß von Einzelkräften, eine Bildung sektenartiger Kreise. Gebietet hier demnach der Plan unserer Arbeit eine knappe Kürze, so rechtfertigt sich zugleich eine Beschränkung auf die beiden Schulen der Stoiker und der Epikureer. Ihr Gegensatz entspricht dem zwiefachen Verhalten zur Welt, welches das ihr fernergerückte Individuum einnehmen mag. Entweder kann es sich ihrer stolz und mutig erwehren oder sich mit ihr verständigen und sich dabei möglichst gut zu stellen suchen. Dort wird es das Glück darin setzen, der Umgebung überlegen zu werden und aus der Kraft einer Weltvernunft eine innere Beherrschung der Dinge zu schöpfen. Hier dagegen wird es allen Zusammenstoß meiden und in geschickter Nutzung gegebener Lagen sich das Dasein angenehm machen. Wie beide Richtungen im Ausgang verwandt sind, so treffen sie auch im Ergebnis vielfach zusammen. Aber ihre Gesinnung trennt sie schroff, und ihr Kampf begleitet das Altertum lange Jahrhunderte hindurch. Die epikureische Schule stehe hier voran, weil sie besonders zähe einen einfachen Typus bewahrt und sich nicht mit weiteren Bewegungen verflochten hat.
*
b. Die Epikureer.
Die epikureische Schule zeigt namentlich den Charakter einer geschlossenen, von den Wandlungen der Zeiten kaum berührten Sekte. Die Lebensarbeit des Meisters (342-270) hat übermächtig gewirkt; nicht nur blieb das Bild seiner edlen Persönlichkeit in lebendiger Gegenwart und erlangte fast die Ehren eines Kultus, auch die einfachen Formeln, die er seinen Lehren gegeben hatte, gingen mit bindender Kraft von Geschlecht zu Geschlecht. Außer ihm ist nur noch der Römer Lucrez (wahrscheinlich 94-54) zu erwähnen, den die Wärme seiner Überzeugung und der Schwung seiner Darstellung noch im 18. Jahrhundert zu einem Liebling gebildeter Kreise machten. – Das Bild der Epikureer ist oft arg verzerrt, leicht erschienen und erscheinen sie als Verfechter alles und jedes Genusses, da in Wahrheit ihre Führer den Menschen von aller Verwicklung der Weltprobleme zu befreien und ihm im eigenen Kreise ein ruhiges und heiteres Leben vornehmer Art zu bereiten strebten.
Gegen die klassischen Systeme zieht sich hier der Lebenskreis eng zusammen. Nicht aus reinem Erkenntnisverlangen nimmt Epikur die Weltprobleme auf, sondern um durch aufklärende Einsicht Wahnbilder loszuwerden, die das Leben belasten und alle Freude vergällen. Vor allem wird die Lehre von einem Hineinwirken übernatürlicher Mächte in unser Dasein bekämpft; wie ließe sich das Leben ruhig und heiter genießen, solange das Schreckbild einer Ewigkeit droht? Daß es Götter gibt, sei nicht geleugnet, ja, sie seien als Musterbilder seligen Lebens verehrt! Aber um uns und unsere Welt kümmern sie sich augenscheinlich nicht. Weder könnten sie selbst bei steter Sorge um fremde Dinge volles Glück genießen, noch wäre bei ihr das Übel erklärlich, das alle Wirklichkeit greifbar durchdringt. Auch bedarf es gar nicht der Annahme einer göttlichen Weltregierung, denn die Wissenschaft zeigt, daß alles natürlich zugeht, und daß die eigene Natur der Dinge vollauf erklärt, was sie an Ordnung und Zusammenhang zeigen. So wird die Naturwissenschaft zur Befreierin des Menschen vom Wahn und Druck des Aberglaubens, die unerbittliche Feindin der Götterscheu, die soviel Haß und Elend über die Menschheit gebracht hat.
Nicht minder als die religiöse wird die philosophische Bindung an die Welt verworfen, wie die Lehre von einem Schicksal, einer uns mit unentrinnbarem Zwange umfangenden Notwendigkeit, sie enthält. Ein solches Schicksal würde uns noch schwerer bedrücken. Unentbehrlich ist für unser Wohl ein eigenes Lenken und freies Entscheiden; die Willensfreiheit, später gewöhnlich von den Leugnern übersinnlicher Ordnungen abgelehnt, erscheint hier als eine Grundbedingung des Glücks. Das zeigt besonders deutlich, wie sehr bei Epikur die Glücksfrage die Forschung beherrscht.
Ein aller Verwicklung so abholdes System kann keine Unsterblichkeit dulden. Warum auch eine solche verlangen, da die vorhandenen Güter sich innerhalb unseres Lebens vollauf auskosten lassen? Warum sollen wir nicht nach eigener Sättigung anderen unseren Platz am Tische des Lebens gönnen? Das Leben ist uns einmal nur zum Nießbrauch verliehen, geben wir nach Ablauf unserer Frist seine Fackel ruhig weiter! Der Tod mit seiner Vernichtung braucht uns nicht aufzuregen. Lehrt doch die einfachste Besinnung, daß er in Wahrheit uns gar nicht berührt. Denn wenn wir sind, ist er nicht; wenn er ist, sind wir nicht; warum also um ihn uns sorgen? So hindert uns nichts, allein der Gegenwart zu leben und in diesem Dasein unser Glück zu suchen.
Das Glück ist aber nicht erreichbar ohne ständige Hilfe der Einsicht, denn diese allein lehrt uns die Güter richtig schätzen. Es gibt, so zeigt sie, den Dingen einen Wert für uns nur, was sie uns an Lust bereiten; kein anderes Ziel darf sich demnach unser Streben setzen als ein möglichst angenehmes Leben, »Anfang und Ende des seligen Lebens« ist die Lust. Aber sie sei nicht blind aufgegriffen, wie sie geboten wird; den Wert der Erlebnisse bestimmt nicht ihr unmittelbarer Eindruck, sondern ihr ganzer Verlauf und alle ihre Folgen; diese wollen überdacht und sorgfältig abgewogen sein, es bedarf einer Kunst, die Lust zu schätzen und abzumessen. Das aber bildet den Kern der Philosophie.
So wird die Philosophie zur Lebenskunst, ja zur Technik des Genusses; die Aufgabe wird nicht sonderlich hoch gestellt. Aber sie wächst in der Ausführung durch den Reichtum der Kultur und den Geschmack der gebildeten Persönlichkeit. Der Genuß erfährt – nicht durch eine moralisierende Beurteilung, sondern zugunsten des Glückes selbst – eine Auslese und Veredlung. Den sinnlichen Freuden stehen die seelischen, den äußeren Gütern die inneren als dauerhafter und reiner voran; wer die Genüsse geistig beherrscht, wer genießen kann, aber nicht muß, ist glücklicher als wer sich von Genüssen abhängig stellt. In Wahrheit genießt hier der Mensch weniger die Dinge als sich selbst, die gebildete Persönlichkeit, und es ist das höchste Ziel weniger eine positive Lust als eine Freiheit von Schmerz und Sorge, ein heiterer Friede, eine unerschütterliche Seelenruhe. Dazu aber bedarf es einer Mäßigung der Begierden, einer Befestigung in klarer Einsicht und edler Gesinnung. Denn »es läßt sich nicht angenehm leben, ohne einsichtig, schön und gerecht zu leben, und auch nicht einsichtig, schön und gerecht, ohne angenehm; denn die Tugenden sind mit dem angenehmen Leben verwachsen, und das angenehme Leben ist von ihnen untrennbar« (Epikur). Immer aber bleibt die Hauptquelle des Glückes die rechte Schätzung der Dinge, die Befreiung von Götterscheu und Todesfurcht, die Erkenntnis, daß das Gute, recht verstanden, ganz wohl erreichbar ist, der Schmerz aber, wenn stark, nur kurz, wenn lang, nur schwach zu sein pflegt. Ein Mann von solchen Überzeugungen wird »weder im Wachen noch im Traum beunruhigt werden, sondern wie ein Gott unter den Menschen leben«. Diese Gesinnung entwickelt sich zu einer durchgebildeten Tugendlehre und einer feinsinnigen ethischen Reflexion. Viele Sätze des Epikur sind auch von den Gegnern in Ehren gehalten und dem gemeinsamen Schatz von Lebensweisheit einverleibt. Daß auch dies System der Lust den Menschen über die äußeren Schicksale hinausheben möchte, bekundet das Wort Epikurs, es sei besser, bei verständigem Handeln Unglück als bei unverständigem Glück zu haben.
Das Verlangen nach voller Unabhängigkeit des Individuums gestaltet auch die Verzweigung des Lebens eigentümlich. Alle und jede Bindung wird dem Menschen widerraten. Das Staatsleben kümmert den epikureischen Philosophen nicht, vornehmlich auf einen sicheren Schutz bedacht, wird er ein Freund absoluter Gewalt. Auch die Ehe zieht ihn nicht an. Um so mehr entfalten sich die freien Beziehungen von Mensch zu Mensch, wie die Freundschaft, der gesellige Verkehr, die humane Fürsorge sie bieten. Und zwar beschränkt sich das nicht auf kleine Kreise, es wirkt organisierend ins Weite. »Epikur und seine Jünger haben geworben und die Gemeinschaft fest organisiert. Durch ganz Griechenland erstreckte sie sich, ein Staat im Staate mit fester Verfassung, zusammengehalten nicht nur durch Briefwechsel und Wanderpredigt, sondern durch gegenseitige materielle Unterstützung. Epikur verstand es, einen Gemeinsinn wachzurufen, der mit Recht dem in den alten Christengemeinden lebenden verglichen worden ist« (Ivo Bruns). So findet auch auf diesem Boden die Philosophie eine Hauptaufgabe darin, die nach Lockerung der älteren Ordnungen atomistisch zerstreuten Individuen in neue Zusammenhänge zu bringen und ihnen dadurch einen inneren wie äußeren Halt zu gewähren.
Aber das Streben nach gerechter Würdigung lasse die Schranken des Epikureismus nicht übersehen. Der Mensch nimmt hier die Welt wie eine gegebene Ordnung hin und findet sich klug und geschickt mit ihr ab, nicht aber erreicht er ein tätiges Benehmen und ein inneres Verhältnis zu ihr. Er flieht aus allem Gewirr und Getriebe zu sich selbst, um sich hier ein echtes Glück zu bereiten. Aber da er dabei am Befinden des bloßen Subjekts haftet, so eröffnet sich ihm keine Innenwelt, so ergibt sich weder Antrieb noch Kraft zur Weckung seelischer Tiefen. Ein solches System hat allen Schäden drinnen und draußen nichts anderes entgegenzusetzen als die Erwägung, daß im Grunde das Böse nur schwach, das Gute hingegen stark sei; ohne einen zuversichtlichen Optimismus kommt Epikur nicht aus. Sollte aber das Dunkel und Leid nicht so einfach wegzudeuten sein, so könnte die erhoffte Seligkeit leicht in eine innere Leere verlaufen, ja in trostlose Verzweiflung enden. Auch ruht diese Lebensführung auf Grundlagen, die sie selbst nicht herstellen kann, die streng genommen ihr widersprechen. Sie verlangt einen hohen Kulturstand, einen feinen Geschmack und ein edles Empfinden, eine herzliche Freude am Guten und Schönen; ohne dies alles würde ihr Leben sein Ziel verfehlen. Aber einen Trieb, einen solchen Stand durch Arbeit und Opfer selbst hervorzubringen, erzeugt sie nicht; das sinnliche Naturwesen, von dem sie ausgeht, verwandelt sich ihr unvermerkt in die gebildete, von geistigen Interessen erfüllte Persönlichkeit. So zehrt diese Lebensanschauung als Schmarotzer an fremden Tafeln; anderer Mühe mußte bereitet haben, was ihr leichtes Spiel in Reflexion und Genuß verwandelt. Mag daher der Epikureismus in besonderen Zeitlagen die Individuen anziehen, den Lebensstand hebt und fördert er nicht, er bleibt ein bloßes Nebenergebnis, eine Begleiterscheinung einer reifen, ja überreifen Kultur; als eine solche wird er in wechselndem Gewande immer von neuem erscheinen und flache Seelen gewinnen. Aber alle Klugheit, Gewandtheit und Feinheit schützt ihn nicht vor dem schwersten Mangel einer Gedankenwelt: dem Unvermögen geistigen Schaffens, der völligen seelischen Leere.
*
c. Die Stoiker.
Die Stoiker haben unvergleichlich mehr das Lebensproblem gefördert, auch enthält ihre Schule weit mehr innere Bewegung. Wohl beharrte ein Grundcharakter, aber die reine Theorie trat immer mehr zurück, in den nachchristlichen Jahrhunderten gewann die Richtung auf Seelsorge ganz die Oberhand, und es führte der Stoizismus die moralische Reformation, welche das spätere Altertum in Wiederbelebung älterer Ideale unternahm. Unsere Darstellung hält sich an den gemeinsamen Charakter, der alle geschichtliche Bewegung und alle Besonderheit der einzelnen Erscheinungen umspannt.
Die weltgeschichtliche Leistung der Stoa für das Lebensproblem ist die wissenschaftliche Begründung der Moral, die Erhebung der moralischen Aufgabe zu voller Selbständigkeit. Die Stoiker haben an dieser Stelle nicht Überkommenes nur weitergebildet, nicht vorhandene Elemente nur enger verknüpft, sondern eine Moral, wie sie hier sich gestaltet, gab es bisher überhaupt nicht, auch nicht in der sokratischen Schule. Denn wenn die Kyniker das Glück ausschließlich in die Tüchtigkeit setzten, so geschah das unter Geringschätzung aller wissenschaftlichen Forschung und daher ohne Bildung einer entsprechenden Weltanschauung; eine Weltmacht konnte die Moral von da aus unmöglich werden. Wohl aber konnte sie es von den Stoikern her, die kein sittliches Handeln kannten ohne die Grundlage einer wissenschaftlichen Lehre und den Zusammenhang einer Gedankenwelt.
Das stoische Weltbild steht der älteren Denkart näher, als der erste Eindruck erkennen läßt; nur ist alles verblaßt und mehr auf Verstandesüberlegung gestellt. Der Mensch ein Glied der großen Welt, nur nicht in so engem und fruchtbarem Zusammenhange; die Welt ein Reich der Vernunft, weniger aber ein harmonisches Kunstwerk als ein System von logischer Ordnung, strenger Verkettung, zweckmäßiger Einrichtung; der Mensch durch seine Natur getrieben und befähigt, die Allvernunft zu erfassen, aber mehr im allgemeinen Gedanken als in Durchdringung der Wirklichkeit. Auch solche Fassung beläßt dem Denken die Leitung des Lebens. Das All ist viel zu fest gegründet und streng geschlossen, als daß menschliches Tun die Dinge verändern und von ihrem Lauf ablenken könnte. Aber das denkende Wesen kann sich zwiefach zur Welt verhalten. Es besagt einen großen Unterschied, ob man ohne eigene Regung das Weltgeschehen über sich ergehen läßt und unter blindem Zwange das Auferlegte tut, oder ob man sich des Weltgedankens bemächtigt, das Ganze innerlich an sich zieht, seine Notwendigkeiten durchschaut und sie damit in Freiheit verwandelt. Hier ist ein Punkt der eigenen Entscheidung, der zugleich die Geister scheidet. Was geschehen muß, wird geschehen, aber ob es ohne und gegen uns, oder ob es mit unserer Zustimmung geschieht, das verändert ganz und gar den Charakter des Lebens, das macht uns entweder zu Sklaven oder zu Herren der Dinge. Im freien Gehorsam besteht die einzigartige Größe des Menschen, »Gott zu gehorchen ist Freiheit« (Seneca).
Der Weltgedanke kann aber nur dann Befriedigung bringen, wenn die Vernunft des Alls außer Zweifel steht; nur dann hat es guten Grund, die Weltordnung in das eigene Wollen aufzunehmen. So wird ein Hauptstück, ja die Voraussetzung jener Überzeugung die Rechtfertigung der Wirklichkeit, die Überwindung der scheinbaren Unvernunft des ersten Befundes. Namentlich spätere Zeiten stellten oft den Philosophen wie einen Anwalt der Gottheit dar, der sie gegen Anklagen zu verteidigen, die Welt dem Menschen als gut und annehmbar zu erweisen habe. So entspringt der Begriff der Theodizee, dem freilich erst Leibniz den Namen gab.
Bei der Durchführung des Hauptgedankens verbinden und durchkreuzen sich verschiedene Gedankenreihen. Zunächst wird die Idee eines allumfassenden Kausalzusammenhanges und einer durchgehenden Gesetzlichkeit mit solchem Nachdruck verfochten, daß sie von hier in die wissenschaftliche Überzeugung eingegangen ist. Die kausale Ordnung erschien aber den Stoikern zugleich als eine Bekundung göttlichen Waltens; eine Gottheit muß die Welt begründen und durchdringen, ein All, das beseelte Teile hat, muß auch als Ganzes beseelt sein. Die Gottheit hat die Welt für die Vernunftwesen zweckmäßig eingerichtet und in ihre Sorge auch die Individuen eingeschlossen. Was an Bösem vorliegt, ist nur ein Nebenergebnis des Weltlaufs, und auch dies Nebenergebnis wird die Gottheit zum Guten wenden. – Das Unausgeglichene, ja Widerspruchsvolle dieser Gedankengänge bekümmert die Stoiker nicht. Denn ihre Überzeugung entspringt weit weniger wissenschaftlichen Gründen als einem Glauben, dessen ihre geistige Selbsterhaltung bedarf.
Der Gedanke der Weltvernunft kann aber nur dann Freiheit und Glück gewähren, wenn unser ganzes Sein in Denken verwandelt und aus ihm alles entfernt wird, was uns fremden Gewalten unterwirft. Das aber tut das Gefühl mit seinen Affekten, indem es in alle Sorgen und Leiden des Daseins verstrickt. Der Hauptgrund dieser Irrung ist eine falsche Schätzung der Dinge. Denn es haben die Leiden, wie das ganze äußere Dasein eine Macht nur über den, der ihnen eine Wirklichkeit beilegt, »es beunruhigen uns nicht die Dinge, sondern unsere Meinungen von den Dingen« (Epiktet). Solche Irrung zu überwinden und lediglich der rechten Schätzung zu folgen, ist selbst eine Tat, welche die höchste Anspannung unserer Kraft verlangt. So wird das Denken bei sich selbst ein Handeln, es ist keine bloße Lehre, sondern ein unablässiges Wirken, ein Aufrufen unseres Wesens, ein Fernhalten aller Ermattung, es ist mit einem Worte eine Denkhandlung, welche Weisheit und Tugend untrennbar verflicht, ja in Eins verschmilzt. Diese Denkhandlung allein gewährt echtes Glück; wer es draußen sucht und damit von den Dingen abhängig wird, wer Genuß begehrt und damit in Gier und Sorge gerät, ist sicherem Elend verfallen. Nicht nur ein Zuviel der Affekte, sondern aller und jeder Affekt, Lust und Leid, Begier und Furcht, bleibe einer mannhaften Seele fern. Ja, das Mißgeschick wird wertvoll als eine Übung zur Tugend, die in der Ruhe leicht erschlafft; es ist ein Unglück, niemals Unglück zu haben. Die Glücksgöttin pflegt ihre Gunst gewöhnlichen Naturen zu schenken, der große Mann wird zur Überwindung großer Gefahren und Schicksale aufgerufen. Wie zum eigenen Leide, so stelle man sich auch zu fremdem nicht empfindend, sondern handelnd; helfen wir schleunig mit der Tat, unterlassen aber ein mitleidiges Jammern und Klagen, das niemandem frommt! Durchgängig herrsche volle »Apathie«, d. h. nicht eine stumpfe Gefühllosigkeit, sondern eine gänzliche Unnachgiebigkeit, ein Abweisen aller weichlichen Regung.
Solche Befreiung von der Macht des Geschickes enthielte eine Lücke ohne das Recht, das Leben in freier Entscheidung abzuwerfen, sobald es nicht mehr die Bedingungen einer vernünftigen Tätigkeit gewährt. Die Selbsttötung erscheint hier nicht als ein Akt der Verzweiflung, sondern als eine Sache ruhiger Erwägung und eine Betätigung sittlicher Freiheit. Und wie die griechischen Denker ihr Leben ihren Überzeugungen entsprechen ließen, so sind in Wahrheit von den Häuptern der Stoa mehrere freiwillig aus dem Leben gegangen. Der großen Mehrheit der Stoiker bedeutet aber der Tod keinen völligen Untergang. Die Einzelseelen werden fortdauern, bis der periodisch wiederkehrende Weltbrand sie in die Gottheit, den Grund aller Dinge, zurückführt. Aber auch der Gedanke einer völligen Vernichtung schreckt hier nicht. Denn die Länge der Zeit bewirkt keinen Unterschied des Glückes, der Tüchtige besitzt schon jetzt, und solange er lebt, die volle Seligkeit Gottes.
So fügt in der Theorie sich alles leicht und glatt zusammen, das Leben scheint aller Gefährdung entzogen. Aber die Schwere der Aufgabe entgeht den Stoikern nicht. Die freudige Schaffensstimmung, welche die Arbeit der klassischen Denker durchdringt, weicht bei ihnen einem tiefen Ernst, das Leben wird unaufhörliche Arbeit und Mühe. Daß Leben Kämpfen sei ( vivere est militare), ist namentlich von hier in die Bildersprache der Menschheit eingegangen.
Zu kämpfen hat der Denker zunächst gegen seine Umgebung, die der falschen Schätzung der Dinge huldigt; so werde das Urteil des Haufens als gleichgültig erachtet und auch die härteste Paradoxie nicht gescheut. Große Gefahren bringt auch die Kultur mit ihrer Verweichlichung und ihrer wachsenden Überfeinerung; dem wird eine Hochschätzung einfacher Verhältnisse, eines schlichten, ja rohen Naturstands entgegengehalten. Mehr aber als gegen alles Äußere hat der Denker gegen sich selbst, gegen die Gefahren im eigenen Wesen zu kämpfen. Denn der Todfeind echten Glückes, ein leidendes Verhalten zu den Dingen, lauert stets in seiner Brust und lockt zum Abfall vom hohen Ziel; demgegenüber bedarf es ständiger Wachsamkeit und unerschütterlicher Tapferkeit. Solche innere Tapferkeit wird des Tüchtigen Haupteigenschaft, die vollendete Tugend ist Heroismus, Seelengröße. Der Held wächst weit über den Durchschnitt hinaus, der Einsturz der Welt erschüttert ihn nicht, sein Handeln wird der Gottheit ein Schauspiel. Aber auf seiner weltüberlegenen Höhe vereinsamt er gegen Menschen und Dinge, er herrscht weniger über die Welt als er gleichgültig gegen sie wird, er verbleibt in bloßem Erwägen der Tätigkeit, in der Bereitschaft für sie, seine Kraft wird nicht in tätiges Wirken versetzt und dadurch voll angespannt. Auch drängt sich die Frage auf, wie viele in Wahrheit die Höhe des Helden erringen, wie viele die Kraft zur Befreiung finden. Auf diesen einen Punkt der moralischen Kraft haben aber die Stoiker das ganze Leben gestellt. Was bleibt dem Menschen an Hoffnung, wenn hier ein weiter Abstand vom Ziele und ein Unvermögen ersichtlich wird?
So enthält das Lebensbild der Stoiker manche ungelösten Fragen. Aber hinter allem Fraglichen verbleibt ein unverlierbarer Kern von höchstem Werte: die Entdeckung und Entfaltung einer selbständigen Moral. In der Entscheidung für den Weltgedanken, in der Tat des freien Gehorsams erscheint ein Werk des ganzen und inneren Menschen, der Mensch bekundet hier ein Vermögen, sich allen einzelnen Kräften gegenüber zu einer Einheit zusammenzufassen und sein Dasein auf eigene Tat zu stellen. Damit erst erlangt die Innerlichkeit eine volle Selbständigkeit, eine Tiefe der Seele wird freigelegt und zur Hauptsorge des Lebens gemacht. Das ergibt nach verschiedenen Richtungen hin folgenreiche Wandlungen. Nun bekommt die Selbsterkenntnis den Sinn einer Prüfung und Beurteilung des Seelenstandes des Menschen, nun gewinnen Begriffe wie Bewußtsein und Gewissen volle Klarheit und zugleich eine feste Bezeichnung, nun verlegt sich der Wert der Handlung gänzlich in die Gesinnung.
Zugleich wird die unbedingte Überlegenheit der Moral vollauf anerkannt. Durch alle Paradoxie der Ausdrücke schimmern hier einfache und unanfechtbare Wahrheiten durch. Gut darf allein das Sittlichgute heißen, der Tugend gegenüber werden alle anderen Werte des Lebens gleichgültig, nur sie verleiht wahres Glück. Zugleich verschärft sich der Unterschied von Gutem und Bösem zu vollem Gegensatz, alle Vermittlungen und Übergänge werden abgelehnt, das ganze Leben läuft in ein schroffes Entweder – Oder aus. Dabei steht die Wahl nicht bei unserem Belieben. Denn über uns waltet das Weltgesetz und fordert unseren Gehorsam. Kräftiger als je zuvor erhebt sich der Begriff der Pflicht und schafft sich wie einen deutlichen Begriff so eine feste Bezeichnung.
Dieser Verinnerlichung der Lebensführung entspricht ein dem klassischen Altertum fremder Zug ins Weite und Allgemeine; wo die reine Innerlichkeit so sehr zur Hauptsache wird, da verblassen alle Unterschiede vor dem, was allen Menschen wesentlich und gemeinsam ist. Nun können und müssen wir uns als Menschen achten und für einander sorgen, es hält uns weniger der einzelne Staat oder die Nation zusammen als die allumfassende Vernunft, sie erzeugt den Gedanken der inneren Zusammengehörigkeit des Menschengeschlechts, ja den eines idealen Weltstaats. Das ergibt eine universalmenschliche, kosmopolitische Ethik. Was schon die älteren Stoiker darüber lehrten, das haben zu fruchtbarer Ausführung namentlich die Denker der römischen Kaiserzeit gebracht. Die Idee der brüderlichen Zusammengehörigkeit aller Menschen wird eine Macht, das Bild des Organismus wird vom Einzelstaat auf die ganze Menschheit ausgedehnt, und es erscheinen alle Vernunftwesen als Glieder eines einzigen Körpers; auch in dem Geringsten sei das Menschenwesen geachtet und selbst im Feinde der Mensch geschätzt. So entwickelt sich der Plato und Aristoteles noch fremde Begriff der Humanität ( φιλανθρωπία), sowie der Gedanke einer gemeinsamen Menschenwürde jenseits des Zufalls der Geburt und der gesellschaftlichen Stellung. Alle Menschen sind Bürger des einen Weltreichs der Vernunft, »die Welt ist das gemeinsame Vaterland aller Menschen« (Musonius), »zu Heimat und Vaterland habe ich als Antoninus Rom, als Mensch das All« (Marc Aurel). Die Wendung zur Religion steigert die Wärme solches Gefühles: als Kinder Eines Vaters sollen wir brüderlich zusammenhalten, uns gegenseitig lieben und fördern. Von da ergießt sich ein Strom humaner Gesinnung auch in die allgemeinen Verhältnisse und wirkt zur Milderung der Sklaverei, zur Sorge für Arme und Kranke. Auch wird jetzt über den besonderen Gesetzen der einzelnen Staaten ein gemeinsames, unveränderliches Naturrecht anerkannt und ausgebildet, von dessen Wirken das römische Recht deutliches Zeugnis ablegt. Aber auch der einzelne Staat erhält hier mehr Schätzung und Arbeit.
Darin freilich hat die stoische Denkart eine Schranke, daß alle Leistung innerhalb einer gegebenen Welt verbleibt; es wird nicht die Begründung einer neuen Lebensordnung und eine Verbindung der einzelnen Kräfte zum Kampf gegen die Unvernunft versucht. Auf antikem Boden bleibt jene Bewegung zur Humanität und zum Weltbürgertum mehr eine Sache persönlicher Überzeugung und subjektiver Stimmung, als daß sie einen gemeinsamen Aufbau anregt. Aber auch jenes hat seinen Wert, es hat allen weiteren Fortgang vorbereitet.
Die Geschichte der Stoa gehört nicht in unseren Plan. Nur das sei bemerkt, daß der Verlauf der Jahrhunderte die Probleme und Mißstände des Ganzen immer sichtlicher hervorgetrieben hat: den Abstand zwischen dem hochgespannten Ideal und dem wirklichen Benehmen des Menschen, den Mangel eines vordringenden Schaffens, die Vereinsamung des Individuums, die starre Unterdrückung der Gefühle. Schon von früherer Zeit her fehlte es nicht an Anbequemungen, an Ermäßigungen der strengen Forderungen, aber diese erzeugten neue Verwicklungen. Indem die Stoiker sich von dem hohen Lebensideal des Weisen zu Regeln für den Durchschnittsmenschen bequemten, wurden sie die Urheber der bedenklichen Lehre von einer doppelten Moral; indem sie statt einer streng wissenschaftlichen Ableitung irgendwelche annehmbare Empfehlung ( probabilis ratio) als ausreichende Begründung anerkannten, haben sie den nicht minder bedenklichen Probabilismus aufgebracht.
Aber bei allen Widerständen und Verwicklungen hat die Stoa tapfer und treu im Kampf ausgehalten und namentlich in den ersten christlichen Jahrhunderten den Kern einer moralischen Reformation gebildet. Wohl konnte auch ihre Arbeit sich der veränderten Zeitlage nicht entziehen, die immer dringlicher, immer stürmischer das Glücksproblem in den Vordergrund rief. Den Stoikern der römischen Kaiserzeit wird die Philosophie vor allem ein Halt und Trost gegen die Unruhen, Sorgen und Leiden des Daseins; die Einkehr in das eigene Innere, die Belebung des Göttlichen, das jedem Menschen innewohnt, verheißt eine Befreiung von allem Übel und den Gewinn eines reinen Glücks. Der Gedanke überfliegt alle Zeit und Sinnenwelt und weidet sich an der Ewigkeit einer unsichtbaren Ordnung. Aber aller Aufschwung des Geistes, alle Selbstzusprache des Weisen überwindet nicht völlig ein Gefühl der Leere und Nichtigkeit unseres Daseins, es dringt unaufhaltsam vor. So sehen wir z. B. den Kaiser Marc Aurel, den letzten bedeutenden Stoiker, von widerstreitenden Stimmungen hin und her geworfen. In den Selbstgesprächen, die den Monolog in die Weltliteratur eingeführt haben, und die zu den bleibenden Besitztümern der Menschheit gehören, preist er oft die Herrlichkeit der Welt und die Größe des Menschen. »Die Seele durchwandert die ganze Welt und das Leere um sie und ihren Gesamtbau, und sie erstreckt sich in die unendliche Ewigkeit und umfaßt die periodische Wiederkehr aller Dinge«. Die Ewigkeit kann uns zur vollen Gegenwart werden. Denn in die gegenwärtige Handlung läßt sich das ganze Leben, läßt sich Vergangenheit und Zukunft zusammenfassen. So soll der Mensch sich über alles Kleine erheben und »wie auf einem Berge leben«. Aber der Gedanke des Besitzes der Ewigkeit kann sich auch dahin wenden, daß er das ganze zeitliche Leben gleichgültig macht und dem Handeln allen kräftigen Antrieb nimmt. Alle Mühe und alle scheinbare Wandlung bringt gar nichts Neues. »Wer das Jetzt gesehen hat, hat alles gesehen, was von Ewigkeit war, und was in Ewigkeit sein wird. Denn alles ist gleichartig und gleichförmig«. »Wer vierzig Jahre alt ist, hat, wenn er nur einigen Verstand besitzt, gewissermaßen alles Vergangene und Zukünftige gesehen gemäß seiner Gleichartigkeit«. Wo aber so sehr alle Spannung verschwindet, da wird unser Dasein nichtig: »die Welt ist ein steter Wandel und das Leben bloße Meinung«. Ja diese Nichtigkeit wird zum sichersten Schutz gegen alle Gefahren und Aufregungen, es erwacht die Neigung, unser Leben mit allen Leiden und Freuden als völlig belanglos darzustellen. »Die ganze Erde ist ein Punkt«, »alles Menschliche ist Rauch«, »das menschliche Leben ist ein Traum und eine Wanderschaft in der Fremde«, »bald wird die Ewigkeit alles bedecken«.
Das sind Stimmungen einer müden und matten Zeit; wo der Mensch so gering von sich selbst und seiner Aufgabe denkt, da muß aller Lebensmut zusammenbrechen, da läßt sich einer inneren Verödung des Lebens sowie einem jähen Sinken der Kultur nicht widerstehen. Die Gedankenwelten der Lebensweisheit hatten ihre Zeit gehabt. Sie genügten für eine Epoche reicher und gesättigter Kultur. Hier haben sie dem Individuum seine eigene Seele erschlossen, neue Tiefen in ihr entdeckt, dem Menschen in sich selbst einen Halt, ja eine Weltüberlegenheit gezeigt. Sie haben sich eifrig der sittlichen Bildung der Menschheit angenommen, sie haben nicht nur Schriften hervorgebracht, die in weite Kreise drangen und zur Kräftigung der Überzeugungen wirkten, sie haben auch dem Leben gefeierte Vorbilder geliefert. »In einer Zeit, wie es die hellenistische war, – angefüllt von widerstreitenden Interessen und wilden Kämpfen –, haben jene Männer, die durch äußere Einflüsse unbeirrt und ungebeugt ihren hohen Lebensidealen nachgingen, sittlich erbauend gewirkt und den Glauben an die hohe Bestimmung und die moralische Kraft menschlicher Natur erhalten und stärken helfen« (Kaerst). Aber dies Wirken konnte bei aller Tüchtigkeit nicht mehr genügen, sobald der gesamte Kulturstand ins Wanken geriet und die Menschheit um ihr geistiges Dasein zu kämpfen hatte; gegenüber der Forderung durchgreifender Wandlungen versagte diese gelassene Lebensweisheit. Jedoch hat sie fruchtbar weit über den nächsten Kreis und die eigene Zeit hinaus gewirkt. Aus der stoischen Ethik schöpfte sowohl das alte Christentum viel, als die moderne Aufklärung sie neu belebte; denn bei aller Veränderung der Lage bleiben Denker wie Hugo Grotius, Descartes, Spinoza, auch Kant und Fichte auf ethischem Gebiete Gesinnungsgenossen, ja Schüler der Stoiker. Nicht nur sind einzelne Werke dieser Schule Zierden der Weltliteratur, auch das Ganze der hier entwickelten Lebensanschauung bildet einen selbständigen Typus kräftiger und hochgesinnter Art, der das menschliche Streben dauernd begleitet.