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Erster Teil.
Das Griechentum.

A. Die Denker der klassischen Zeit.

1. Vorbemerkungen über die griechische Art und Entwicklung.

Ein Versuch, die Darstellung der griechischen Denker mit einigen Bemerkungen über die griechische Art und Entwicklung einzuleiten, muß die Gefahren deutlich vor Augen haben, die einem solchen Unternehmen der gegenwärtige Stand der Forschung bereitet. Die geschichtliche Denkweise mit ihrer Unbefangenheit, Weite und Beweglichkeit hat sich erst neuerdings dieses Gebietes voll bemächtigt und die ältere Art der Behandlung verdrängt. Gefallen ist die Orthodoxie des Klassizismus, welche im ganzen Altertum einen einzigen Typus sah und diesen stilisierten und idealisierten Typus den späteren Zeiten als etwas Unerreichbares und Unantastbares vorhielt; gefallen ist der schroffe Gegensatz zwischen »Alten« und »Neuen« und zugleich die Neigung bei jenen vorhanden zu denken, was diese bei sich selbst vermißten. Jener Klassizismus wurde zu eng, indem er das ganze griechische Leben an einen einzigen Höhepunkt band, zu starr, indem er diese Höhe weniger aus ihrem Werden verstand als in ihr eine erstaunliche Schicksalsgabe bewunderte, er drohte auch den schaffenden Geistern Unrecht zu tun, indem er ihre Leistung als einen bloßen Ausfluß einer durchgehenden Volksart behandelte und vieles als eine Wirkung dieser verstand, was in Wahrheit eine mit härtestem Kampf verbundene Gegenwirkung war. Auch die Betrachtung der Denker kann nur gewinnen, wenn demgegenüber die geschichtliche Denkweise das Werden mit seinen Bedingungen und Hemmungen, die Fülle der Bildungen mit ihren Gegensätzen und Kämpfen, die beträchtlichen Wandlungen der Jahrhunderte, das Erscheinen moderner Elemente schon im Altertum aufweist, uns das Ganze damit durchsichtiger macht und der Starrheit einer absoluten Schätzung eine mehr relative entgegenhält.

Aber die Verwicklung reicht noch weiter, auch das Griechentum als Ganzes hat Probleme gezeigt, an die man früher nicht dachte. Wir hatten uns daran gewöhnt, es als eine geschlossene und selbständige Welt zu behandeln, die erst bei ihrem Sinken fremden Einflüssen zugänglich wurde. Jetzt eröffnen sich auch für die früheren Zeiten immer mehr Zusammenhänge, namentlich mit dem Orient, die weltgeschichtliche Perspektive hat sich verschoben, die Schuld an Fremdes sich vergrößert, auch das eigene Leben zeigt weit mehr dunkle Tiefen. Aber solche Betrachtung in weiteren Zusammenhängen läßt die eigentümliche Leistung des griechischen Geistes eher größer als kleiner erscheinen, indem sie weit mehr freier Entscheidung und eigner Tat zuerkennt, was früher eine Gabe von Natur und Schicksal dünkte. Auch unsere Darstellung darf nie vergessen, daß sie keineswegs Durchschnitte schildert, sondern geistige Bewegungen vorführen soll, die der Welt der Arbeit und Bildung, nicht der Breite des Alltags angehören. Das aber heißt nicht bestreiten, daß das geistige Schaffen jenes großen Kulturvolks durch alle Mannigfaltigkeit, allen Wandel, allen Streit hindurch gemeinsame Züge trägt; diese hat sich gegenwärtig zu halten, wer die Leistungen der Einzelnen verstehen und würdigen möchte.

Nichts fällt beim Schaffen der Griechen mehr ins Auge als die Lebensenergie, der Trieb alle Kraft zu entfalten, die Lust am Wirken und Bilden. Die Tätigkeit bedarf zur Empfehlung hier keines Lohnes, sie reizt und erfreut durch sich selbst. Sich tätig zu den Dingen zu verhalten, das war stets der Kern der griechischen Weisheit. Aber die Tätigkeit ist an erster Stelle dem Gegenstande zugewandt und sucht mit ihm in Einklang zu kommen, sie ist nicht vornehmlich gegen sich selbst gekehrt und mit dem Befinden ihres Trägers beschäftigt; daher findet sich hier kein fruchtloses Sichvergrübeln, kein Verweilen bei leerer Stimmung, vielmehr drängt es stets vom seelischen Zustand ins Wirken hinein. Hält dieses uns aber mit den Dingen eng zusammen, so entsteht ein fruchtbarer Austausch, Seele und Gegenstand bilden sich durcheinander weiter. Die griechische Art beseelt die Umgebung, sie wirft überallhin einen Abglanz menschlichen Lebens. Da sie aber die Eigentümlichkeit der Dinge nicht unterdrückt, so wirken diese auf jenes Leben zur Bildung, Klärung, Veredlung zurück. Daher ist das Beseelen der Umgebung bei den Griechen vornehmer und fruchtbarer als bei anderen Völkern, das Menschliche läutert sich durch die Spieglung im All und überwindet anfängliche Roheit.

Zugleich wird die Tätigkeit zur Wehr und Waffe in den Gefahren und Nöten des Daseins. Dem Schicksal gegenüber verhält sich der Grieche nicht leidend, sondern handelnd, er sucht ihm eigene Kraft entgegenzusetzen, im Lebenskampf sein Vermögen zu stählen und eine Größe zu erringen. Aber die Griechen haben dabei nicht das Dunkle und Böse leicht genommen; wie ihr Leben keineswegs das Bild sonniger Heiterkeit bietet, so huldigt auch ihr Denken keineswegs einem flachen Optimismus. Eben wer tätiger Art ist, aber zugleich eine Tiefe der Seele hat, wird den Widerstand der Welt schwer empfinden; nur das ist die Frage, ob er sich dem Widerstande ergibt oder sich gegen ihn behauptet. Das letztere haben die Griechen getan. Aber sie hätten dem Schicksal nicht einen so hohen Platz in ihrer Gedankenwelt einräumen und das Einhalten des Maßes als tiefste Weisheit, sein Überschreiten als schwersten Frevel erklären können, wären sie sich nicht der Schranken menschlichen Vermögens deutlich bewußt gewesen. Ein solches Bewußtsein aber muß das Leben mit tiefem Ernst erfüllen, es verbietet alles vergnügliche Zufriedensein. In Wahrheit haben die Zweifel, Sorgen und Leiden des Lebens die Griechen unablässig beschäftigt und oft zu bitteren Klagen getrieben. Aber ergeben haben sie sich ihnen nicht, mit Aufbietung immer neuer Kraft haben sie ihnen überlegen zu werden gesucht. Um den Widerständen gewachsen zu sein, hat der griechische Geist immer mehr am Weltbilde wie am Menschen zu verändern gehabt, er hat sich immer mehr in einer Innenwelt befestigen müssen, um sich tätig verhalten zu können. Aber das Griechentum hat den Weg dahin gefunden, solange es sich selbst erhielt, es hat aus einem solchen tätigen Benehmen immer neuen Mut geschöpft und auch bei wachsender Verdunklung der sichtbaren Welt einen Sinn des Ganzen behauptet. So blieb in allen Kämpfen und Wirren der endgültige Sieg dem Ja, aber er tat es durch vielfache Verneinung hindurch und blieb daher allem Übermut fern.

Wie der griechische Mensch in der Tätigkeit seinen Halt sucht, so atmen auch seine Werke Leben und Tätigkeit. Als Lebewesen, als beseelte Individuen erscheinen hier die menschlichen Gemeinschaften, vornehmlich der heimatliche Staat; auch den Werken der griechischen Kunst ist nichts eigentümlicher als das Erfülltsein von seelischer Bewegung. Bis in die kleinsten Elemente erstreckt sich solche Beseelung, auch sonst Starres und Totes zeigt hier einen Pulsschlag inneren Lebens.

Schon jene freundliche Stellung der Tätigkeit zu den Dingen läßt erwarten, daß sie sich dem Reichtum der Wirklichkeit anschmiegt und zugleich sich selbst aufs reichste verzweigt. In Wahrheit sehen wir die Kulturarbeit mit wunderbarer Weite alle Gebiete ergreifen, die Erfahrungen eines jeden würdigen, aller Eigentümlichkeit ihr Recht gewähren. Bewegungen, die sonst leicht sich verfeinden, erhalten hier gleiche Liebe und Kraft; alle Hauptrichtungen der späteren Kulturentwicklung bis in die Gegenwart hinein sind hier im Keime vorhanden. Wer das bestreitet und den Griechen etwa in der Religion oder im Recht, in der strengen Wissenschaft oder im technischen Erfinden, auch in dem des Krieges, eine Größe abspricht, der wendet fremde Maßstäbe an, oder er hält sich an einen einzigen, allein als klassisch gefeierten Abschnitt. Namentlich verweilte die Betrachtung der Neueren oft zu ausschließlich bei dem, was das Größte sein mag, aber keineswegs das Einzige ist: bei der Kraft der Synthese, dem künstlerischen Bilden zum Ganzen. Aber auch eine Größe nüchterner Beobachtung, scharfsinniger Analyse, scheidender Reflexion gehört zum Bilde griechischen Wesens.

Bei solcher Weite wird die Arbeit des Ganzen nicht durch die besondere Natur eines einzelnen Gebietes bedrückt und beschränkt, sondern sie ist frei und biegsam genug, um von allen Seiten her aufzunehmen und sich selbst in frischem Fluß zu halten. Diese Elastizität macht eine reiche Geschichte möglich, eingreifende Wendungen können erfolgen ohne einen schroffen Bruch mit der eigenen Art und ohne eine Aufhebung alles Zusammenhanges. Nichts schied den Griechen in seiner eigenen Überzeugung so sehr von den Barbaren als die Weite und Freiheit seines Lebens gegenüber der Starrheit und Befangenheit jener.

Zur Freiheit gesellt sich die Klarheit. Was immer den Menschen berührt und bewegt, was ihm von außen zufällt, und was von innen her aufsteigt, es soll vollauf durchsichtig werden. Erst wenn es alle Dunkelheit des Anfanges überwunden hat und hell vor unserem Auge steht, gilt es als unserem Leben einverleibt und von unserer Tätigkeit angeeignet.

Es spaltet sich aber dieses Streben in zwei Bewegungen, die einander ergänzen und bekämpfen, suchen und fliehen: eine wissenschaftliche und eine künstlerische, eine logische und eine plastische.

Einmal ein eifriger Drang zu begreifen und zu verstehen, durch mutvolles Denken alles Dunkel aufzulösen. Hier gilt es, das vorgefundene Nebeneinander zu überwinden, die Vorgänge zu verketten, die verschiedenen Lebensäußerungen auf einen gemeinsamen Grund zurückzuführen, aus allem Wechsel und Wandel beharrende Größen herauszusehen. Ein solches Streben wirkt schon lange vor Ausbildung der Wissenschaft, schon die ältesten literarischen Schöpfungen enthalten, wenn auch verschleiert, den Gedanken einer umfassenden Ordnung der Dinge, eine Abweisung vager und blinder Willkür. Jenes Streben kann aber nicht weiterkommen und sich zur Wissenschaft steigern, ohne daß sich das Weltbild vom Sichtbaren ins Unsichtbare verschiebt; ja das Denken wird schließlich stark genug, um lediglich sich selbst zu vertrauen und seiner Forderung eines echten Seins die ganze sinnliche Welt aufzuopfern, sie zur Erscheinung, ja zum bloßen Scheine herabzusetzen. So werden die Griechen die Schöpfer der Metaphysik, weit über die Schulwissenschaft hinaus ist ein metaphysischer Zug ihrer Arbeit eingepflanzt, Weltgedanken durchdringen ihr Leben und Schaffen und geben ihm eine wunderbare Größe. Auch im eigenen Seelenleben drängt es sie zwingend zu klarer Bewußtheit, alles Streben hat Grund und Rechenschaft abzulegen, ein kräftiges Denken soll alles Handeln begleiten und leiten. Ja, die Einsicht wird zur Seele des Lebens, an rechter Erkenntnis scheint alles Gute zu hängen, das Böse aber dünkt ein intellektuelles Verfehlen, ein Irregehen im Urteil.

Aber der Ausschließlichkeit des Denkens und einem einseitigen Rationalismus widersteht sicher ein Zug zur sinnlichen Anschauung und künstlerischen Gestaltung. Der Grieche will nicht bloß begreifen, er will auch schauen, er will das Bild im Eindruck erfassen und in sinnlicher Gegenwart halten; zum strengen Denken gesellt sich die leichtbeschwingte Phantasie, auch sie auf der Höhe des griechischen Schaffens nicht blinde Willkür, vielmehr unverwandt auf Maß, Ordnung, Harmonie gerichtet. Hier drängt alles zur vollausgeprägten Gestalt und zu festem Stile, alle Bildung wird nach draußen hin abgegrenzt und in sich selbst gegliedert, alle Verhältnisse werden abgewogen und festgelegt, alles Einzelne empfängt seine Grenze, indem es eine Grenze setzt. Die Ausbreitung dieses Wirkens über die Welt verwandelt das ungefüge Chaos des Anfangs in einen herrlichen Kosmos, sie duldet nichts Ungeformtes und Fratzenhaftes. Im besonderen will hier das Auge angeregt und befriedigt sein, erst sein Schauen führt die Schönheit zu ihrer eigenen Vollendung. Eine solche Denkart duldet keine Kluft zwischen Innerem und Äußerem, ihr genügt nicht ein traumhaftes Ahnen oder symbolisches Andeuten, auch ist die Darstellung ihr nicht eine nachträgliche Zutat, sondern ein Erringen des eigenen Wesens. Dies Verlangen nach Anschauung führt die Arbeit immer wieder zur sichtbaren Welt zurück und hält sie bei dieser fest, die Vielheit der Dinge, die dem Denken vor der begehrten Einheit zu verschwinden droht, behauptet hier ein unangreifbares Recht, als Zwillingsschwester gesellt sich zur strengen Wahrheit freundlich die Schönheit. Die Verbindung beider, die plastische Gestaltung geistiger Kräfte, bildet die Höhe der griechischen Arbeit. Diese behütet das Streben nach Wahrheit sicher davor, sich von den Dingen abzulösen und ins Grenzenlose zu verlieren, dem künstlerischen Bilden aber gibt sie einen geistigen Gehalt und verschmäht bloßen Reiz und Genuß. Solche Wechselwirkung verleiht dem Ganzen eine innere Bewegung, ein unerschöpfliches Leben, eine unversiegliche Frische. So stellt es uns namentlich Plato vor Augen.

Schon diese wenigen Züge erweisen eine durchaus eigentümliche Art, sie bekundet sich auch in der Arbeit der Denker und der Gestaltung von Lebensbildern. Es erscheinen aber ausgeführte Lebensanschauungen philosophischer Prägung, wie sie uns hier beschäftigen sollen, erst spät, und als sie erscheinen, ist ein tüchtiges Stück geistiger Arbeit und innerer Befreiung schon getan. Das Werden und Wachsen jener eigentümlichen Art näher zu verfolgen, verhindert leider das Dunkel, das auf den früheren Zeiten und noch auf den inneren Bewegungen des achten und siebenten Jahrhunderts liegt, aber im sechsten ist jene deutlich entfaltet, und das fünfte bringt ihren vollen Sieg. Alle Hauptgebiete hat nun der Geist der Befreiung und Veredlung ergriffen.

So zunächst die Religion. Wohl bleiben die alten Götter in Ehren, aber ihr überkommenes Bild erfährt eine scharfe Kritik. Anstoß und Zorn erregt, was daran geläuterten sittlichen Begriffen widerspricht; es fehlt nicht an offenem Kampf, aber auch in leiserer Art, vielleicht kaum bemerkt, vollzieht sich eine Verschiebung ins Geistige und ins Ethische. Zugleich wird mehr Einheit gesucht; so wenig die Vielheit der Göttergestalten verschwindet, sie ist kein bloßes Nebeneinander mehr, durch alle Mannigfaltigkeit schimmert Eine Gottheit hindurch. Zugleich erscheinen Keime neuer Entwicklungen, Entwicklungen nach verschiedener, ja widerstreitender Richtung. Von der Forschung her ein pantheistischer Zug, die Überzeugung von einem allumfassenden Leben, einer unpersönlichen Gottheit, der auch die Seele des Menschen entstammt, und zu der sie nach vollbrachtem Lebenslauf zurückkehren wird. Aus einer tieferen Empfindung der Ungerechtigkeit irdischer Dinge hingegen und aus der Sorge um das eigene Heil ein Aufstreben über das nächste Dasein, eine Befreiung der Seele vom Körper, der Glaube an ein persönliches Weiterleben und die Hoffnung eines besseren Jenseits. So in den Kreisen der Orphiker und der Pythagoreer, wohl in Zusammenhang mit älterer Volksvorstellung.

Zugleich hatte auch das ethische Leben mehr Selbständigkeit und Innerlichkeit gewonnen, im besonderen war der Gedanke des sittlichen Maßes mächtig geworden. Förderlich wirkt hierher und überhaupt zur Vertiefung des Seelenlebens die Poesie, weit über die Spruchweisheit der Dichter hinaus. Die Wendung zur Lyrik ruft neue Gefühle hervor und steigert die innere Bewegung; die Liebe, der Eros, strebt zum Ausdruck in der bildenden Kunst wie in der Dichtung. Je innerlicher und gedankenreicher aber das Leben wird, desto schwerer werden die Probleme, desto stärker werden die Widersprüche des menschlichen Daseins empfunden. Das Drama nimmt diese Probleme mutig auf und zieht in seiner Weise die Summe des menschlichen Schicksals. Bevor die Philosophie dem Leben einen Halt gewährte, waren die Dichter die Lehrer der Weisheit, ein Mittelglied zwischen der alten Überlieferung und der Gedankenwelt späterer Zeiten.

Auch die Wandlungen im Staatsleben verändern die menschliche Lage. Die Wendung zur Demokratie treibt die Individuen zur Aufbietung und Nutzung aller Kräfte, die gegenseitigen Berührungen wachsen, der Lebensprozeß beschleunigt sich. Die überlieferte Ordnung wird jetzt nicht mehr als selbstverständlich hingenommen, die Gegensätze werden gesammelt und dabei umgebildet, das Prüfen des Bestehenden erweckt allgemeine Probleme, man beginnt die Einrichtungen anderer Staaten zu vergleichen und mit eigenem Denken neue Wege zu bahnen. Zugleich erweitert sich das Leben auch äußerlich durch den Aufschwung von Handel und Verkehr, namentlich aber durch die Gründung von Kolonien, die kraft der Berührung mit fremden Kulturen auch geistig in Aufstieg kommen. Es ist kein Zufall, daß die Philosophie in den Kolonien entsprang.

Mit der Art des Lebens verändert sich auch der Anblick der Welt. Die Philosophie, die bei den Griechen nicht vom Menschen und seinem Glück, sondern vom All beginnt, will die Welt aus ihren eigenen Zusammenhängen, auf natürliche Art verstehen, sie dringt auf einen beharrenden Grund oder auf feste Maßverhältnisse; sie muß mit dem ersten Eindruck brechen und das Anschauungsbild zerstören, aber ihre Arbeit baut mit sicherem Zuge für das Wesentliche die Welt wieder auf, in Entwürfen, deren geniale Einfalt immer von neuem zur Bewunderung zwingt, mit Gedanken, deren Größe die Gemüter noch immer entzückt. Weniger ein direkter Angriff als die Ausbildung einer wissenschaftlichen Überzeugung überwindet hier sicher die mythologische Denkart. Aber in die rationale Arbeit wirken beseelend religiöse Gedanken älteren Ursprungs hinein und geben ihnen größere Wucht. Die Hauptprobleme und Hauptgegensätze der Weltbetrachtung werden deutlich herausgearbeitet und zu dauernden Typen festgelegt; dabei erscheint ein rascher Fluß der Bewegung, jede Behauptung erweckt bald ihren Gegensatz, in sicherem Zuge erhöht sich der Stand des Ganzen.

Dem Streben nach einem eigenen Zusammenhange der Dinge dient weiter die Astronomie, in der freilich orientalische Einflüsse unverkennbar sind. Indem sie in den Bewegungen der Gestirne Beständigkeit und Gesetzlichkeit erkennen läßt, im Weltbau feste Ordnungen aufdeckt und das Ganze zu einem Kosmos verbindet, verbietet sie auch dem Göttlichen alle Willkür und bindet es an ein überlegenes Gesetz. Deutlicher als alle Wunder es könnten, verkündet die eigene Ordnung der Dinge eine Weltvernunft. – Daß aber eine solche Vernunft nicht nur im Großen waltet, sondern mit Zahl und Maß auch in das Kleine hineinreicht, das zeigt in überraschender Weise die Entdeckung der Schwingungszahlen der Töne. – Einen starken Einfluß auf die Weltanschauung übt auch die Medizin. Nicht nur auf ihrem eigenen Gebiet treibt die Beobachtung des Menschen sie zu einer genaueren Ermittlung der ursächlichen Zusammenhänge, ihre Arbeit schärft überhaupt das kausale Denken, sie enthüllt die enge Verbindung des Menschen mit der Natur, sie erkennt in ihm ein Abbild des Alls, den Mikrokosmos, der an allen Hauptsäften und -kräften der großen Welt Anteil hat.

Endlich wird auch das eigene Leben und Tun der Menschheit in das Licht einer unbefangenen Betrachtung gestellt. Die Geschichtsschreibung hat ihre Selbständigkeit kaum gefunden, als sie auch einen kritischen Geist entfaltet, an den Überlieferungen sondert und sichtet, in der Beurteilung unserer Schicksale das Übernatürliche mindert und zurückdrängt. Wohl bewahren dabei die Autoren selbst eine fromme Scheu vor den unsichtbaren Mächten, aber der Zug der Arbeit geht dahin, die Erlebnisse aus der Verkettung von Ursache und Wirkung zu verstehen und das Schicksal an die eigene Tat zu knüpfen.

Die gleichzeitige Entwicklung aller dieser Bewegungen bietet ein wundervolles Schauspiel, wie es die Geschichte an keiner anderen Stelle gewährt. Mit unvergleichlicher Kraft und Frische erfolgt ein sicherer Aufstieg von traumhafter Befangenheit und kindlicher Gebundenheit zu einem wachen, freien, männlichen Lebensstande; immer selbständiger wird das Innere, immer mehr weicht die Enge bloßmenschlicher Art einem Leben mit dem All. In solchen Wandlungen regt und hebt sich das Kraftgefühl, ausgeprägte Individuen erscheinen und verfechten ihre Besonderheit, eine geistige Unruhe ergreift die Welt. Allgemeine Probleme brechen hervor und bewegen das Denken, überall ein Drang nach Klärung, Begründung, geistiger Durchdringung, ein rasches Wachstum intellektueller Arbeit und allgemeiner Bildung.

Aber aller Aufstieg des Neuen und alles Versinken des Alten ergibt zunächst keinen schroffen Bruch und keine völlige Umwälzung. Im Erstarken des eigenen Vermögens hat sich der Mensch noch nicht von den Dingen losgerissen und ihnen keck entgegengestellt, er hat die gemeinsamen Ordnungen noch nicht abgeschüttelt. Noch war die Zeit nicht gekommen, wo das Subjekt lediglich seiner eigenen Kraft vertraut und sich kühn allem Nicht-Ich entgegenwirft.

Aber diese Zeit mußte kommen, und sie kam. Die Verstärkung des Subjekts, die jede geistige Bewegung großen Stils vollzieht, wird schließlich in erregbaren und beweglichen Geistern das Gefühl einer unbedingten Überlegenheit und vollen Selbstherrlichkeit erzeugen; mit solcher Wendung wird die geistige Befreiung zur Aufklärung, und diese muß sich, solange ein Gegengewicht fehlt, immer radikaler gestalten. Das Denken wird zu freischwebender Reflexion, die nichts anerkennt, was nicht in ihre Maße aufgeht; es wirkt damit zur Auflösung und Verflüchtigung, es wird vornehmlich ein Feind alles geschichtlichen Befundes. Denn was immer von alter Übung und Sitte es vor seinen Richtstuhl zieht, das ist schon durch die Ladung gerichtet und verdammt. Entspricht diesem Zerstören kein Aufbau, so muß das Leben immer mehr ins Leere geraten und in eine Krise treiben.

Solche Wendung zu einer radikalen Aufklärung bringen den Griechen die Sophisten. Ihre gerechte Würdigung ist schon deshalb schwer, weil ihr Bild uns vornehmlich durch ihren schroffsten Gegner überliefert ist, und dessen Folgerung sich leicht als ihre eigne Behauptung gibt. Vor allem waren die Sophisten nicht Theoretiker, reine Philosophen, sondern Lehrer, Lehrer aller Geschicklichkeit für das praktische Leben, für das Handeln wie das Reden. Sie wollten ihre Schüler dazu bilden, in der Gesellschaft etwas zu leisten, sie wollten sie namentlich durch Entwicklung rhetorischer und dialektischer Gewandtheit anderen Menschen überlegen machen. Das entsprach einem starken Bedürfnis der Zeit und hat zur Erweckung und Bildung der Geister gewirkt. Aber mit dem Schätzbaren verschlang sich eng Angreifbares, ja Verkehrtes. Denn alles Wirken bekennt hier die Überzeugung, daß keine sachliche Wahrheit besteht und uns keinerlei überlegene Ordnungen binden, daß vielmehr alles an der Meinung und Neigung des Menschen hängt. So ward der Mensch zum »Maß aller Dinge«. Dieses Wort läßt sich verschieden deuten und wohl auch als ein Ausdruck tiefer Weisheit verstehen. Aber in jenen Zusammenhängen, wo Zufälliges und Wesentliches im Menschen noch nicht geschieden war, und sich noch kein Begriff der Menschheit vom Nebeneinander der Individuen abgehoben hatte, besagte es einen Verzicht auf alle allgemeingültige Norm, eine Preisgebung der Wahrheit an das jeweilige Belieben und die schwankende Neigung der Einzelnen. Je nach dem Standort, dem Gesichtspunkt, wie es heute heißt, läßt sich alles hierher oder dorthin wenden, so oder anders schätzen, läßt sich was als Recht erscheint, auch als Unrecht darstellen und umgekehrt, läßt sich jeder beliebigen Sache zum Siege verhelfen. So verwandelt sich das Leben mehr und mehr in Nutzen, Genuß, ja Spiel des bloßen und leeren Subjekts, das Individuum kennt keine Schranke und Scheu, der Kraftmensch versteht alle Ordnungen als bloße Satzungen für die Schwachen und hält ihnen die Macht und den Vorteil des Stärkeren als das wahre Naturrecht entgegen. So weicht das Gute dem Nützlichen, die Überzeugung verliert allen festen Halt, das Handeln alles überlegene Ziel, das veredeln und Ehrfurcht erwecken könnte. Gewiß hat auch ein solcher Relativismus ein Recht, jede Gedankenwelt hat sich mit ihm auseinanderzusetzen. Aus eigner Art aber wirkt er allem Großen und Wahren entgegen. So wird seine Entwicklung zu einer Selbstzerstörung, sein bewegliches und witziges Treiben führt immer weiter abwärts und endet schließlich in Frivolität. Nichts aber erträgt die Menschheit auf die Dauer weniger als solche spielende Behandlung der Hauptfragen ihres Glückes und ihrer geistigen Existenz.

Aber die Sophisten sind leichter zu tadeln als zu besiegen. Die Befreiung des Subjekts ist nicht wieder zurückzunehmen, sie hat aller bloßen Autorität ihre Überzeugungskraft geraubt. Zu überwinden ist diese Lage nur durch eine innere Weiterbildung des Lebens, nur dadurch, daß der Mensch in sich selbst neue Zusammenhänge und Ordnungen entdeckt, daß in seiner eigenen Seele eine Welt aufsteigt, die ihn von der Willkür befreit und bei sich selbst befestigt. Daß die griechische Philosophie dies vollbracht hat, das ist ihr größtes Verdienst, und das bedeutet zugleich ihre Höhe.

Sokrates bringt diese Bewegung in Fluß. Die Art seines Wirkens ist äußerlich den Sophisten so verwandt, daß das Urteil vieler Zeitgenossen ihn mit jenen zusammenwarf. Auch er wirkt als Lehrer und will die Jugend für das Leben bilden, auch er reflektiert und räsonniert, auch er will alles vor der Vernunft begründet haben, auch ihm wird der Mensch zur Hauptsache; so scheint er ein Aufklärer wie die anderen. Aber er erreicht einen festen Punkt, von dem aus sich ihm alles Denken und Leben verwandelt. Er entdeckt und verficht mit ganzer Seele den tiefen Unterschied zwischen den bunten und wechselnden Meinungen der Menschen und dem wissenschaftlichen Denken. In dessen Begriffen erscheint etwas Festes, Wandelloses, Allgemeingültiges, das zwingend wirkt und alle Willkür fernhält. Das ganze Leben wird damit zu einer Aufgabe und einer Forderung. Denn nun gilt es durch Klärung der Begriffe allen Befund unseres Daseins auf seinen Gehalt zu prüfen, alles Leben und Tun vom Schein in Wahrheit zu heben. Sokrates erreicht dabei kein System, seine Arbeit bleibt ein Suchen, ein unermüdliches Suchen. Wohl bildet er zur Ermittlung und Festlegung der Begriffe eigentümliche Methoden, aber sie anzuwenden vermag er nicht für sich allein, sondern nur im Verkehr mit anderen Menschen, in Rede und Gegenrede; so wird sein Wirken und Leben ein ständiger Dialog. Er kann aber den Menschen nahe bleiben, weil sein Denken sich vornehmlich mit dem praktischen und sittlichen Leben befaßt. Die Begründung dieses Lebens auf die vernünftige Einsicht gibt dem Guten mehr Selbständigkeit und erzeugt einen neuen Begriff der Tugend. Die Hauptsache ist jetzt nicht die Leistung nach außen und der Erfolg im menschlichen Zusammensein, sondern die Übereinstimmung mit sich selbst, die Gesundheit und Harmonie der Seele. Das Innenleben erhält mit der Selbständigkeit auch einen Wert bei sich selbst; so ganz ist es in sich selbst vertieft und mit sich selbst befaßt, daß alles äußere Ergehen darüber verblaßt. Dabei bleibt die Ausführung recht unfertig, und verschiedenartige Strömungen finden keine Ausgleichung. Aber die Wendung zur Selbständigkeit der Seele und die Verstärkung des Innenlebens behält volle Kraft, die oft nüchternen Lehren verwischen nicht den Eindruck einer tiefangelegten Persönlichkeit, die etwas Unmittelbares, ja Rätselhaftes besitzt; alles Unfertige und Unausgeglichene verschwindet vor der Treue und dem Ernst dieser Lebensarbeit, namentlich vor dem heroischen Tode, der diese Arbeit besiegelt hat. Ein fester Grundstein war damit gelegt, eine neue Bahn eröffnet, auf der nun rasch – in Plato – die griechische Lebensanschauung ihre philosophische Höhe erreichte.


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