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3. Aristoteles.

a. Die Gesamtart.

Aristoteles' (384-322) Lebensanschauung stand unter völlig anderen Bedingungen des Geschickes und der Individualität. Den Sohn des mazedonischen Leibarztes verwickelten nicht Abkunft und Erziehung in die inneren Kämpfe des griechischen Lebens, und ihn trieb nicht der Zorn über die Schäden der nächsten Umgebung zu schroffem Widerspruch, sondern ihn zog es von der Grenze der griechischen Welt zu ihrem Mittelpunkt, um den ganzen Reichtum einer ausgereiften Kultur sich anzueignen und wissenschaftlich durchzubilden. Er fand dort aber eine wesentlich andere Lage als der jugendliche Plato. Die geistige Gärung, die stürmische Aufregung, das glanzvolle Schaffen des fünften Jahrhunderts lag schon zurück; nun war die Zeit für eine ruhige, umsichtige Forschung gekommen, und zum Höhepunkt dieser Forschung ward Aristoteles. In Art und Gesinnung vollauf Grieche, steht er dem Tagestreiben fern genug, um unbefangenen Blicks die Gesamtleistung des Griechentums zu überschauen und durch die Freude daran alle Mißstände des Augenblicks zu überwinden.

Beim ersten Anblick kann die nüchterne Prosa des aristotelischen Stils, die schlichte Sachlichkeit seiner Untersuchung und die strenge Zurückhaltung des eigenen Gefühls den Denker den Zusammenhängen des klassischen Altertums schon entwachsen und dem gelehrten Zeitalter des Hellenismus angehörig erscheinen lassen. Nun war Aristoteles sicherlich ein großer Gelehrter, wohl der größte aller Zeiten, aber an erster Stelle war er ein tiefer Denker, ein Mann von weltumspannenden Ideen und durchdringender Gestaltungskraft. Daß er einen unermeßlichen Stoff einfachen Gedanken unterworfen und mit ihnen der Arbeit von Jahrtausenden ihre Bahnen vorgezeichnet hat, das bildet den Kern seiner Größe. Als Denker aber wurzelt Aristoteles durchaus in der klassischen Welt, ihre Grundüberzeugungen und Schätzungen wirken in ihm fort; wer seine Lehren und Begriffe zurückverfolgt, der gewahrt bald hinter der scheinbaren Farblosigkeit die eigentümlich griechische Art; in bewunderungswürdiger Weise bringt dies System den Gehalt des klassischen Griechentums zu wissenschaftlichem Ausdruck und führt ihn damit dem Ganzen der Menschheit näher. Ob die Tiefe jenes dabei vollauf erschöpft ist, ob nicht eine rationalistische Denkart manches hat fallen lassen, das ist eine andere Frage.

Schon dies liebevolle Eingehen auf die Überlieferung und dies Streben nach einem freundlichen Verhältnis zur Umgebung zeigt eine weite Entfernung von Plato. Es fehlt dessen überlegene Persönlichkeit, die vor allem die Notwendigkeit des eigenen Wesens entfaltet und den Dingen ihren Stempel aufprägt, es fehlt mit der gewaltigen Aufregung auch die kräftige, in schroffen Kontrasten gehaltene Färbung des Weltbilds. Dafür entwickelt sich ein planmäßiges, unermüdliches Streben, die gegenständliche Welt klar und scharf zu erfassen, sich in die Dinge hineinzuversetzen, ihre eigentümliche Art zu ungetrübter Entfaltung zu bringen. Mit solcher Wendung zu den Dingen und solcher Verkettung mit den Dingen wird die Tätigkeit zur Arbeit, die kräftig die Welt ergreift und ihren ganzen Reichtum dem Menschen zuführt; ihr tiefer Ernst und ihre stille Freude beseelt das Ganze des Lebenswerkes. So wird aus der Philosophie der souveränen Persönlichkeit eine Philosophie der weltdurchdringenden Arbeit, auch sie ein bleibender Typus, auch sie der Quell einer eigentümlichen Lebensgestaltung.

*

b. Die Grundzüge des Welt- und Lebensbildes.

Die aristotelische Weltanschauung erweist ihre Eigentümlichkeit namentlich im Vergleich mit der platonischen. Aristoteles ist Plato verwandter als sein eigenes, vornehmlich vom Gegensatz erfülltes Bewußtsein wahrnimmt. Er teilt zunächst dessen Überzeugung, daß unser Leben am Weltall hängt und sich nur von ihm aus verstehen läßt, daß es eine Übereinstimmung mit seinen Ordnungen zu suchen hat. Es verbindet uns aber mit dem All die Intelligenz; so bildet sie auch hier den Kern unseres Wesens. Die Wahrheit erschließt sich auch hier nur dem Begriff; so wird die Philosophie vor allem Begriffswissenschaft, in ein Reich der Begriffe hat die Forschung die Welt zu verwandeln. Endlich teilt Aristoteles mit seinem Lehrer die Schätzung der Form, auch er findet in ihr Wesenhaftes und Wertvolles unzertrennlich verbunden.

Mit soviel Übereinstimmung in den Hauptzügen bleibt Aristoteles' Philosophie der platonischen nahe genug, um sich einem weiteren Begriff des Platonismus einzufügen. Aber innerhalb dieses bildet sie den denkbar weitesten Abstand. Wenn es für Plato ohne die schärfste Scheidung zweier Welten kein ewiges Sein und keine lautere Schönheit gibt, so ist Aristoteles vornehmlich um die Einheit der Wirklichkeit bemüht. Nach seiner Überzeugung brauchen wir die Welt nur recht zu verstehen, um sie als ein Reich der Vernunft zu erkennen und zugleich in ihr alles zu finden, was wir Menschen bedürfen. Die platonische Ideenlehre dünkt eine unerträgliche Spaltung von Wesen und Wirklichkeit, zugleich entfällt aller Platz für eine Religion. Wohl lehrt auch Aristoteles eine weltüberlegene Gottheit als den Quell der Vernunft und den Ursprung aller Bewegung, die wandellos von Ewigkeit zu Ewigkeit die Welt durchwaltet, er findet in ihr nicht nur den Grund der Ordnung des Alls, er versteht sie als eine in sich ruhende, ewige und selige Tätigkeit, als ein rein bei sich selbst befindliches Denken des Denkens. Aber wenn solche Lehren seiner Welt eine vertiefende Grundlage geben und dem Mittelalter eine Anknüpfung an den Denker möglich machten, die nähere Gestaltung seines Weltbilds wird kaum von ihnen berührt. Denn die Gottheit wirkt nicht mit besonderer Leistung in die Welt hinein, eine Befassung mit draußenliegenden Dingen und gar mit unseren kleinmenschlichen Sorgen und Nöten würde die Vollkommenheit ihres Lebens zerstören. So bewegt Gott, die reine Intelligenz, ohne eigene Bewegung die Welt durch sein bloßes Sein; alle nähere Gestaltung aber entspringt der eigenen Natur der Dinge. So fehlt hier eine sittliche Weltordnung und auch eine Vorsehung. Auch alle Hoffnung einer persönlichen Unsterblichkeit. Wohl entstammt die Denkkraft in uns nicht dem bloßen Naturlauf, so wird sie nicht mit der Auflösung des Körpers vergehen, sondern zurückfließen in die Allvernunft. Aber solche Unvergänglichkeit der Gotteskraft in uns besagt keine Fortdauer des Individuums.

Mit diesem Verschwinden der Religion entfällt die seelische Innigkeit und die weltüberlegene Größe Platos. Innerlich enger wird das Leben, und nüchterner wird sein Gefühlston. Aber bei Aristoteles bedeutet jene Verneinung keinen Verzicht auf eine Vernunft der Wirklichkeit und eine Vornehmheit des Lebens. Mit ihrem eigenen, ungespaltenen Sein dünkt die Welt hier imstande, alle Ziele zu erreichen und alle Gegensätze zu umspannen, und dieses eine Leben scheint gehaltvoll genug, um den Menschen vollauf zu beschäftigen und auch zu befriedigen. Nur liegt solche Vernunft nicht unmittelbar vor Augen, es gilt sie erst aufzudecken; das aber geschieht, wenn die Wissenschaft von der Oberfläche zur Tiefe und vom bloßen Nebeneinander zum Zusammenhange des Ganzen vordringt. Ihre Arbeit ergibt ein eigentümliches Welt- und Lebensbild, eine Gedankenwelt des immanenten Idealismus, eine in ihrer zielbewußten, staunenswerten Energie unvergleichliche Leistung.

Eine Überwindung der Gegensätze unternimmt Aristoteles zunächst bei den Begriffen von Stoff und Form. Hatte Plato die Form zur Sicherung ihrer Reinheit und Selbständigkeit als gestaltende Kraft vom sinnlichen Dasein völlig abgelöst und ihm gegenüber festgelegt, so kennt Aristoteles die Form nur zusammen mit dem Stoff; jene besteht und wirkt nur innerhalb des Lebensprozesses, der immer auch den Stoff umfaßt. Der Stoff erscheint dabei nicht als etwas Dunkles und Rohes, das der Form widerstrebt und sie zu sich herabzieht, sondern er fügt sich willig ihrem Dienst, er ist für sie angelegt und verlangt von Natur nach ihr; er bildet nach der Formel des Denkers die Möglichkeit dessen, was die Form zu voller Verwirklichung bringt. Der Lebensprozeß ist hier ein Aufstreben des Stoffes zur Form und ein Ergriffenwerden des Stoffes durch die Form. Denn bei der Form, der belebenden und gestaltenden Macht, bleibt immer die Hauptbewegung. Daher geht das vollendete Wesen dem werdenden voran, und es verbietet sich alle Ableitung der Wirklichkeit aus vernunftlosen Anfängen. Bei den irdischen Lebewesen wird freilich der Stoff immer nur eine Zeitlang gebunden und entweicht dem Gefüge im Tod. Aber die Form ergreift in der Zeugung immer neuen Stoff, der Weltprozeß ist ein unablässiger Sieg der Gestalt über die Ungestalt und zugleich des Guten über das Mindergute. Denn von einem Bösen läßt sich bei so freundlichem Entgegenkommen des Stoffes nicht reden. Aristoteles ist stolz darauf, daß gerade seine Gedankenwelt dem Bösen keine Selbständigkeit zuerkennt und keine Zweiheit duldet. Was unser Kreis an Mißständen bietet, das entspringt dem Vermögen des Stoffes, die Bewegung zur Form nicht völlig auszuführen, sondern auf einer niederen Stufe zu erstarren. Dadurch entsteht viel Verfehltes, und im näheren Bilde der Wirklichkeit gewinnt dies so viel Raum, daß Stoff und Form wieder in einen Kampf zu geraten drohen. Aber den Denker beruhigt die Erwägung, daß das Böse nirgends ein eigenes Wesen erlangt, sondern nur einen Abzug vom Guten, eine Beraubung wertvoller Eigenschaften bildet, sowie die Annahme, daß die himmlische Region von Ewigkeit zu Ewigkeit ihre Kreise ohne Wandel und Störung durchläuft und die Form in voller Herrschaft zeigt.

Eine solche Ausgleichung der Gegensätze verändert das Bild des Geschehens auch innerlich. Wo die Form nicht den Dingen als Urbild überlegen ist, sondern als Macht in ihnen wirkt, da weicht die künstlerische Anschauung der Wirklichkeit einer dynamischen, zur Hauptsache wird die Selbstentfaltung des Lebens. Die Welt scheint hier von Zwecken beherrscht, d. h. von Lebenseinheiten, welche eine Mannigfaltigkeit des Geschehens unter sich befassen und zu einer Gesamtleistung verbinden. Solche Lebenseinheiten sind zunächst die Organismen, die eine nach dem Grade der Gliederung aufsteigende Reihe bilden. Je schärfer nämlich die Organe und Funktionen geschieden sind, desto größer wird die Leistung des Ganzen, der Mensch erscheint danach als die Höhe der Natur. Aber der Zweck reicht über das besondere Reich des Organischen hinaus in das All, oder vielmehr der Begriff des Organischen beherrscht die ganze Natur. Nirgends im All scheinen die Bewegungen einander wirr zu durchkreuzen, sondern eine jede verläuft in bestimmter Richtung und erreicht einen festen Endpunkt, um hier in einen Beharrungsstand, in ein gleichmäßiges Wirken überzugehen. Deutlich scheidet sich damit von einer bloß anstrebenden, über sich hinausgerichteten Bewegung eine in sich ruhende und bei sich befriedigte Volltätigkeit, die »Energie« nach aristotelischem Ausdruck. Ein Streben nach solcher selbstgenugsamen Tätigkeit durchdringt das ganze All; wo immer es das Ziel erreicht, da hört alle Unruhe auf, da trägt das Wirken in sich selbst Freude und Seligkeit. So begehrt das Schauen des Kunstwerks nichts anderes als die Anschauung selbst. Diese Tätigkeit mit ihrer Entwicklung aller Anlagen, der Umsetzung alles Vermögens in Wirklichkeit, der Zusammenfassung aller Vielheit zu einem Lebensganzen ist nun und nimmer ein flüchtiges Spiel der Oberfläche, sie bewegt das ganze Wesen und erschließt die letzte Tiefe der Dinge, sie läßt keinen dunklen und unzugänglichen Rest, sie kennt keine Kluft zwischen Sein und Erscheinung. Wie für die Einzelwesen gilt das auch für das All mit seiner Begründung im Gottesgeist. Voller Bewegung ruht es schließlich in sich selbst und bildet mit aller Mannigfaltigkeit ein einziges Lebensganzes, das nicht »episodenhaft« ist wie eine schlechte Tragödie.

Damit wird auch die Lebensaufgabe eigentümlich gefaßt. Eine Tätigkeit, die nur anstrebt und rastlos weiter eilt, gewährt keine volle Befriedigung. Die Wissenden stehen über den Forschenden, nicht das Suchen, sondern der Besitz, freilich der immer neu durch Tätigkeit zu erwerbende Besitz gewährt ein volles Glück. So fehlt alle Bewegung nach unabsehbaren Zielen, alles Unbegrenzte und Unermeßliche. Klar steht unser Ziel vor Augen, und als unserer eigenen Natur angehörig kann es nicht unerreichbar sein. So eine sichere Ruhe in kräftiger und emsiger Tätigkeit, ein philosophischer Ausdruck der Seligkeit im Wirken und Schaffen, des ruhigen Schwebens in geistigem Glück, das die antiken Bildwerke uns so wunderbar vor Augen stellen.

Ein verwandtes Streben zur Einigung zeigt Aristoteles' Behandlung von Seele und Körper, von Innerem und Äußerem. Auch hier geht der Hauptzug zur Einheit. Der Philosoph kennt keine Sonderexistenz der Seele, sie bildet mit dem Körper ein einziges Lebensganzes, sie bedarf seiner wie das Sehen des Auges, überhaupt die Funktion des Organs. So wird das Sinnliche nirgends geringgeschätzt, auch bei der Erkenntnisarbeit steht es in hohen Ehren. Freilich wird die Einheit schroff durchbrochen zugunsten einer Hinaushebung der Denkkraft über den Naturprozeß. Das Denken könnte nicht eine ewige Wahrheit erfassen, nicht die Mannigfaltigkeit der Dinge umspannen, unterläge es den Wandlungen und Gegensätzen der sinnlichen Welt. Ihm gebührt daher eine Überlegenheit, eine Teilnahme an Gottheit und Ewigkeit. Sonst aber bleiben Seelisches und Körperliches einander eng verschlungen und zugeordnet.

Gemäß seinem Streben zur Einheit kann Aristoteles auch im Handeln nicht das Innere vom Äußeren trennen und ein Reich reiner Innerlichkeit entwickeln, er setzt vielmehr Inneres und Äußeres in ständige Wechselwirkung und verbindet überall seelische Kraft und entgegenkommende Welt zu einem einzigen Leben. Bei ihm strebt alles Tun auch zur Darstellung in der Außenwelt, und da solche Verkörperung äußerer Mittel bedarf, so gewinnt die Umgebung weit mehr Wert als bei Plato. Hier bringt die Seele die Begriffe nicht als einen fertigen Besitz in das Leben mit, sondern sie erwirbt sie an der Hand der Erfahrung, hier wirkt die gesellschaftliche Umgebung bestimmend auf die moralische Bildung. Denn was davon in uns angelegt ist, das belebt und vollendet allein die Tat; diese aber legt uns die Umgebung zuerst durch Gesetz und Sitte auf, bis endlich die äußere Forderung sich in eigenes Wollen verwandelt.

Auch Allgemeines und Besonderes nähert sich hier einander. Aristoteles hat die Allgemeingrößen nicht von den Einzelwesen abgelöst und diesen entgegengesetzt, er erkennt ihnen lediglich innerhalb ihrer eine Wirklichkeit zu und glaubt sie damit vollauf zu sichern. Auch liebt er es nicht auf einem Gipfel höchster Allgemeinheit zu verweilen, sondern sein Denken strebt bald zur anschaulichen Welt zurück, um sich ihres Reichtums zu erfreuen. Was einem Dinge unterschiedlich und ausschließlich zukommt, das gilt als seine Vollendung. So bildet die Höhe unserer Natur das, was uns Menschen eigentümlich, nicht was mit den anderen Wesen gemeinsam ist.

Daraus entspringt ein eifriges und fruchtbares Streben, überall das Eigentümliche herauszuheben und darauf das Handeln zu richten. Die Forschung sucht den Schlüssel der Entwicklungsgeschichte der Lebewesen in einem Fortschreiten der Bildung vom Allgemeinen zum Besonderen. Der werdende Mensch z. B. ist zuerst nur lebendig, dann wird er ein gesondertes Lebewesen und durchläuft in dieser Richtung weitere Stufen, bis endlich das Eigentümliche der menschlichen Art erscheint. Auch das Handeln findet sein Ziel darin, alles Seelenleben dem Denkvermögen zu unterwerfen, das den Menschen auszeichnet. Die eigene Arbeit des Philosophen schöpft aus solcher Überzeugung den Antrieb, in alle Mannigfaltigkeit der Dinge einzugehen, alles Verschiedene zu sondern, auch das Kleine nicht zu mißachten. Indem er diese Aufgabe mit größtem Eifer ergreift und mit staunenswertem Geschicke löst, zerlegt sich ihm die Welt in eine unermeßliche Fülle von Gestalten, deren Entdeckung, Beobachtung, Beschreibung immer neuen Reiz gewährt.

Das Gedankenreich, das solcher Arbeit entspringt, hat nicht die starken Kontraste, die gewaltigen Aufregungen, die seelische Tiefe der platonischen Welt. Aber es ist nicht ohne erhebliche Abstufungen, auch nicht ohne eine Vornehmheit der Gesinnung und eine innere Wärme, wobei freilich oft die tiefere Art Platos nachwirkt, auch die spätere Zurückziehung des Menschen auf die Innerlichkeit des Seelenlebens sich vorbereitet. Es fehlt bei Aristoteles das, was Goethe das Dämonische nannte.

Der Hauptgegensatz, unter den Aristoteles das Streben stellt, ist der des bloßen Daseins und der Volltätigkeit, des leeren, daher unbefriedigten und stets über sich hinausblickenden, und des erfüllten, bei sich selbst befriedigten Lebens, des naturgegebenen Seins (ζῆν) und des durch eigene Tat errungenen Wohlseins (εὖ ζῆν). Die natürliche Existenz bleibt die notwendige Grundlage aller Entwicklung, von ihr aus mag jene höhere Stufe als eine überflüssige Zutat erscheinen. Aber erst dieses, was die bloße Not übersteigt, gibt dem Leben Gehalt und Wert; hier gewinnen wir etwas, das durch sich selbst gefällt, hier befinden wir uns im Reich des Schönen und damit einer echten Lebensfreude.

Das ist nämlich Aristoteles' Überzeugung, daß die Volltätigkeit, die das ganze Wesen in lebendige Wirklichkeit umsetzt, volles Glück mit sich bringt. Denn alle Tätigkeit enthält in ihrer eigenen Wahrnehmung, in ihrem Geschautwerden eine Lust, ja alles echte Glück wurzelt in der Tätigkeit. Daher ist es an erster Stelle unser eigenes Werk, es läßt sich nicht von draußen her schenken oder anlegen wie ein Schmuckstück, sondern es bemißt sich nach der Tätigkeit und wächst mit der Tätigkeit. Wenn alles Leben eine »natürliche Süßigkeit« hat, so ist es besonders dem Tüchtigen wertvoll, der ihm einen edlen Gehalt zu geben versteht. Wer die Lust schilt, beachtet nur ihre niedersten Formen, da sie doch der Tätigkeit auf alle Höhe zu folgen vermag. Auch kann sie zur Verfeinerung und Vervollkommnung der Tätigkeit wirken, wie z. B. die Freude an der Musik das musikalische Schaffen fördert. Mit solcher Befestigung der Lust im Kern des Lebens ergibt sich die klassische Ausprägung des »Eudämonismus«, dessen von der Tätigkeit untrennbare Lust alles selbstische Genießen weit überragt.

So uns Glück verleihen kann die Tätigkeit nur bei voller Tüchtigkeit, bei Belebung unseres ganzen Wesens. Aller Schein im Handeln ergibt auch nur ein scheinbares Glück. Daher dringt der Philosoph nachdrücklich auf Wahrhaftigkeit und verwirft alles leere Gepränge; »tüchtig«, »gediegen« ( σπουδαῖος) wird ihm ein besonderes Ehrenwort.

Die Gediegenheit wächst zur Vornehmheit durch die Ausbildung eines scharfen Unterschiedes zwischen dem Schönen und dem Nützlichen, dem, was an sich erfreut und durch sich selbst gefällt, und dem, was nur ein Mittel für anderes bildet. Das Nützliche zur Hauptsache machen, das heißt das Leben verkehren. Denn jenes richtet die Tätigkeit über sich selbst hinaus auf fremde Dinge und läßt sie innerlich leer bei allem vermeintlichen Gewinn, die Arbeit wird ein Hasten und Jagen, das nie einen Abschluß erreicht und in echte Befriedigung übergeht. Damit erwächst ein schroffer Gegensatz einer edlen und einer gemeinen, einer freien und einer knechtischen Lebensführung. Eines freien und großgesinnten Mannes Sache ist es, überall das Schöne und nicht das Nützliche zu suchen; ja es wird in diesem Zusammenhange der Mangel an allen nützlichen Folgen ein Zeugnis für den inneren Wert einer Betätigung. Das eben bildet den Stolz der reinen Philosophie, für das äußere Leben gar keinen Vorteil zu bieten, sondern sich nur als Selbstzweck behandeln zu lassen. So hat sich der Denker trotz seiner Ablehnung der platonischen Ideenwelt in seiner Weise eine ideale Gesinnung bewahrt.

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c. Die Erfahrungen des menschlichen Kreises.

Wir sahen, daß das menschliche Leben seine Aufgabe und seine Befriedigung allein im irdischen Dasein zu suchen hat, daß aber diese Einschränkung Aristoteles nicht in schwere Konflikte verwickelt. Denn innerhalb dieses Lebens hält er die Betätigung des ganzen Wesens und zugleich das höchste Glück für erreichbar. Daher bleiben keine Wünsche und Hoffnungen unerfüllbarer Art; auch fehlt hier alles Bedürfnis nach individueller Unsterblichkeit, aller Antrieb, die naturgegebene Grenze des Daseins zu überschreiten.

Um so mehr gilt es, dieses Leben zu nutzen, es in volle Tätigkeit umzusetzen. Dafür müssen wir uns auf unsere Eigentümlichkeit besinnen und ihr gemäß alles Tun gestalten. Das Eigentümliche des Menschen bildet aber die Vernunft, d. h. nach Aristoteles die Denkkraft mit ihrem Vermögen allgemeiner Begriffe und Sätze. Daß die Intelligenz einerseits sich selbst entfalte, andererseits kräftig zu dem niederen, uns mit den Tieren gemeinsamen Seelenleben wirke, das bildet unser Lebenswerk. Die Tätigkeit gemäß der Vernunft, in ungehemmtem Verlauf und in Ausdehnung über unser ganzes Leben – nicht über eine kurze Zeit, denn »Eine Schwalbe macht keinen Frühling« –, dies und nichts anderes bildet des Menschen Glückseligkeit. Nicht genügt für sie die Tüchtigkeit ohne Betätigung. Denn im Schlafe gibt es kein Glück, und bei den olympischen Spielen erlangt nicht der Zuschauer einen Kranz, sondern nur wer am Wettkampfe teilnimmt. Es hat aber die Entfaltung der Tätigkeit bei Aristoteles keine überschweren Hemmungen zu überwinden. Die Seele ist nicht sich selbst entfremdet und bedarf keiner völligen Umwälzung wie bei Plato, sondern unsere Vernunft ist nur unentwickelt und muß von der bloßen Anlage den Weg zur Vollendung erst finden, der natürliche Trieb aber geht auf das rechte Ziel. Nur auszubilden haben wir, was die Natur in uns vorgebildet hat.

Die Verzweigung des menschlichen Lebens näher verfolgen kann Aristoteles nicht, ohne das Verhältnis der seelischen Antriebe der Tätigkeit zu ihrer Umgebung zu untersuchen. Dabei durchkreuzen sich entgegengesetzte Strömungen. Der enge Zusammenhang von Innerem und Äußerem, den Aristoteles' Weltbegriffe lehren, auch die Scheu, die Verbindung des Einzelnen mit seinen Angehörigen, Freunden, Volksgenossen zu zerreißen, verbieten eine völlige Ablösung von der Umgebung; wir können und dürfen uns dem nicht entziehen, was dort vorgeht und von dort zu uns wirkt. Nach entgegengesetzter Richtung weist das Streben des Denkers, die Handlung möglichst auf sich selbst zu stellen und von der Zufälligkeit äußerer Verhältnisse zu befreien; die Bindung daran würde in ein unstetes Schwanken versetzen, das mit wahrem Glück unvereinbar ist. Das Ergebnis des Streites ist ein Kompromiß: die Hauptsache bildet die innere Leistung, die Kraft und Tüchtigkeit des Handelnden, zu vollem Gelingen aber gehört auch das Äußere. Wie das dramatische Kunstwerk der Inszenierung, so bedarf unser Handeln zu seiner Vollendung der Umsetzung in eine sichtbare Leistung, der Vorführung auf der Lebensbühne. Aber die Hauptsache bleibt weitaus das innere Werk. Die äußeren Güter dienen nur als Mittel und Ausdruck der Tätigkeit, sie haben nur soweit Wert, als diese sie ergreift und verwendet, darüber hinaus werden sie ein unnützer Anhang, ja eine Belastung des Lebens. Daher wird das Streben nach einer unbegrenzten Vermehrung der äußeren Güter aufs strengste abgewiesen. Denn auch in mittleren Lebenslagen ist höchstes Glück erreichbar; man kann das Schöne tun, d. h. edel handeln, ohne über Länder und Meere zu herrschen. Nur werde der Widerstand des Schicksals nicht allzugroß. Denn nicht nur sind Elementarbedingungen, wie eine normale körperliche Bildung, Gesundheit usw., zum Lebensglück unentbehrlich, auch überwältigende Schicksalsschläge vermögen es zu zerstören. So drohen ernste Verwicklungen. Aber Aristoteles, dem Durchschnitt der Erfahrung zugewandt und weniger um das Schicksal der Menschheit als um das Ergehen der Einzelnen bemüht, gerät dadurch nicht in Besorgnis. Der Tüchtige kann nach seiner Überzeugung den Lebenskampf ganz wohl bestehen. Den gewöhnlichen Mißständen ist geistige Kraft gewachsen; überschwere Schicksalsschläge aber, wie sie einen Priamus trafen, sind seltene Ausnahmen, und selbst sie können den Tüchtigen nicht elend machen. Denn wenn er härtestes Geschick gelassen trägt, nicht aus Stumpfheit, sondern in Seelengröße, so leuchtet durch alles Leid das Schöne hindurch. Demnach erschüttern alle Störungen und Unebenheiten nicht die Freude am Leben und hemmen nicht ein mutiges Ergreifen seiner Breite und Fülle.

Es scheiden sich aber dabei zwei Hauptaufgaben: die Entwicklung der Intelligenz bei sich selbst und die Unterwerfung der sinnlichen Seite des Menschen, das theoretische und das praktische Leben, wie es hier zuerst in deutlicher Abgrenzung heißt.

Indem beide Gebiete weiter auseinandertreten und selbständige Arten des Lebens erzeugen, prägt jede Seite sich schärfer aus und erweist deutlicher ihre Eigentümlichkeit. Aber zugleich verschwindet die platonische Einheit des geistigen Lebens und die Größe allesdurchwaltender Gesinnung. Bei Plato war auch die Wendung zur Wahrheit eine sittliche Tat, galt es doch das Auge des Geistes mit eigener Entscheidung vom Dunkel zum Lichte zu kehren. Aber der Verlust an Tiefe wird ein Gewinn an Fülle. Bei Aristoteles zuerst entwickelt sich eine eigentümliche Lebensführung des Forschers und Gelehrten, ein Lebensideal der wissenschaftlichen Arbeit. Zugleich aber erhält das praktische Gebiet mehr Selbständigkeit und eine genauere Durchforschung.

Unter den beiden Lebensformen gibt Aristoteles der Theorie weitaus den Vorrang. Sie macht uns freier von äußeren Bedingungen und stellt uns fester auf uns selbst. Ferner hat die Wissenschaft mit dem All und seinen ewigen Beständen zu tun; die Einsicht ist hier einer Festigkeit und einer Genauheit fähig, die dem praktischen Gebiet sein unablässiger Wandel versagt. Alle einzelnen Erwägungen gipfeln in dem Gedanken, daß das Erkennen die reinste Form einer gehaltvollen, in sich selbst befriedigten Tätigkeit bildet, daß es am meisten erfüllt, was die Idee der Glückseligkeit fordert. So heißt es, das wahre Glück reiche nicht über die Forschung hinaus; nicht als bloße Menschen haben wir an ihr teil, sondern nur sofern Göttliches in uns wohnt; innerhalb dieses Lebens selbst ergibt ihre Eröffnung ewiger Wahrheit eine Unsterblichkeit. Dabei unterscheidet Aristoteles' offener Sinn für die Mannigfaltigkeit nicht weniger als fünf Arten der Denkarbeit: Prinzipienlehre, Wissenschaft, Weisheit, Kunstvermögen und praktische Einsicht.

Das praktische Gebiet scheint zunächst dahinter völlig zurückzustehen, hat es doch nur die Natur der Intelligenz zu unterwerfen. Aber bald wächst die Aufgabe dahin, das Streben des Menschen auch innerlich der Vernunft zu gewinnen, diese in den eigenen Willen aufzunehmen; damit entwickelt sich der Begriff einer ethischen Tugend, einer Haltung und Gesinnung des ganzen Menschen, zugleich aber ein inneres Verhältnis von Mensch zu Mensch. Die liebevolle Schilderung dieses Gebietes läßt es nicht als eine niedere Stufe, sondern als ein selbständiges Reich, ja als den Kern des Lebens erscheinen.

Den Stand der Überzeugung zeigt namentlich die Behandlung des Begriffs, der bei Aristoteles das gesamte praktische Leben beherrscht, des Begriffs der Mitte. Zu ihm führt den Denker ein einfacher Gedankengang. Soll das Sinnliche der Vernunft unterworfen oder – von der anderen Seite betrachtet – die Vernunft in dem Sinnlichen dargestellt werden, so drohen Gefahren in entgegengesetzter Richtung. Das Sinnliche kann sich mit ungezügelter Macht der Vernunft widersetzen und ihrem Gebot entziehen; es kann aber auch zu schwächlich und dürftig bleiben, um der Vernunft die nötigen Mittel zur vollen Entwicklung zu bieten. So wird zur Summe der praktischen Weisheit die rechte Mitte, die ethische Tugend hat ebenso ein Zuviel wie ein Zuwenig zu meiden. Es steht z. B. der Tapfere zwischen dem Tollkühnen und dem Ängstlichen, der gute Haushalter zwischen dem Verschwender und dem Geizigen, der gesellschaftlich Gewandte zwischen dem Schwerfälligen und dem Witzbold. Aristoteles zeigt hier einen engen Zusammenhang mit seinem Volke, seine Darstellungen scheinen oft das durchschnittliche Leben nachzubilden, auch die Ausdrücke folgen dem gemeinsamen Sprachgebrauch. Aber durch alle Anpassung klingen Überzeugungen platonischer Art hindurch. Aristoteles beruft sich bei der Lehre von der Mitte ausdrücklich auf das Vorbild der Kunst, deren Meisterwerken sich weder etwas hinzufügen noch nehmen läßt. Auch der ethische Gedanke der Gerechtigkeit wirkt hierher. Jede Aufgabe muß innerhalb des Ganzen menschlicher Zwecke und nach der individuellen Lage des Falles genau das erhalten, was ihr gebührt; eine Abweichung davon nach dem Mehr oder nach dem Weniger wird zum Unrecht. Mag daher Aristoteles die platonische Idee der sittlichen Ordnung, der alles durchwaltenden Gerechtigkeit, als Weltgesetz aufgeben, für das menschliche Handeln gilt auch ihm sie als Ziel.

Die Forderung der rechten Mitte gibt dem Leben auch eine eigentümliche Form. Was die rechte Mitte sei, läßt sich bei dem unablässigen Wechsel der Lebenslagen nicht ein für allemal entscheiden noch aus allgemeinen Sätzen folgern, jeder Augenblick muß es seiner Eigentümlichkeit gemäß bestimmen. Dazu bedarf es vornehmlich zutreffender Schätzung, richtigen Taktes. Das Handeln wird damit zur Lebenskunst, das Dasein erhält eine unablässige Spannung, da der Steuermann immer von neuem zwischen den Klippen seinen Weg suchen muß.

Sodann fordert das Finden der rechten Mitte volle Klarheit über die äußeren Umstände wie über das eigene Vermögen. Um nicht zu viel oder zu wenig zu unternehmen, müssen wir genau unser Vermögen kennen, müssen wir nicht bloß tüchtig sein, sondern auch wissen, daß und wie weit wir es sind. Daher ist ebenso verkehrt Aufgeblasenheit und eitle Prahlerei wie kleinmütiges Sichunterschätzen. Das rechte Selbstbewußtsein wird damit zur Vollendung des Lebens unentbehrlich, die Selbstkenntnis im altgriechischen Sinne, d. h. eine zutreffende Schätzung unseres Vermögens, nicht ein Grübeln über unseren Seelenstand, erhält bei Aristoteles die bedeutendste philosophische Fassung.

Indem der Gedanke der Mitte alle Verzweigung des Lebens ergreift und sich aller Mannigfaltigkeit anschmiegt, entsteht ein eigentümliches Verhältnis von Natur und Geist, das die Überlegenheit des Geistes wahrt, ohne der Natur ihr Recht zu verkümmern. Denn was immer die Natur in den Menschen gepflanzt hat, wie z. B. die Selbstliebe, dessen Recht ist damit erwiesen, das bleibe unangetastet. Aber um die rechte Mitte und damit sein Maß zu finden, bedarf es des denkenden Geistes. Wie wenig der Gedanke der Mitte sich mit bloßer Mittelmäßigkeit deckt, das bekundet am deutlichsten Aristoteles' Hochschätzung des Großgesinnten (μεγαλδψυχος), dessen Bild er besonders liebevoll ausmalt.

Großgesinnt ist, wer eine geistige Größe, d. h. eine Überlegenheit gegen die landläufige Schätzung der Güter und das menschliche Treiben, besitzt und sich solches Besitzes vollauf bewußt ist. Er bildet die rechte Mitte zwischen dem, der sich eitel über sein Vermögen aufbläht, und dem, der eine Größe hat, sie aber nicht kennt und daher auch nicht genügend entwickelt. Ganz seiner Bedeutung inne, wird der Großgesinnte sie überall kräftig zum Ausdruck bringen und in allem Tun und Lassen vornehmlich auf seine Würde und Größe bedacht sein. Aus solcher Gesinnung wird er nur die lautere Wahrheit sagen, offen lieben und offen hassen, keine Menschenfurcht kennen, ungern Wohltaten empfangen, die empfangenen aber reichlich vergelten, am liebsten selbst Wohltaten erweisen, wird er Hochstehenden stolz, Niederen freundlich begegnen. Überall stellt er die Schönheit vor den Nutzen, die Wahrheit vor den Schein, von aller Arbeit erwählt er für sich die schwerste und undankbarste. Auch das äußere Benehmen entspreche solcher Gesinnung. Der Großgesinnte wird überall würdevoll auftreten, langsam reden, sich nirgends überhasten usw.

Mag in solchem Bilde uns manches befremden, augenscheinlich wächst hier die praktische Tätigkeit zur Entfaltung eines Ganzen der Persönlichkeit. Wer so entschieden wie Aristoteles das Glück bei der sich selbst angehörenden Tätigkeit sucht, der kann auch das praktische Leben nicht vornehmlich nach außen richten, der wird es zu sich selbst zurücklenken und den eigenen Stand des Handelnden zur Hauptsache machen, der wird schließlich weniger an die einzelnen Handlungen als an den Menschen in der Handlung denken. In Wahrheit werden die inneren Bedingungen der Handlung mit besonderer Sorgfalt untersucht, Aristoteles zuerst zergliedert Begriffe wie Vorsatz, Verantwortlichkeit usw. Mehr und mehr verlegt sich damit der Schwerpunkt von der äußeren Leistung in das innere Verhalten, der Begriff eines in sich vollendeten Handelns vertieft sich zu dem eines in sich ruhenden Lebens, die Idee einer moralischen Persönlichkeit steigt auf und beherrscht das Gesamtbild.

Freilich bleibt dabei vieles unfertig und bestreitbar. Indem der Mensch sich weniger an einem Ideal seines geistigen Wesens mißt als mit anderen Menschen vergleicht, wird die sittliche Würde zur individuellen Größe gegenüber jenen anderen und treibt daher mehr zur Scheidung als zur Verbindung der Menschen, sie erzeugt einen Stolz, der leicht verletzen kann.

Hierher wirkt freilich auch die Beurteilung der Menschen, indem der Denker mit seinem Volk die Menschheit in eine große Mehrheit, wenn auch nicht schlechter, so doch gewöhnlicher Naturen und eine kleine Minderheit edler zerlegt. Den Menschen beherrschen Affekt und Begier, und der Sinn der Menge ist nicht dem Schönen, sondern dem Nützlichen zugewandt. Ins Böse aber treibt sie namentlich die Unersättlichkeit, das unbegrenzte Mehrhabenwollen. »Grenzlos ist die Begier, deren Befriedigung die Menge lebt«.

Aber trotzdem verzweifelt Aristoteles keineswegs am Menschen, er findet Mittel genug, jenen ersten Eindruck zu mildern. Das Böse im Menschen, so meint er zunächst, wird leicht übertrieben, indem als Schuld getadelt wird, was nur eine Folge natürlicher Verhältnisse ist. So wird z. B. der Mensch der Undankbarkeit geziehen, weil die Empfangenden minder stark zu lieben pflegen als die Gebenden, die Kinder weniger als die Eltern, da doch diese Tatsache sich einfach daraus erklärt, daß das Geben mehr Lust erzeugt als das Empfangen, und diese Lust uns auch den angenehm macht, zu dem wir wirkten. Sodann wirft der Denker nicht alle Mindertüchtigen in Einen Haufen zusammen, er unterscheidet mehrere Stufen und findet in der höchsten eine Annäherung an das Ideal. Auf der anderen Seite sind die eigentlich Boshaften, die Frevler, auszusondern, und deren Zahl ist gering; den Durchschnittsstand bildet mehr verzeihliche Schwäche als ausgeprägte Schlechtigkeit. Weiter besteht ein merklicher Unterschied zwischen denen, die Gewinn und Genuß, und denen, die Ehre und Macht als Ziel verfolgen. Aber selbst was unvollkommen bleibt, das hebt sich dem Denker durch die Überzeugung, daß auch in dem Niederen ein Naturtrieb zum Höheren wirkt und über den augenblicklichen Stand und das eigene Bewußtsein hinaustreibt; denn »alles hat von Natur etwas Göttliches«. Zu solcher Neigung, in dem Niederen weniger das Abgefallene und Zurückgebliebene als das Aufstrebende zu sehen, gesellt sich die Überzeugung von einer Summierung der Vernunft im gesellschaftlichen Zusammensein. Mögen die Durchschnittsmenschen einzeln recht wenig leisten, in eine gemeinsame Ordnung verbunden werden sie wie Eine Persönlichkeit; dann kann sich das Gute aller verbinden und als Ganzes auch den größten Individuen moralisch wie intellektuell überlegen werden. Indem nämlich jeder das Seine darbringt und die verschiedenen Kräfte sich mischen, wird die Gesamtheit freier von Zorn und anderen Affekten, geschützter gegen Fehlgriffe, besonders aber sicherer im Urteil als das bloße Individuum. Auch die Meisterwerke der Musik und der Poesie verdanken ihre Anerkennung nicht den Technikern, sondern dem großen Publikum. Bei solcher Schätzung denkt Aristoteles aber nicht an jede beliebige, bunt zusammengewürfelte Menge, sondern an die beharrende Gemeinschaft einer Stadt und eines zusammengehörigen Lebenskreises; die große Zahl als solche hat er keineswegs verherrlicht. Immerhin sind seine Maße gegen die Platos erheblich herabgestimmt.

Jenen Glauben an die Menschen bestärkt weiter Aristoteles' Überzeugung von der Geschichte. Sie teilt die Grundlage mit Plato und älteren Denkern. Es gibt hier keinen endlosen Fortschritt, sondern im Kreislauf folgen einander ähnliche Perioden; bei der Ewigkeit der Welt, die Aristoteles mit voller Klarheit lehrt, liegt Unendliches hinter uns; immer wieder wurde das Erreichte durch große Fluten zerstört, und die Arbeit mußte von neuem beginnen; nur die – rationalistisch gedeutete – Volksreligion und die Sprache verbinden die einzelnen Epochen, indem sie die Weisheit der früheren Periode wenigstens in Resten übermitteln. Zu dieser allgemeinen Überzeugung gesellt sich die besondere, daß im klassischen Griechentum kurz zuvor die höchste Höhe eines solchen Umlaufs erreicht sei. So gilt es, das Augenmerk vielmehr dahin zurück als auf die Zukunft zu richten, die nichts wesentlich Neues erwarten läßt. Der Forschung aber wird die Aufgabe zugewiesen, das, was Gelegenheit und Gewohnheit finden ließen, in seinen Gründen zu verstehen und in Begriffe umzusetzen.

Demnach rechtfertigt der Verlauf der Untersuchung das eigene Verhalten des Denkers zum Griechentum. Ist in diesem das Höchste erreicht, was sich je erreichen läßt, so ist das Streben vollauf begründet, die ihm innewohnende Vernunft aufzudecken und die eigene Arbeit ihm anzuschließen; so vermag der Denker nicht nur sich zum Grundstock der griechischen Welt freundlich zu stellen, sondern auch die öffentliche Meinung als einen Wegweiser zur Wahrheit zu schätzen. Mit dem allen bestätigt das Ergebnis die Grundüberzeugung, von der seine Arbeit begann, die Überzeugung von einem Vernunftgehalt der Wirklichkeit.

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d. Die einzelnen Gebiete.

Die einzelnen Lebensgebiete werden bei Aristoteles weit selbständiger, sie stellen mehr eigene Aufgaben und fordern mehr Arbeit als bei Plato. Das Leben dehnt sich mehr in die Breite aus, und da seine Spannung sich über eine weitere Fläche verteilt, so gewinnt es zugleich an Ruhe. Aber alle Verbreiterung sprengt bei Aristoteles nicht die Einheit des Ganzen und hemmt nicht die Herrschaft einfacher Grundgedanken; wohl passen die leitenden Ideen sich sehr der Eigentümlichkeit der verschiedenen Gebiete an, aber das Band der Analogie hält alle Vielheit zusammen. Überall eine Hochschätzung der Tätigkeit, ein Aufdecken ordnender Vernunft, ein Vermitteln der Gegensätze, überall auch eine schlichte Sachlichkeit, mehr Annäherung an das unmittelbare Seelenleben, mehr Durchsichtigkeit der Gebilde. Das alles macht die Verzweigung des Lebens so wertvoll, daß die Betrachtung nicht zu rasch über sie hinwegeilen darf.

 

α. Die menschlichen Gemeinschaften.

Selbständiger und inhaltreicher wird zunächst das menschliche Zusammensein. Wie es Aristoteles vom All zum Menschen zieht, zeigt u. a. sein Urteil über den Wert der Sinne. Plato und die anderen griechischen Denker hatten das Auge wegen seines Schauens der Welt für den führenden Sinn erklärt, auch Aristoteles widerspricht solcher Schätzung nicht. Aber eine genauere Abwägung läßt ihn das Ohr wegen seiner Beziehung zur Sprache und damit zur menschlichen Gesellschaft als wertvoller für die geistige Entwicklung erklären. Auch der Unterschied der menschlichen Sprache von den tierischen Lauten bezeugt ihm eine größere Innigkeit unseres Zusammenseins. Der Verzweigung des menschlichen Lebens und Tuns hat er wärmste Teilnahme zugewandt. Er beobachtet fein und zeichnet geschickt die verschiedenen Typen menschlicher Art, seine Schule hat die Schilderung der mannigfachen Charaktere aufgebracht. Ebenso folgen die Jünger nur dem Streben des Meisters, wenn sie den Tugenden des geselligen Lebens ihr besonderes Augenmerk schenken. Endlich entspricht der höheren Schätzung der Menschen und der menschlichen Gemeinschaft die sorgfältige Beachtung der Geschichte bei Aristoteles. Seine eigene Forschung knüpft er gern an die Leistung der Vorgänger an, und seine Schule hat die Geschichte der Philosophie hervorgebracht.

Aber bei aller Schätzung des Menschenlebens bleibt die Gestaltung der Gemeinschaft noch recht einfach. Sie hat nur zwei Hauptformen: das Freundschaftsverhältnis und das staatliche Leben, jenes für die persönlichen Beziehungen der Individuen, dieses für die weitere Gemeinschaft und für die Ordnung der Vernunftarbeit.

Die Freundschaft hat schon deshalb für Aristoteles einen unvergleichlichen Wert, weil, nach Wegfall der Religion, sie allein das Gemütsleben reicher entwickelt und die Individualität voll betätigt. »Ein Leben ohne Freunde würde niemand begehren, besäße er auch alle übrigen Güter«.

Es ist aber die Freundschaft bei Aristoteles die Verbindung mit einem anderen Menschen – der Philosoph denkt namentlich an Einen Freund – zu ständiger Gemeinschaft des Lebens und Handelns, zu so völligem Aufnehmen des anderen in den eigenen Lebenskreis, daß ein »anderes Selbst« in ihm gewonnen wird. Die Freundschaft ist hier kein bloßer Einklang der Gemüter, sondern eine Verbindung des Handelns und Wirkens; auch bei ihr liegt alles an der Tätigkeit, der Gefühlsstand bleibt dieser verbunden und wird von ihr beherrscht. So drängt es auch hier über die bloße Gesinnung hinaus zur Leistung, und dem geistigen Vermögen des Menschen entspricht der Gehalt der Freundschaft. Auch bei ihr gilt es im Austausch Angemessenes zu leisten, in edlem Wettstreit Schritt zu halten. Für eine unverdiente und unbemessene Liebe, für ein Sichselbstvergessen und eine schlichte Hingebung haben diese Zusammenhänge keinen Platz. Die Verbindung mit dem Freunde steigert aber das Glück, weil sowohl die Tätigkeit damit wächst, als die edlen Handlungen des Freundes sich besser anschauen lassen als die eigenen.

Wie dieser Begriff der Freundschaft ein Leben miteinander fordert, so gestattet er eine volle Würdigung der Familie. Dagegen bleibt die Idee der Menschheit hier viel zu schattenhaft, um stark zum Leben zu wirken. Wohl heißt es, daß jeder Mensch dem Menschen lieb und verwandt sei, und daß wir von Natur uns gegenseitig zu helfen neigen, aber es ergibt das keinen festen Zusammenhang, sowie kein gemeinsames Streben. Die kleineren, übersichtlichen Kreise nehmen hier den Menschen gänzlich ein, selten überschreitet der Blick die eigene Nation. Das griechische Volk erscheint mit seiner Verbindung des Mutes der europäischen und der Intelligenz der asiatischen Völker als die Spitze der Menschheit. In Einen Staat verbunden, könnte es alle beherrschen.

Aber dieser Gedanke einer griechischen Weltherrschaft wird – merkwürdig genug für den Lehrer Alexanders – nicht verfolgt, vielmehr bleibt unserem Denker die Hauptform menschlicher Gemeinschaft der griechische Einzelstaat, der Stadtstaat mit seiner Begrenztheit, seiner straffen Zusammenfassung aller Lebenszwecke, seiner engen persönlichen Verknüpfung der einzelnen Bürger. Nirgends mehr als hier, wo er schon im Dahinwelken war, wird dieser Stadtstaat von der Theorie durchleuchtet und verklärt. Seine Begrenzung wird damit verteidigt, daß eine rechte Gemeinschaft nur möglich sei, wo die Bürger ein Urteil übereinander zu fällen vermögen; ihr tieferer Grund liegt darin, daß nur ein kleineres Gemeinwesen mit seiner Geschlossenheit eine Persönlichkeit nach der Art des Individuums bilden kann. Ein solches Persönlichsein des Staates aber bildet den Kern der aristotelischen Lehre; aus dieser Überzeugung folgt eine Gleichheit der Ziele für Staat und Einzelwesen, der engste Zusammenhang von Ethik und Politik. War die in sich selbst begründete und bei sich selbst befriedigte Volltätigkeit das höchste Gut des Menschen, so hat auch der Staat in ihr sein Glück zu suchen. Das ergibt die entschiedenste Ablehnung aller nach außen gerichteten Politik, alles Strebens nach weiterer Ausdehnung, aller Eroberungskriege usw. Vielmehr finde der Staat sein Ziel im friedlichen Wirken, in der Verbindung aller Kräfte zu einem lebensvollen Ganzen, in der Ausbildung aller Beziehungen zwischen den einzelnen Teilen. So wird er der Gottheit gleichen, die, nur mit sich selbst befaßt, ein seliges Leben führt.

Wie es zur Vernunfttätigkeit vor allem der inneren Tüchtigkeit bedarf, so ist diese die Hauptsache auch im Staat. Die äußeren Güter haben auch im gemeinsamen Leben nur als Mittel der Tätigkeit Wert, die dadurch gezogene Schranke sollten sie nicht überschreiten. Schwere Störungen bringt darin aber das leidenschaftliche Verlangen der Menge nach unbegrenzter Anhäufung von Reichtum und Besitz. Der Wahn, darin echtes Glück zu finden, fand verderbliche Nahrung durch die Einführung des Geldes; sein Vermögen einer unbegrenzten Aufspeicherung gab der Gier nach äußeren Gütern immer größere Macht über uns. So hat auch die staatliche Gemeinschaft dagegen energisch zu kämpfen. Wie der Staat für sich selbst nicht mehr äußere Mittel erstreben soll, als die Entfaltung der Tätigkeit fordert, so hat er auch den Erwerbssinn der Bürger in die naturgemäßen Schranken zu weisen und namentlich der Herrschaft des Geldes entgegenzuwirken. Solcher Gedankengang erklärt allen Erwerb vom Gelde für unmoralisch, verpönt alles und jedes Zinsnehmen als Wucher, drückt überhaupt jener Verkehrung von Mittel und Zweck ein Brandmal auf. So die Grundlegung eines moralischen Typus der Wirtschaftslehre, der die Theorie des Mittelalters beherrscht und auch auf die Praxis vielfach gewirkt hat. Aristoteles zeigt völlig klar die beiden Voraussetzungen dieser Lehre: die strenge Begrenzung der äußeren Güter durch ein festes und deutlich erkennbares Lebensziel, sowie das Zusammenfallen des Glückes der Gemeinschaft mit dem des Einzelnen.

Ist aber der Staat im großen, was der Einzelne im kleinen, so gebührt im gegenseitigen Verhältnis jenem der unbedingte Vorrang. In der Tat verficht Aristoteles die völlige Unterwerfung des Individuums, er hat sie auf Formeln gebracht, die als ein klassischer Ausdruck der Lehre von der Allmacht des Staates durch die Geschichte gehen. Den Staat nennt er die selbstgenugsame Gemeinschaft, nur in ihm kann der Mensch seine Vernunftanlage entwickeln, von ihm heißt es daher, er sei früher (d. h. dem Wesen und Begriff nach früher) als der einzelne Mensch.

Sonderbar genug erfolgt diese Unterordnung des Menschen unter den Staat gerade in dem Augenblicke, wo sich das innere Leben den politischen Zusammenhängen entwindet und zur Seele des Einzelnen flüchtet. Auch Aristoteles selbst nahm nicht an staatlicher Gemeinschaft teil. Jene Lehre zeigt deutlich, wie seine Gedankenarbeit rückwärts schaut; die liebevolle Versenkung in das Bild des altgriechischen Staates läßt den gelehrten Forscher die Bedürfnisse der eigenen Zeit und seine eigene Lage vergessen.

Für seinen Staat verwendet der Denker gern das Bild des Organismus, von ihm aus hat es sich in der politischen Theorie eingebürgert. Wie beim organischen Lebewesen das einzelne Glied nur im Zusammenhange mit dem Ganzen lebt und wirkt, mit der Ablösung von ihm zu totem Stoff zerfällt, so verhält sich das Individuum zum Staat. Nie hat es ein Recht gegenüber dem Ganzen. Innerhalb des Ganzen aber die Eigentümlichkeit und das Wirken der Individuen zu vertreten, dazu ist jenes Bild besonders geeignet.

Der Organismus steht nämlich um so höher, je mehr Gliederung, je mehr Scheidung der Funktionen und Organe er aufweist. So seien auch im Staat die Aufgaben möglichst geschieden; es werde nicht ein einförmiger Gleichklang, sondern eine Harmonie in der Mannigfaltigkeit erstrebt. Solche Überzeugung, verstärkt durch die scharfe Beobachtung und den nüchternen Verstand des Philosophen, ergibt eine entschiedene Abweisung kommunistischer Theorien. Nur eine sorgfältige Teilung läßt die Arbeit gut verrichten, die stärksten Antriebe zur Sorge und Liebe gibt dem Menschen sein eigener Besitz und der Kreis seiner Lieben, eine unsägliche Lust gewährt es, etwas sein eigen zu nennen. Auch ist es ein Wahn, von der bloßen Gemeinschaft des Besitzes eine Eintracht der Gesinnung und ein Aufhören aller Verbrechen zu erwarten. Denn die stärkste Wurzel des Bösen ist nicht die Not, sondern die Genußsucht und das unersättliche Mehrhabenwollen; »man wird nicht zum Tyrannen, bloß um keinen Frost zu leiden«.

Die Idee des Organismus in antiker Fassung steigert aber nicht nur die Bedeutung des Einzelnen, sie wirkt auch zu einer Beseelung des Ganzen; sie versteht den Staat nicht als ein durch überlegene Einsicht gelenktes Kunstwerk, sondern als ein von eigenen Kräften getragenes Lebewesen. So gilt es die Gesinnung der Bürger für die Staatsform zu gewinnen, dazu bedarf es aber irgendwelches Teilhabens aller an der politischen Arbeit. Dies zusammen mit der Überzeugung von der Summierung der Vernunft macht Aristoteles zum Anhänger der Demokratie, freilich einer durch die nähere Ausführung sehr eingeschränkten Demokratie. Zugleich stellt er in geradem Gegensatz zu Plato die allgemeine Ordnung über die bloße Persönlichkeit: »wer das Gesetz regieren läßt, der läßt Gott und die Vernunft allein regieren; wer aber den Menschen, der fügt auch das Tier hinzu«.

Weit über die besondere Staatstheorie hinaus wirkt Aristoteles durch seine gesamte Behandlung politischer Fragen. Der staatslose Mann hat sich mit der Klarheit seiner Beobachtung und der Ruhe seines Urteils in die Eigentümlichkeit dieses Gebietes so eingelebt, und sein Denken entwickelt so rein die inneren Notwendigkeiten der Dinge, daß sein Werk eine unerschöpfliche Fundgrube politischer Weisheit bildet. Ein unermeßlicher Stoff wird durch einfache Begriffe und Einteilungen geordnet, Ideale werden vorgehalten, aber sie hindern nicht die Würdigung der realen, namentlich der wirtschaftlichen Verhältnisse, die widerstreitenden Interessen werden mit peinlicher Sorgfalt, aber ohne schwächliche Kompromisse gegeneinander abgewogen, eine enge Beziehung zur Geschichte macht die politische Betrachtung ebenso flüssig wie fruchtbar, die Bedeutung der lebendigen Gegenwart, das Recht der jeweiligen Gesamtlage wird vollauf anerkannt. Ein starker Sinn für Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit trägt alle Einsicht und Klugheit dieser Erörterungen; kurz und bündig wird alles verworfen, was blendet, ohne zu fördern, besonders aber, was den eigenen Vorteil auf Kosten anderer sucht. Mit solcher Verschlingung technischer Größe und ethischer Gesinnung bleibt Aristoteles' Politik, so angreifbar sie in ihren Grundlagen sein mag, ein bewunderungswürdiges Meisterwerk.

 

β. Die Kunst.

Wohl zeigen Aristoteles' Lehren an allen Hauptpunkten einen Nachklang der künstlerischen Denkweise Platos, ihm selbst aber fehlt ein enges persönliches Verhältnis zur Kunst. Seine sachliche Art hat ihn aber auch hier sich so in den Gegenstand einleben lassen, daß ihm die Kunst nicht nur mannigfache Aufklärung im Einzelnen, sondern auch die erste Anerkennung im Ganzen verdankt. Auch Aristoteles versteht die Kunst als eine Nachbildung der Wirklichkeit. Aber den Gegenstand der Nachbildung findet er nicht in den einzelnen Vorgängen mit ihrer Zufälligkeit und ihrem steten Wechsel, sondern in dem Allgemeinen und Typischen der Dinge; der Künstler hat nicht mit dem zu tun, was gerade jetzt, sondern mit dem, was immer oder durchgängig geschieht. Daher heißt hier die Poesie philosophischer und gehaltvoller als die Geschichte, und Homer wird über Herodot gestellt. So wenig das schon eine neue Welt eröffnet und der schöpferischen Phantasie ihr volles Recht gewährt, es gibt der Kunst eine größere Aufgabe und einen höheren Wert. Aber rasch wendet der Denker sich von der allgemeinen Betrachtung zu den einzelnen Künsten, um sowohl ihre seelischen Triebfedern aufzudecken als ihre Wirkungen zu verfolgen. Den Gipfel seiner ästhetischen Theorie bildet die Lehre von der Tragödie, sie hat in der Neuzeit eingreifende Wirkung geübt und viel Bewegung hervorgerufen, sie hat für unsere Betrachtung einen besonderen Wert, weil die Fassung der Tragödie ein Gesamtbild und ein Bekenntnis vom menschlichen Leben enthält. Es bekommt aber die aristotelische Lehre von der Tragödie das rechte Licht nur dann, wenn sie nicht als ein Erzeugnis freischwebender Überlegung, sondern als eine Umsetzung der wirklichen Leistung des griechischen Dramas in Begriffe und Gesetze verstanden wird. Auch hier blickt der Denker rückwärts, er gibt nicht neue Anregungen, sondern er entnimmt die Maßstäbe der großen Vergangenheit. Das Problem der Tragödie liegt hier weniger innerhalb der Seele des Menschen als in seinem Verhältnis zur Welt, nicht in Verwicklungen des eigenen Wesens, sondern in dem Zusammenstoß mit dem Geschick; es ist das Mißverhältnis des Verschuldens und Ergehens, welches das tragische Mitleid vornehmlich erweckt. Eine solche Fassung gestaltet die Handlung einheitlicher, straffer und kürzer als das moderne Drama mit seinen seelischen Kämpfen und inneren Umwandlungen. Denn wo es sich nicht um ein inneres Werden, sondern um einen schroffen Zusammenstoß des im Grunde fertigen Menschen mit dem Schicksal handelt, da wird die Anlage des Stückes um so glücklicher scheinen, je rascher sich alles zur Entscheidung zusammendrängt. So konnte sich die Lehre von der Einheit der Tragödie in Handlung, Ort und Zeit auf Aristoteles berufen, freilich nicht ohne ein willkürliches Ausspinnen und ein starres Festlegen der Lehren des Meisters.

Auch bei der Wirkung der Tragödie sei eine Einmischung moderner Gedanken und Gefühle ferngehalten. Aristoteles spricht nicht von einer Erschütterung und Läuterung der ganzen Seele, sondern von einer Erregung der Affekte Mitleid und Furcht. Was er von solcher Erregung erwartet, darüber wird noch immer gestritten. Offenbar aber scheint bei Aristoteles nicht durch den einzelnen Fall ein gemeinsames Menschenlos hindurch, sondern er sucht eine Wirkung vom Einzelnen zum Einzelnen; er will Menschen und Schicksale geschildert sehen, die jeden unmittelbar mit Furcht und Mitleid erfüllen. Das ergibt eigentümliche Regeln und Grenzen. Jenes Ziel erscheint am ehesten erreichbar durch Vorführung jäher Schicksalswendungen, namentlich vom Glück zum Unglück, wenn sie jemanden treffen, der weder im Guten noch im Bösen durch ausnehmende Leistungen von uns abweicht, und der nicht sowohl durch Bosheit als durch entschuldbares Fehlen untergeht. So erscheint auch hier der Gedanke der Mitte, des Maßes, nicht ohne eine Neigung, für den Gesamtmenschen den Durchschnitt einzusetzen. Das schließt die Höhen wie die Abgründe menschlichen Handelns aus. Das Nüchterne der aristotelischen Theorie würde stärker empfunden werden, würde sie nicht unvermerkt durch die Meisterwerke ergänzt, aus denen sie schöpft, ohne ihre Tiefe voll zu erschöpfen.

Aber auch auf diesem Gebiete hat Aristoteles weit über seine Begriffe und Regeln hinaus durch die Tüchtigkeit seiner Behandlung gewirkt. Mit ihrer Klarheit, Umsicht und Sachlichkeit behält auch diese Leistung trotz ihrer Grenzen eine bleibende Anziehungskraft.

 

γ. Die Wissenschaft.

Die Wissenschaft bildet die Höhe der aristotelischen Arbeit, seiner Hochschätzung der Theorie entspricht eine Leistung unvergleichlicher Art. Zunächst scheinen dabei seine Wege völlig andere als die seines großen Lehrers. Die Intuition weicht vor der Erörterung und Begründung zurück, die Analyse dringt kräftig vor, das Kleine und Besondere wird sorgsam gewürdigt, die einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen gewinnen eine Selbständigkeit. Zugleich verschwindet aus der wissenschaftlichen Forschung der platonische Affekt, nicht mehr ruft sie den ganzen Menschen zu einer Gesamtentscheidung auf. Dafür wird sie ein gründliches Eingehen auf den Gegenstand und ein Erschließen seines eigentümlichen Wesens, wird sie eine sorgfältige und eindringende, weltoffene Arbeit des Entdeckens. Zugleich erlangt die Wissenschaft zuerst eine technische Gestalt und auch eine eigene Sprache; während Plato die Festlegung von Kunstausdrücken als eine Hemmung freier Bewegung abwies, schuf Aristoteles der Wissenschaft ihre Kunstsprache, die uns noch immer beherrscht. Seine Wissenschaft ist demnach weit mehr Wissenschaft im neueren Sinne, auch erzeugt sie einen eigentümlichen Typus des Forscherlebens, den das spätere Altertum weitergeführt hat.

Aber trotz solcher Wandlungen und Weiterbildungen verbleibt ein enger Zusammenhang mit Plato und dem klassischen Griechentum. Unmittelbar ergriffene Wahrheiten tragen auch Aristoteles' Forschung, alles Wachstum der Analyse erschüttert nicht die Überlegenheit der Synthese, da die Elemente von vornherein Glieder eines Ganzen bilden. Namentlich ist das Verhältnis des Menschen zu den Dingen gegen Plato nicht so verändert, wie der erste Anblick es darstellt. Denn mag Aristoteles die eigene Stimmung zurückhalten und der Forderung der Sache unterordnen, ihr Bild gestaltet sich ihm unter dem Einfluß des betrachtenden Menschen. Mit seinem Umsetzen der Wirklichkeit in Kräfte, Strebungen, Anlagen, Zwecke vollzieht auch er eine, wenn auch leisere Personifizierung, eine um so gefährlichere, als sie der Beachtung leicht entgeht und die eigenen Voraussetzungen verbirgt. Aristoteles' Weltbegriffe leiden durchweg an einer Vermengung logischer und sinnlicher Größen, an einer versteckten Bildlichkeit. Das mußte um so schädlicher wirken, je tiefer seine staunenswerte Energie die leitenden Gedanken in den Befund der Wirklichkeit eingrub. Daher war der Aufstieg der neuen Wissenschaft unmöglich ohne eine Zerstörung der aristotelischen Gedankenwelt.

Aristoteles' Größe liegt weniger in der Prinzipienforschung als da, wo die Grundgedanken sich mit dem Reichtum der Erfahrung berühren; jene Gedanken dabei weiterzubilden, die Unermeßlichkeit des Stoffes aber zu durchdringen, zu gliedern und zu beleben, das ist seine unvergleichliche Stärke. Hier vornehmlich erscheint er als »der Meister derer die wissen« (Dante).

Die Entwicklung dieses Vermögens ließ ihn das ganze Gebiet des Wissens durchwandern und überall meisterlich wirken. Wir bewundern dabei das völlige Gleichmaß des Interesses, es läßt ihn einmal die reine Spekulation als den Gipfel des Lebens, die Vollendung des Glückes preisen, es macht ihn zugleich zu einem induktiven Forscher ersten Ranges sowie zum begeisterten Freunde der Naturwissenschaften und legt ihm für sie, in besonderem Hinblick auf die damals noch vielfach angefochtene anatomische Forschung, das Wort des Heraklit in den Mund: »Tretet ein, auch hier sind Götter«.

Mit solcher Gesinnung hat Aristoteles als erster die Elemente und Funktionen des menschlichen Denkens ermittelt und ein System der Logik geschaffen, das Jahrtausende beherrscht hat; er zuerst klärt Grundbegriffe wie Raum und Zeit, Bewegung und Zweck; er führt von dem großen Weltbau durch die ganze Stufenleiter der Natur bis zur Höhe des organischen Lebens, zugleich einer Höhe seiner eigenen Forschung; er entwirft das erste System der Psychologie; er verfolgt das menschliche Leben und Tun sowohl in das ethische und politische Gebiet als in das der Rede und Kunst, überall darauf bedacht, die ganze Leistung und Erfahrung seines Volkes seiner Arbeit einzufügen. Über allen einzelnen Disziplinen aber schwebt die Metaphysik, die erste systematische Prinzipienlehre, die nach seiner Fassung das Sein in dem erkennen möchte, was es an sich selber ist, sie hat mit einfachen Grundbegriffen ein festes Gefüge der Wirklichkeit entworfen, das nicht wenig dazu beitrug, die Begriffsarbeit selbständig zu machen und das Leben mit Gedanken zu durchdringen.

Das Ergebnis dieser unermeßlichen Arbeit ist gar leicht zu bemäkeln. Nicht nur war auch Aristoteles ein Kind seiner Zeit, die Unfertigkeit des damaligen Wissensstandes mußte sein eifriges Streben nach einem systematischen Abschluß verhängnisvoll machen. Denn indem eine hervorragende logische Kraft das meist völlig unzulängliche Material ausspann und zusammenspann, hat sie oft mehr den Irrtum als die Wahrheit festgelegt; so geschah es z. B. beim astronomischen Weltbild, so auch bei der Frage nach dem Sitz der Seele. Aber wie konnte Aristoteles ahnen, was nach ihm kommen würde, wie konnte er seine Gedankenwelt für eine ferne Zukunft offen halten? Wenn jede gerechte Würdigung seine überragende Größe anerkennen muß, so schuldet besonders eine Betrachtung der Lebensanschauungen ihm Dank dafür, daß er mit unermüdlicher Arbeit weite Gebiete der Wirklichkeit dem Menschen erschlossen und das Reich des Geistes als Herrscher gemehrt hat.

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c. Rückblick.

Um Aristoteles richtig zu würdigen, ist sein Verhältnis zum Griechentum in zutreffender Weise zu fassen; eine Verkennung dessen ließ bis in unsere Zeit den Denker oft schief verstehen und über- oder unterschätzen. Weil er nicht mehr die Bewegungen der klassischen Zeit als Kämpfer teilt, sondern ihre Leistungen ruhig überschaut, weil er alles Empfangene in Begriffe umsetzt und auf Gründe zurückführt, ward sein enger Zusammenhang mit der eigentümlich griechischen Kultur oft verkannt und er als ein Philosoph freischwebender Begriffsarbeit hingestellt. Daß in Wahrheit Aristoteles, so sehr er die Technik der Forschung steigert, an das klassische Griechentum gebunden bleibt, daß seine Lehren und Begriffe bei aller logischen Fortbildung und verstandesmäßigen Fassung tief im griechischen Boden wurzeln, das zeigte auch die Betrachtung seiner Lebensanschauung. Denn sie zeigte sein Denken in unablässiger Beziehung zur griechischen Welt, als eine wissenschaftliche Durchbildung der Grundgedanken dieser Welt. Die ganze Tiefe jener Welt hat es freilich nicht in sich aufgenommen; wie könnte das ein System, das keine schweren seelischen Erschütterungen kennt, das daher für Religion gar keinen Boden hat?

Aber bei jenem Zusammenhange verbleibt ein eigentümlich aristotelischer Lebenstypus. Durch männliche Kraft, sachliche Tüchtigkeit, schlichte Wahrhaftigkeit wird hier das Wissen und Wirken zur Arbeit, zur Arbeit, die das Leben erfüllt und den Menschen der Wirklichkeit eng verbindet. Indem die Forschung von der Oberfläche zum Grunde vordringt, erhält die Welt, die uns umgibt, einen ungleich reicheren Gehalt; einem geschärften Blick enthüllen die Dinge ein eigenes Leben, ein nach Zwecken geordnetes, in sich selbst befestigtes und voll befriedigtes Leben. Zugleich tritt die Welt in eine Fülle von Gestalten auseinander, die zu erfassen und in einen Kosmos zusammenzufügen zum Hauptziel der Forschung wird. Sie zeigt sich stark darin, auseinanderzulegen und zusammenzuknüpfen, Einteilungen zu vollziehen, Gegensätze auszugleichen, Übergänge und Vermittlungen aufzuweisen, alle Fäden untrennbar zu verweben. Indem für die platonische Schönheit hier die logische Ordnung eintritt, entsteht die erste systematische Durchbildung der Gedankenwelt. Mit dem allen befestigt und beruhigt sich die Lebensstimmung, von emsiger Arbeit und stetiger Entwicklung wird hier alles Heil erwartet. So führt Aristoteles die Reihe der Denker, denen sich Welt und Leben als ein fortlaufender Zusammenhang darstellt; wie er nicht die Schroffheit der Gegensätze Platos kennt, so tut ihm nicht wie diesem eine völlige Umwälzung not.

Die Größe und Fruchtbarkeit der aristotelischen Leistung muß auch der anerkennen, der die Fragen nicht unterdrücken kann, ob diese Rationalisierung der Wirklichkeit nicht manches Wertvolle verloren gehen ließ, und ob Aristoteles die erstrebte Überwindung der Gegensätze in Wahrheit erreicht hat. Wer seine Gedankenwelt und auch seine Denkweise näher prüft, der findet, wenn auch selten, so doch an besonders wichtigen Stellen, eine größere Tiefe, eine andere Grundstimmung als sonst; gelegentlich bricht jene, mehr platonische Art mit überraschender Stärke hervor. Die Verfolgung solcher Beobachtung führt zu der Frage, ob Aristoteles überhaupt eine einzige Wirklichkeit hat, ob er nicht zwei verschiedene Welten und Betrachtungsweisen fortwährend ineinander schiebt, die eine, welche das Leben über die Erfahrung hinaushebt und es auf sich selber stellt, die andere, welche alles Geschehen an die Umgebung bindet und die Wechselwirkung von Innerem und Äußerem zur Hauptsache macht, ob daher an dieser entscheidenden Stelle Plato nicht konsequenter denkt als Aristoteles.

Doch solche Fragen seien hier nur angedeutet zur Unterstützung der Überzeugung, daß Aristoteles' Größe weniger in der inneren Einheit seiner Welt- und Lebensanschauung als in der Durchdringung weiter Gebiete mit einfachen und fruchtbaren Gedanken liegt. So bezeugt es auch seine geschichtliche Wirkung, die wiederum ein volles Gegenstück zu Plato bildet. Nie hat der Aristotelismus eine aufsteigende Gedankenbewegung geführt oder auch nur bedeutende Anregungen gegeben. Aber überall da schien er wertvoll, ja unentbehrlich, wo es vorhandene Gedankenmassen auszubauen, logisch zu gliedern, systematisch durchzubilden galt. So wirkte er schon im späteren Altertum zur Sammlung und Befestigung; so griff zu ihm, dem anfangs kühl behandelten, das Christentum, sobald die erste Aufregung beschwichtigt und die Zeit für eine Durcharbeitung der neuen Ideen gekommen war; so wurde Aristoteles zum Hauptphilosophen des mittelalterlichen Kirchensystems mit seiner Organisation der Gedankenwelt. Aber auch in der Neuzeit haben systematische und organisierende Denker ersten Ranges, haben Männer wie Leibniz und Hegel ihn hochgehalten und Wertvolles von ihm empfangen. Wo immer die aristotelische Denkart Einfluß gewann, da hat sie zur logischen Schulung, zur Bildung großer Zusammenhänge, zur Sicherung eines festen Grundstocks der Arbeit, zur Austreibung von Willkür und Subjektivismus gewirkt. Auf ihrem erziehenden und befestigenden Wirken ruht auch die moderne Kultur und Wissenschaft.

Unleugbar wurde solcher Gewinn oft teuer erkauft. In Zeiten minderer geistiger Spannung konnte das Gewicht und die Geschlossenheit des aristotelischen Systems das eigene Denken erdrücken, gegen seine festgewurzelte Autorität schien nicht Neues im Rechte zu sein, das engverschlungene Netz seiner Begriffe ließ nicht leicht wieder los, die sich darin verfangen hatten. Das aber ist weniger die Schuld des Meisters als die der Schüler, die ihm keine Selbständigkeit entgegenbrachten.

Völlig unbestreitbar dagegen ist Aristoteles' Größe und Einfluß auf den einzelnen Wissens- und Lebensgebieten. Hier hat er seine Spuren so tief eingegraben wie kein zweiter Denker im ganzen Lauf der Geschichte, so daß ohne eine Vergegenwärtigung seines Lebenswerkes sich unsere Gedankenwelt nicht geschichtlich verstehen läßt.

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Für das klassische Altertum war es von größtem Belang, daß dem bahnbrechenden Genius ein ausführender folgte, daß die umsichtige, klare, arbeitskräftige Art des einen die ursprüngliche Tiefe und das geniale Schaffen des anderen aufnahm und in den Bestand der Erfahrung hineingrub. So wurde einerseits rein entfaltet, was jene Kulturwelt für die letzten Fragen des Lebens zu bieten hatte und zur Erhebung der Seelen wirken konnte; so verwandelte sich andererseits die Bewegung in fruchtbarste Arbeit, die den Gewinn des Ganzen allen einzelnen Gebieten zugehen ließ. Plato und Aristoteles verkörpern vorbildlich zwei Hauptrichtungen der Weltanschauung und Lebensstimmung, die wohl dauernd das menschliche Streben begleiten werden.

Das griechische Schaffen selbst wird durch die Philosophie in seinem Wesen aufgehellt und der gesamten Menschheit näher gebracht. Mochte der Stand der Umgebung den Philosophen nicht genügen und gegen ihn Plato aufs härteste kämpfen, Aristoteles aber in stillerer Weise zur Umbildung wirken, es blieb ein enger Zusammenhang der Denkarbeit mit dem Leben, seine Ziele und Güter werden geläutert und veredelt in sie aufgenommen und damit in ihrer Wirkung gefördert. Aus solchem Aufnehmen und Weiterbilden entspringt ein Lebensideal geistiger Kraft und geistigen Schaffens, das Wahres und Schönes, Wissenschaft und Kunst in wunderbarer Weise verschmilzt und auch dem Guten sich nicht entfremdet. Denn alle Arbeit wird hier von edler persönlicher Gesinnung und einem schlichten Glauben an die Weltmacht des Guten getragen.

Auch sonst umspannt dieses Lebensideal Gegensätze, die später oft hart zusammenstießen. Es waltet hier ein freudiges Vertrauen auf unser geistiges Vermögen und den Sieg der mutigen Tat, aber solcher Lebensmut überspannt sich nicht zu kecker Selbstüberhebung, der Mensch weiß sich an überlegene Ordnungen gebunden und empfängt daraus willig ein Maß, seine Größe läßt ihn zugleich seine Schranke, seine Schranke seine Größe empfinden. Wir werden zur Belebung unseres ganzen Wesens und zu eifriger Tätigkeit aufgerufen, aber die Tätigkeit gewinnt auf ihrer Höhe ein Ruhen in sich selbst, das von aller Hast des Alltags befreit und das Leben mit reiner Freude erfüllt. Alles Streben und Sein soll in festen Zusammenhängen bleiben, nicht sich vereinzeln und zerstreuen; aber diese Zusammenhänge erdrücken und vernichten die Eigentümlichkeit des Einzelnen nicht, sondern sie geben ihr innerhalb des Ganzen einen sicheren Platz und einen erhöhten Wert.

Solche Verknüpfung der Hauptbewegungen und Gegensätze in einem übersehbaren, auch dem unmittelbaren Seelenstande nahen Ganzen macht die Lebensanschauung der klassischen Denker unvergleichlich und unersetzlich. Denn der Fortgang der Kultur hat das Leben immer weiter auseinandergetrieben, die Schroffheit der Gegensätze, die äußeren Widerstände, die inneren Verwicklungen immerfort gesteigert; immer mehr Verwirrung und Entzweiung ist in unser Dasein gekommen. Können wir trotzdem nicht auf alle Einheit verzichten, ohne uns selbst aufzugeben, so werden wir uns gern eine Lebensgestaltung nahehalten, die uns das Ziel des ganzen Menschen durch eine kräftige und glückliche Ausführung anschaulich vor Augen stellt. Die Besonderheit dieser Ausführung ist durch tiefgehende Wandlungen unhaltbar geworden: die Grundlagen, welche die alte Lebensordnung trugen, haben schwere Probleme erkennen lassen, vieles, was ein naiver Lebensstand von Haus aus vorhanden oder doch leicht erreichbar glaubte, haben wir erst mühsam zu erringen und dafür manches an den Dingen wie an uns selbst zu verändern. Aber das alles läßt das Recht der Ziele und die Größe der Gesinnung unangetastet, sie können immer von neuem anziehen, fördern, erquicken.

Demnach können jene beiden Denker trotz alles Sterblichen, das auch ihnen anhaftet, Lehrer und Bildner der Menschheit bleiben. In Arbeit und Lebenserneuerung, in guten und bösen Tagen ist sie immer wieder zu ihnen zurückgekehrt, als zu Helden des Geistes, die unverlierbare Ideale zeigen und sicher einführen in die Blütezeit des klassischen Altertums mit ihrer Weckung alles Vermögens, ihrer Zusammenfassung alles Tuns, ihrer Ursprünglichkeit des Schaffens, ihrer Klarheit des Gestaltens, ihrer Vornehmheit der Gesinnung, ihrer unversieglichen Jugendkraft.


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