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a. Der Grundcharakter der Renaissance.
Die Renaissance hat neuerdings viel Erörterung und Streit hervorgerufen. Nicht nur ihr Ursprung ward verschieden erklärt, auch ihre Wirkung fand verschiedene Beurteilung. Auch sah man schärfer, was sie an Bewegung hemmte oder doch störte. Eine Behandlung dieser Probleme ist für uns ausgeschlossen; wir halten uns an das Gesamtbild, das hervorragende Kenner von jener entworfen haben, und das keineswegs ganz in Licht gemalt ist. Im Anschluß an sie erblicken wir in der Renaissance keineswegs eine bloße Wiederaufnahme des klassischen Altertums, sondern an erster Stelle ein Erzeugnis modernen Lebens. Es ist Italien, das unter der Gunst besonderer Umstände dies Leben zum Durchbruch bringt; so verschmilzt mit seinen gemeinsamen Zügen eng die Eigentümlichkeit der italienischen Art. Es hätte aber jene Zeit sich dem Altertum nicht so nahe fühlen und es so eng dem eigenen Streben und Schaffen verbinden können, bestünde nicht in Hauptpunkten eine Verwandtschaft, die das Hier und das Dort über das Mittelalter hinweg sich die Hand reichen ließ. Dieses Gemeinsame sei zunächst betrachtet.
Mit der Antike teilt die Renaissance die Schätzung der Welt und der weltlichen Arbeit. Die Zurückziehung des Lebens auf eine weltferne Innerlichkeit, dies Endergebnis des alten Christentums, genügt einer jugendlich aufstrebenden Menschheit nicht mehr, immer stärker fühlt sie sich zur Welt hingezogen, bis sich ihr der Schwerpunkt des Lebens dahin verlegt, das Jenseits aber gänzlich verblaßt. Weniger ein schroffer Bruch als eine allmähliche Verschiebung hat diese Wandlung hervorgebracht. Die Religion wird nicht bekämpft und verworfen, aber sie legt die strenge und starre Hoheit ab, mit der sie zum mittelalterlichen Menschen sprach; sie nähert sich dem unmittelbaren Leben, indem ihre Gestalten sich in reinmenschliche Züge kleiden und freundlich in unserem Kreise bewegen. Solches Vertrautwerden des Göttlichen erhöht zugleich das Menschenleben, es vermindert sich der Abstand der Welten, aus einem schroffen Gegensatz zu einer überlegenen Ordnung wird unser Dasein zu ihrem Ausdruck und Abglanz. Namentlich ist es die Kunst, welche in dieser Richtung die Welt verklärt und dem Menschen auch innerlich zur Heimat macht. Aber in der Erhöhung des Diesseits läßt sie zugleich ein Jenseits stehen und gibt auch ihm die menschlichsten und liebenswürdigsten Züge; ein so freudiges Lebensgefühl umspannt die Welten, daß ein Widerspruch kaum empfunden wird. So zeigt z. B. die Hauskapelle der Mediceer nebeneinander die künstlerische Veredlung des Diesseits und die lebensvolle Vergegenwärtigung eines herrlichen Jenseits. Solche Denkweise vermag eine warme Begeisterung für das Altertum und eine aufrichtige Frömmigkeit christlicher Art miteinander zu verbinden; die platonische Akademie, diese höchste philosophische Schöpfung der Renaissance, glaubt Altertum und Christentum zu vollem Einklang bringen zu können.
Aber die Wandlung, welche dem Bewußtsein zunächst entgeht, ist vorhanden und voller Wirkung. Das Bild der Welt gewinnt bei sich selbst einen engeren Zusammenhang; Natur und Innerlichkeit, so lange verfeindete Mächte, streben wieder zueinander; die Natur erhält die Beseelung zurück, die das Altertum bis zum letzten Atemzuge verfochten hatte. Noch enger berührt die Lebensführung die Ausbildung eines weltlichen Kreises neben der Kirche, der seine Glieder mit bedeutenden Aufgaben umfängt und zunächst in Italien, dann aber im ganzen westlichen Europa zusammenhält.
Sodann erneuert die antike Denkart sich in der Rückkehr zur Schätzung der Form. Das alte Christentum sahen wir, von der glatten und leeren Form des späten Altertums abgestoßen und allein der Rettung der unsterblichen Seele zugewandt, alle Sorge auf die Gesinnung richten, die Form dagegen als gleichgültig, ja gefährlich verwerfen. Nun aber gewinnt die Form die alte Stellung zurück, ein jugendfrisches Streben geht dahin, alles chaotische Durcheinander auszutreiben, scharf zu scheiden und deutlich auszuprägen, das Geschiedene aber zu fester Gliederung zusammenzufügen. Erst solche Gestaltung scheint die rohe Natur zu überwinden und die Welt dem Menschen zu unterwerfen, mit edler Freude durchdringt sie das ganze Dasein. Eine Bildung in diesem Sinne wird nun zum herrschenden Lebensideal und gewinnt von hier aus die ganze Neuzeit.
Aber alle Annäherung der Renaissance an das Altertum läßt einen wesentlichen Unterschied stehen. Was im Altertum den Einzelnen mehr vom Ganzen her umfing und ihm mühelos zufiel, das muß jetzt ein jeder durch eigene Arbeit erkämpfen, das verlangt ein kühnes Durchbrechen der nächsten Überlieferung. Das macht die Leistung bewußter und angriffsfroher, der Gang durch das Nein verschärft das Ja, die Wendung zur Welt wie zur Form zeigt die Stimmung einer Rückkehr aus langem Wahn zu unantastbarer Wahrheit, die Freude der Genesung von schwerer Erkrankung. Schon darin erscheint die stärkere Entfaltung des Subjekts, die der Renaissance besonders eigentümlich ist; es hebt sich kühner von der Umgebung ab, begegnet ihr freier, erweist an ihr mehr eigenes Vermögen. So wird es hier zum Mittelpunkt des Lebens, der auf sich alle Weite bezieht und von sich aus allen überkommenen Stand verändert.
Es ist nicht leicht, darüber Rechenschaft zu geben, wie der moderne Mensch in der Art der Renaissance seinen eigentümlichen Charakter erlangt hat; wir wissen, wie hier die Ansichten der Forscher vielfach auseinander gehen. Doch haben wohl Ergebnisse der weltgeschichtlichen Arbeit und die Besonderheit des begabten und beweglichen italienischen Volkes dabei zusammengewirkt. Zunächst war die alte Kultur in Italien nicht so verschüttet, um nicht bei einiger Anstrengung sich wieder beleben zu lassen. Dagegen hatte das Mittelalter hier seine besondere Art nicht so stark ausgeprägt und so tief eingegraben wie im Norden. Dazu kommen die eigentümlichen, an sich recht unglücklichen politischen Verhältnisse, die Zersplitterung der Staaten, die Erschütterung und Vernichtung legitimer Gewalten, indem sie den Einzelnen mehr auf seine eigene Kraft und Entscheidung stellen. In Italien zuerst finden wir die Individuen nicht sowohl durch ihre Zugehörigkeit zu einem Stande, einer Zunft und Gilde bestimmt als durch ihre eigene, aller äußeren Bindung überlegene Art; dem Menschen prägt hier nicht als einem Gattungsexemplar seine soziale Stellung feste Züge auf und schreibt seiner Arbeit ihre Bahnen vor, sondern er kann sich aufs freieste bewegen und seine eigene Art in sein Schaffen legen. So entfalten sich die Individualitäten kräftiger und deutlicher als je zuvor; mit wieviel größerer Lebenskraft und mit wieviel schärferen Zügen stehen vor unseren Augen die Gestalten der beginnenden Renaissance als die des Mittelalters mit ihrer Gebundenheit und Gleichartigkeit.
Aber die welterneuernde Kraft des modernen Subjekts und der Siegeszug seiner Befreiung durch alle Kulturnationen ist nicht verständlich ohne die großen Wogen der weltgeschichtlichen Bewegung. Eine reine Innerlichkeit bedurfte nicht erst einer Entdeckung, war doch schon der Ausgang des Altertums unter der Führung Plotins in schmerzlichen Kämpfen zu ihr vorgedrungen und hatte das Mittelalter sie als einen Unter- und Nebenstrom treu bewahrt, am meisten im seelischen Leben und Weben der Mystik. Nun aber fühlt sie sich stark genug, solche Verpuppung zu durchbrechen und die ganze Welt zu durchdringen, nun verheißt dem Individuum seine eigene Natur eine Unendlichkeit, deren Entfaltung die Unendlichkeit der Dinge zu dienen hat. So wird die Verinnerlichung des Lebens, jenes Vermächtnis einer erlöschenden Welt, jetzt zum Keim einer gehaltreichen Zukunft.
Es erscheint aber die größere Selbständigkeit des modernen Subjekts hauptsächlich in der schärferen Auseinandersetzung mit der Welt, in der deutlicheren Scheidung dessen, was hierher oder dorthin gehört. So hat das Wachstum zwei Seiten: der größeren Innerlichkeit des Geisteslebens entspricht eine klarere und kräftigere Gegenständlichkeit der Dinge, aus der Wechselwirkung beider zieht das Leben mehr Frische, Bewegung, Gehalt. »Im Mittelalter lagen die beiden Seiten des Bewußtseins – nach der Welt hin und nach dem Innern des Menschen selbst – wie unter einem gemeinsamen Schleier träumend oder halbwach. Der Schleier war gewoben aus Glauben, Kindesbefangenheit und Wahn; durch ihn hindurchgesehen erschienen Welt und Geschichte wundersam gefärbt, der Mensch aber erkannte sich nur als Rasse, Volk, Partei, Korporation, Familie oder sonst in irgendeiner Form des Allgemeinen. In Italien zuerst verweht dieser Schleier in die Lüfte; es erwacht eine objektive Betrachtung und Behandlung des Staates und der sämtlichen Dinge dieser Welt überhaupt; daneben aber erhebt sich mit voller Macht das Subjektive, der Mensch wird geistiges Individuum und erkennt sich als solches« (Burckhardt).
Solche schärfere Scheidung des Menschen von der Umgebung ruft alle seelischen Kräfte zu kräftigerer und freierer Betätigung auf. Reflektierende Erwägung eilt voran und ermittelt die Bahnen, leicht glaubt sie die Dinge von sich aus bereiten, z. B. eine Staatsverfassung aus bloßer Theorie erzeugen zu können; sie kann aber nicht so viel wagen ohne ein enges Bündnis mit der Phantasie, einer hochgemuten Phantasie, welche kühne Gebilde schafft und aus den zerstreuten Erscheinungen neue Zusammenhänge bildet. Nunmehr läßt man die Dinge nicht stehen, wie sie sich finden; man unterwirft sie der Kritik, man erweist sein Vermögen an ihnen und zwingt sie zum Gebrauch oder Genuß des Menschen. Auch das Gefühlsleben mit seinem Glücksverlangen ist grundverschieden von dem des Mittelalters, es richtet nicht Glauben und Hoffnung auf ein jenseitiges Leben, sondern es will unmittelbar befriedigt sein und drängt mit glühendem Eifer zu vollem Glück schon auf Erden.
Alle Verstärkung der Innerlichkeit reißt daher den Menschen nicht von der Wirklichkeit los, da nur an ihr sich die Kräfte entfalten und nur aus ihr sich das Leben erfüllt. Ein eifriges Streben sucht allen Nebel überkommener Vorurteile zu zerstreuen und den reinen Bestand der Dinge zu erfassen; auf den Boden dieser nüchtern und scharf erfaßten Wirklichkeit stellt sich das eigene Tun. Überall gilt es, die Dinge erst recht zu entdecken, sie genauer zu fixieren und anschaulich zu schildern. Damit gewinnt die Welt mehr Gegenständlichkeit und tritt mit voller Klarheit dem Subjekt als Objekt entgegen. Aber sie erdrückt dabei jenes nicht, bildet doch seine Arbeit die Werkstatt, welche jene Klärung hervorbringt.
Aber wenn damit Subjekt und Objekt aufeinander angewiesen werden, sie bleiben entgegengesetzte Pole, die leicht in feindliche Spannung geraten; seine Höhe erreicht das Leben da, wo beides zusammen festgehalten, fruchtbar aufeinander bezogen, zur Gemeinschaft der Arbeit verbunden wird. Dies geschieht vornehmlich in der Kunst; als Schaffen, aber auch als Schauen. Denn wie auf ihrem Gebiet alle innere Bewegung zu einer Verkörperung strebt, so läßt das draußen Befindliche sich nicht aneignen ohne eine Beseelung zu empfangen; so gelangt das Leben im Schönen zur Einheit und zur Vollendung. Das Bündnis von Kraft und Schönheit, oder besser: die lebendige Schönheit wird zum höchsten Lebensziel.
Diese Neubelebung der Schönheit zeigt aber einen weiten Abstand vom Altertum. Das Schöne ist nunmehr nicht bloß ein ruhiges Schauen, ein Sichvergessen in den Gegenstand, sondern das Subjekt ist viel zu stark erregt, um nicht immer wieder an sich selbst zu denken, zu sich zurückzustreben, aus der Lebenssteigerung Genuß zu ziehen. Auch galt dort – wenigstens auf der Höhe der klassischen Zeit – das Schöne dem Guten so verschwistert, daß beides in einen einzigen Begriff zusammengehen konnte ( καλὸν κἀλαθόν). Bei einer Spaltung aber treten die Denker überwiegend auf die Seite des Guten. Die Renaissance dagegen lockert die Beziehung zur Moral, das Schöne wird selbständig gegen das Gute, es entsteht eine ausgeprägt ästhetische Lebensführung und Lebensanschauung. Die Kunst wird damit nicht Unmoral, aber was sie an Moral bedarf, das möchte sie aus sich selbst erzeugen und nach ihren eigenen Forderungen gestalten. Seinen Hauptwert hat hier das Schöne als Werkzeug des Lebens, als Mittel zur vollen Entwicklung alles geistigen Vermögens. Die Formgebung dient der Herausarbeitung, Betätigung, Genießung alles dessen, was die Seele in sich trägt; was immer der Lauf der Geschichte an Innerlichkeit bereitet hatte, das verwandelt jetzt die künstlerische Bildung in vollen Besitz und Genuß. Das gibt der Kunst der Renaissance, vornehmlich der Malerei, ihre bleibende Bedeutung und Macht, daß in ihr der Mensch der Neuzeit sich selber sucht und entdeckt; das Bild spiegelt hier nicht eine fertige Sache, sondern es treibt von sich aus das Leben weiter. So vertritt die Kunst ein neues Lebensideal, das Ideal des universalen, in allen seinen Äußerungen zur Harmonie gestimmten Menschen.
Eine solche Höhe erreicht das Schaffen aber nur in einem engeren Kreise, sonst verlieren die subjektive und die objektive Seite, Seelenstand und Leistung, leicht das Gleichgewicht, indem das eine das andere zurückdrängt und seiner Herr zu werden sucht. Einerseits die Richtung auf schwelgende Lust und schimmernde Pracht, ein durch künstlerischen Geschmack wohl gebändigtes und veredeltes, aber höherer Ziele ermangelndes Leben in Luxus und Genuß. Andererseits eine Ablösung der äußeren Leistung von der Innerlichkeit, der Trieb, alle Umgebung in den Dienst des Menschen zu ziehen, eine Bewegung zur bloßen Nützlichkeit und Zweckmäßigkeit; damit ein starkes Wachsen der Technik, ein Herstellen mechanischer, namentlich in der Hand großer Individuen leistungsfähiger Gebilde, aber zugleich eine volle Gleichgültigkeit gegen die letzten Ziele und den menschlichen Seelenstand. Demnach spaltet sich das Streben bei sich selbst und hat recht verschiedene Höhenlagen. Aber schließlieh umspannt eine Gesamtbewegung alle Gegensätze, durchdringt alle einzelnen Gebiete; wirkt überall ins Weite, Kräftige, Großzügige, nicht selten ins Dämonische und Ungeheure.
Große Veränderungen erfährt zunächst das Verhältnis zur Welt und Natur. Die Renaissance ist die Zeit der Entdeckungsreisen, sie möchte alle irgend zugängliche Wirklichkeit in den menschlichen Gesichtskreis ziehen und dem eigenen Leben verknüpfen. Der Kulturmensch bemächtigt sich jetzt der ganzen Erde; sie klaren Blicks überschauend, findet er sie nicht mehr, wie frühere Zeiten, übergroß und ungeheuer; ein Columbus spricht das stolze Wort: »Die Erde ist klein.« Auch den Reichtum ihrer Bildungen soll die Natur den Menschen wahrnehmen und genießen lassen; botanische Gärten werden angelegt, Menagerien gezeigt, durchgängig die sinnliche Umgebung nähergerückt.
Aber dem Menschen der Renaissance genügt es nicht die Natur nur zu schauen, er möchte sie auch beherrschen. Hier aber hat er noch enge Schranken, und sein Versuch diese zu überschreiten führt leicht in arge Verirrung. Schätzbare Anfänge wissenschaftlicher Forschung sind da, und gegen das Ende des 15. Jahrhunderts steht Italien in der Mathematik und den Naturwissenschaften an der Spitze Europas, auch der Sinn für technische Erfindungen ist erwacht. Aber im großen und ganzen bleibt die Behandlung der Natur noch spekulativ und subjektiv, die Arbeit entbehrt sicherer Angriffspunkte. Durchgängig gilt die Natur als beseelt, während die Einsicht in ihre Gesetzlichkeit fehlt und das Wunderbare daher nicht befremdet. Wenn zugleich der ungestüme Lebensdrang eine volle Herrschaft über die Außenwelt fordert, so treibt leicht eine zügellose Phantasie den Menschen in das dunkle Gebiet der Magie. So schießen Zauberwesen und Aberglaube üppiger auf als im Mittelalter, geheime Künste sollen die der Wissenschaft noch verschlossene Natur überlisten und in den Dienst des Menschen zwingen. Das Schlimmste aber ist der Hexenglaube, dessen schwerer Alp und dessen furchtbares Blutvergießen freilich weit mehr die nordischen Länder als Italien bedrückt und gequält hat. Aber die Wertlosigkeit gegen Aberglauben und Zauberwesen gehört auch zum Bilde der Renaissance.
Weit glücklicher ist sie in der Entwicklung einer künstlerischen Anschauung der Natur und der Ausbildung eines seelischen Verkehrs mit ihr. In unverlierbarer Weise hat sie damit das Leben bereichert. Der Mensch des Mittelalters war viel zu sehr mit seiner Umgebung verwachsen und in seiner Empfindung viel zu gebunden, um die Eindrücke der Außenwelt in ein künstlerisches Ganzes zu fassen; dem späteren Altertum war die Natur vertrauter, aber sie war ihm mehr eine wohltuende Umgebung als eine Erweiterung seines Lebens. Weit bedeutender wird sie der Renaissance, indem hier die Freude an der Gestalt der Landschaft entsteht, es zugleich mächtig zur Schilderung treibt und das Naturgefühl eine plastische Durchbildung findet. Nun kann die Umgebung sich zum Ganzen eines Bildes zusammenfassen, eine Seele gewinnen und zur Befreiung, Beruhigung, Veredlung des Menschen wirken.
Der Entdeckung der Welt entspricht eine Entdeckung des Menschen. Vor allem entwickelt das Individuum ein leidenschaftliches Verlangen nach volle Betätigung und gleichmäßiger Entfaltung seiner Kräfte; in allem Unternehmen will es sich hervortun; glänzende Leistungen verrichten, eine Überlegenheit erweisen. Auf diesem Boden entsteht der Privatmensch moderner Art, der, von allen öffentlichen Angelegenheiten abgelöst, sich seinen Lebenskreis selbst gestaltet. Der stärkeren Entfaltung der individuellen Art geht zur Seite eine klarere Einsicht. Der Mensch beobachtet sich selbst wie andere genauer und liebt es, das Gesehene deutlich, ja drastisch zu schildern, die unterscheidenden Züge von Personen, Ständen, Verhältnissen werden aufgesucht, auch das Innere erhält dabei ein Recht, und die Zeichnung von Seelenbildern erreicht eine bewunderungswürdige Höhe. So wird der Mensch sich selbst objektiv, mit klarer und nüchterner Reflexion möchte er, von moralischen Erwägungen unbeirrt, seine Natur durchschauen und sein Vermögen ermessen. Diese Selbsterkenntnis gibt dem Leben mehr Bewußtsein und Stärke, sie macht es in höherem Grade zu eigenem Leben und eigener Tat.
Auch das gemeinsame Dasein gerät in Bewegung und Wandlung. Überall wird Anmut, Schönheit, Behaglichkeit erstrebt, überall das Dasein künstlerisch gestaltet. Es verfeinern sich die Sitten, es erwacht eine Freude an der Schönheit und Reinheit des sprachlichen Ausdrucks, der gesellige Verkehr veredelt sich, die Feste verbinden mit dem Leben die Kunst, durchgängig wird Kraft, Gewandtheit und Anmut zu zeigen versucht. Hier entsteht die gebildete Gesellschaft, die dem Einzelnen freie Bewegung gestattet und ihn danach schätzt, was er zur Unterhaltung und Anregung leistet. Die Unterschiede der Geburt verblassen dabei, die Stände gleichen sich aus, auch die Frauen nehmen vollauf teil; um so mehr schließt der Kreis der Gebildeten sich gegen die Draußenstehenden ab, es beginnt damit eine neue, nicht gefahrlose Scheidung der Menschheit, die auch das Unterrichtswesen erheblich umbilden mußte.
Völlig verändert wird auch der Anblick des Staates: es erwächst der moderne Kulturstaat mit seiner Richtung auf weltliche Ziele und seinem Anspruch alle Verhältnisse zu beherrschen. Das Staatsleben wird mit voller Klarheit auf den Boden der Erfahrung gestellt und aller unsichtbaren Zusammenhänge mittelalterlicher Art entkleidet, so daß der Staat nicht mehr ein Stück einer weltumfassenden göttlichen Ordnung bedeutet und nicht mehr wie ein Organismus die Individuen als seine Glieder umfaßt; hier »gibt es kein Lehnswesen im nordischen Sinne mit künstlich abgeleiteten Rechten« (Burckhardt). Dafür werden die Staatswesen kunstvolle Mechanismen in der Hand von großen Individuen oder geschlossenen Aristokratien, sie wollen Hervorragendes leisten und hohe Ziele erreichen. Ein unbegrenzter Durst nach Macht, Erfolg und Ruhm verdrängt die sittliche Beurteilung als ein kindliches Vorurteil; die schroffen Sätze eines Macchiavell formulieren nur, was das Tun der Zeit beherrscht, auch verruchteste Handlungen rechtfertigt im Bewußtsein dieser, Zeit die »Staatsraison«. Aber zugleich entwickelt das Staatsleben mehr und mehr eine durchgebildete Technik. Zur Bewältigung der Dinge bedarf es einer genauen Kenntnis des eigenen Vermögens, so entspringt im Italien der Renaissance die Statistik. Ferner wird nicht nur die innere. Verwaltung verbessert und in ein System gebracht, sondern auch den Beziehungen nach außen mehr Sorgfalt zugewandt; Italien, vornehmlich Venedig, ist die Heimat einer »auswärtigen Politik. Bis in die einzelnen Zweige hinein wirkt solche Wendung zu technischer Gestaltung. So wird jetzt der Krieg zur Kunst und zieht alle Erfindungen in seinen Dienst, im Festungsbau werden die Italiener die Lehrer Europas, nicht minder wird das Finanzwesen ausgebildet, mit großem Eifer wirkt der Staat zur Hebung der allgemeinen Wohlfahrt, für Gesundheit und Behagen des täglichen Lebens, der Städteanlagen usw. Dabei verflicht sich überall mit der Lust am Schaffen die Reflexion, mit der Leistung die Beschreibung, das Räsonnement, die Kritik. Namentlich wird Florenz mit seinen politischen Bewegungen zugleich die Heimat politischer Theorien.
Wie auf diesem Gebiet die Entwicklung von Kraft und Technik die moralische Beurteilung weit zurückdrängt, so ist dem Moralischen überhaupt der Boden der Renaissance wenig günstig. Gewiß fehlt es nicht an Erweisung edler Gesinnung und an verehrungswerten Persönlichkeiten. Aber es fehlen zusammenhaltende sittliche Mächte, die dem Einzelnen entgegentreten, seine Neigungen messen und zügeln, seine Gesinnung läutern. Vielmehr steht alles auf der Zufälligkeit der individuellen Art. Eine tüchtige Naturanlage kann sich bei der herrschenden Freiheit zu herrlicher Blüte entfalten, aber ungehemmt entwickeln sich auch Kraft- und Gewaltmenschen grauenhafter Art, Bestien in Menschengestalt, die kunstgerecht auch das Verbrechen betreiben. Der Durchschnitt bietet ein merkwürdiges Nebeneinander von Höherem und Niederem, von Edlem und Gemeinem, oft in derselben Persönlichkeit; sobald die Moral dem Naturtriebe widerspricht, erscheint sie als ein auferlegter Zwang, der die volle Nutzung der Kraft verhindert und eine unbefangene Behandlung der Dinge hemmt.
Am meisten übt ein Gegengewicht gegen niedere Begierden das Verlangen des Individuums nach unsterblichem Ruhm oder doch nach voller Geltung in seinem Kreise: das moderne Ehrgefühl. Aber diese Antriebe gehen mehr auf den Schein als auf das Wesen und dienen statt der Sache leicht ihrer Karikatur. In Wahrheit ist die moralische Atmosphäre der Renaissance unlauter durch und durch, und es kann alle Schönheit der künstlerischen Werke nicht den Abgrund verdecken, der sich vor dieser Zeit eröffnet, und den schließlich auch sie selbst zu empfinden beginnt. Wegen dieses Mangels an moralischer Kraft konnte die Renaissance unmöglich die Führung der Neuzeit behalten; nicht erst die religiösen Bewegungen haben ihr diese genommen.
Die Religion verdankt der Renaissance ein enges Bündnis mit der Kunst und damit eine Befestigung ihrer Stellung im modernen Leben. Aber die Grundstimmung der Renaissance ist nicht eben religiös. Das Volk folgt dunklem Aberglauben und sieht in der Religion vornehmlich die magischen Elemente. Die mittleren und höheren Stände verbinden eine starke Abneigung gegen das Tun und Treiben der Kirche mit einer Schmiegsamkeit gegen die kirchlichen Gewalten; auch können sie sich der Wirkung jenes Magischen nicht entziehen und möchten namentlich für den Todesfall der Sakramente versichert sein. Daß es nicht an echter und tiefinnerlicher Frömmigkeit in Einklang mit der Kirche fehlt, das zeigt z. B. die Gestalt einer Katharina von Genua, aber es überwiegt eine Gesinnung weltlicher Art, und namentlich für Weltangelegenheiten wird die Religion zu Hilfe gerufen. Aber der feurige Lebensdrang und das Verlangen nach Ruhm und Größe läßt auch den Widerstand der Dinge schwer empfinden und richtet die Gedanken auf das geheimnisvolle Walten des Schicksals. Man möchte, wenn ein volles Lenken versagt ist, den Erfolg wenigstens im voraus kennen und danach das Handeln bemessen; daher verbindet sich wie oft so auch hier mit einer ungläubigen und skeptischen Denkart Schicksalsglaube, Astrologie, ja Zauberwesen. In Widerspruch mit solchem Durchschnitt entwickeln freilich hochgesinnte Persönlichkeiten und auserwählte Kreise eine echte und tiefe Religiosität, deren Streben alle sichtbaren und endlichen Formen überfliegt und den Gedanken einer universalen Religion, einen Panentheismus, erzeugt. In Überwindung des Gegensatzes von Theismus und Pantheismus möchte dieser die Welt mit göttlichem Leben umfassen und den Menschen zur Unendlichkeit führen. Aber so anziehend das Bild einzelner Persönlichkeiten sein mag, auch ihnen ist die Religion weniger eine Sache der Wesenswandlung als die einer bloßen Weltanschauung, das christliche Problem der Eröffnung einer neuen Welt verschwindet vor der spekulativen und künstlerischen Betrachtung des Alls, die das menschliche Sein ins Weite und Freie zu heben verspricht. Daher mußten die Anhänger der Reformation in Italien vereinzelt bleiben. Wohl haben diese Einzelnen mit bewunderungswürdiger Kraft ihre Überzeugung verfochten und Gut und Blut dafür geopfert. Aber nur fern von der Heimat fanden sie einen Wirkungskreis; eine stärkere religiöse Bewegung zu erzeugen, war die Renaissance nicht geeignet; hier liegt ihre Schranke deutlich zutage.
Nun wenden wir uns zu den wichtigsten Lebensanschauungen der Philosophie der Renaissance. Mögen sie keine Leistungen allerersten Ranges sein und dem aufstrebenden Neuen noch keine volle Selbständigkeit geben, sie enthalten eine Fülle ausgeprägter Gestalten; es ist schon eine Beschränkung, wenn wir drei Hauptrichtungen herausheben und Gedankenwelten der kosmischen Spekulation, der menschlichen Lebenskunst, der technischen Bewältigung der Natur in ihren Führern zur Darstellung bringen.
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b. Die Weltspekulation. Nikolaus von Cues und Giordano Bruno.
Ihren reinsten philosophischen Ausdruck findet die Renaissance in den Systemen weltumfassender Spekulation, deren Beginn Nikolaus von Cues, deren Höhe Giordano Bruno bildet, jener noch dem Mittelalter vielfach verwachsen, dieser voll des Bewußtseins einer neuen Zeit, jener ein gefeierter Kirchenfürst, dieser als Ketzer verfolgt und verbrannt.
Diese Denker vollziehen eine Wendung von den inneren Problemen des Menschen zum All, in der Hoffnung, aus diesem ein weiteres und wahreres Leben zu gewinnen, und mit der Forderung, für den engmenschlichen Kreis die Unendlichkeit der Dinge einzutauschen. Einen so hohen Wert besitzt das All ihnen aber nur als Entfaltung des göttlichen Seins; so hat die Hingebung daran einen religiösen Hintergrund und empfängt aus ihm eine seelische Wärme und Weihe. Mit dem Neuplatonismus und der Mystik wird alles Wesen der Dinge in Gott, dem absoluten Sein, begründet. Aber dieser Gedanke erfährt jetzt eine Umkehrung. Eine weltmüde Zeit hatte aus dem Hangen der Welt an Gott den Antrieb gezogen, möglichst rasch zum letzten Ursprunge aufzusteigen und sich von der bunten Erscheinungsfülle zur ewigen Einheit zu wenden; ein lebensfrohes Geschlecht sieht darin die Aufforderung, sich näher mit der Welt zu befassen und ihrer ganzen Fülle zu erfreuen, da in allem das Göttliche wohnt und aus allem entgegenscheint. Die Gegenwart Gottes steigert jetzt die Einheit, die Harmonie, das innere Leben der Welt.
Nikolaus von Cues (1401-1464), deutscher Herkunft, aber geistig Italien nahestehend, gehört noch halb zum Mittelalter, doch regt sich das Neue hier schon kräftig genug, um fruchtbare Bewegungen einzuleiten. Wohl verbleibt die Jenseitigkeit Gottes und die Scheidung der Welt von ihm, aber die Spekulation sucht Gott und Welt einander innerlich anzunähern. Die Welt enthält dasselbe Sein, was in Gott Eins ist, zur Vielheit entwickelt. »Was ist die Welt anders als die Erscheinung des unsichtbaren Gottes, Gott anders als die Unsichtbarkeit des Sichtbaren?« Das Geschaffene entstand nicht urplötzlich in der Zeit, vor seinem Erscheinen war es in unsichtbarem Vermögen zeitlos bei Gott. Gott wirkt nicht durch Mittelglieder, etwa die Ideen, hindurch, sondern unmittelbar ist er durch alles hin tätig, er allein ist »Seele und Geist« der Welt. Als Erweisung des unendlichen Seins kann die Welt keine Grenze haben. Aber zugleich darf sie als ein Ausdruck der göttlichen Einheit nicht ohne Zusammenhang sein. Einen solchen sucht Nikolaus, indem er sie einerseits, in enger Verflechtung ästhetischer und mathematischer Begriffe, als ein harmonisch geordnetes Kunstwerk versteht, andererseits sie in eine fortlaufende Stufenfolge verwandelt, die vom Kleinsten zum Größten lückenlos aufsteigt. Hier wie da läßt das Streben zum Ganzen die Eigentümlichkeit des Einzelnen vollauf bestehen, ein jedes hat seinen festen Platz und sein besonderes Werk. »Kein Ding ist leer oder unnütz im Grunde der Natur. Denn jedes hat seine eigene Tätigkeit. Jede Vielheit verknüpft sich in harmonischer Ordnung zur Einheit, gleichwie viele Töne eine Harmonie erklingen lassen und viele Glieder einen Körper bilden. Der belebende Geist einigt den ganzen Körper und durch das Ganze die Glieder und Teile.« Auch erscheint schon hier die gewöhnlich Leibniz zugeschriebene Lehre, daß zwei Dinge einander nie gleich sind, da sie dann zusammenfallen würden.
Besonders aber wächst das Einzelwesen dadurch, daß es kein bloßer Teil des Ganzen bleibt, sondern unmittelbar bei sich selbst, jedes in seiner Weise, die Unendlichkeit des Seins und alle Fülle der Dinge zu erleben vermag, weil »Gott durch alles in allem ist und alles in Gott ist«. Kraft des inneren Zusammenhanges mit dem göttlichen Grunde aller Wirklichkeit ist namentlich der menschliche Geist, der Mikrokosmos, ein »göttliches Samenkorn, das aller Dinge Urbilder in sich trägt«. Die Lebensbewegung erscheint von hier aus als eine Entfaltung weltumfassender Innerlichkeit, ein Weltwerden von innen her; die Idee der Entwicklung beginnt jetzt den Sinn eines Fortschreitens aus eigenem Vermögen anzunehmen. Allerdings sucht Nikolaus Gott nicht bloß innerhalb der Welt, seine religiöse Überzeugung erfaßt ihn vor allem unmittelbar bei sich selbst, in mystischer Wendung zum Quell alles Seins. Dabei wird der alte Gedanke der Mystik gewahrt, daß die Entwicklung ( explicatio), als Auseinanderlegung der Einheit zur Vielheit, geringer ist als die Einwicklung ( complicatio), welche alle Mannigfaltigkeit in ungeschiedener Einheit enthält. Es kann aber Nikolaus dem Leben der Welt mehr Bedeutung gewähren, weil ihm nicht eine starre Kluft es von Gott scheidet und fernhält, sondern es sich diesem immer mehr nähern und dadurch auch im eigenen Wesen unaufhörlich zunehmen kann. Es ist das Zusammentreffen ewigen und zeitlichen, unendlichen und endlichen Seins in uns, das unserem Streben einen rastlosen Forttrieb einflößt und uns zugleich die Gewißheit eines stetigen Aufstiegs gibt. Aus der Überzeugung von einem Innewohnen unendlichen Lebens in unserem Wesen ist der Gedanke eines Fortschritts ins Grenzenlose hervorgegangen.
Das Verlangen nach dem unendlichen Sein erstreckt sich über den Menschen hinaus auch auf die Natur und versetzt auch sie in Rastlosigkeit. Nichts in ihr ruht, die Erde, bisher der feste Mittelpunkt des Alls, muß sich wie die anderen Weltkörper bewegen, ja nicht einmal das scheinbar Festeste, die Pole des Himmels, ist unveränderlich. Die Bewegung hat kein Ende. Selbst der Tod steht im Dienste des Lebens, denn er ist nichts anderes als die »Scheidung zur Mitteilung und Vervielfältigung des Wesens«.
Damit erfolgen eingreifende Wandlungen in den Begriffen und der Schätzung der Dinge. Die Bewegung und die Veränderung waren seit Plato mit starker Ungunst behandelt und namentlich im Mittelalter gegen die ewige Ruhe in Gott tief herabgesetzt. Ein frischerer Lebensdrang macht gerade sie jetzt wichtig und wertvoll. Zugleich wächst die Schätzung der Welt. Da sie ihrer ganzen Ausdehnung nach von Gott stammt und zu Gott zurückstrebt, so sei nichts von ihr verachtet, auch nicht unsere Erde, der Wohnsitz des Menschengeistes.
Auch die nähere Beschaffenheit der Tätigkeit bekundet bei allem Anschluß an die Vergangenheit eine neue Art. Nikolaus sieht mit dem Neuplatonismus und der Mystik im Erkennen die Hauptkraft des Menschen und erwartet von seinem Durchdringen zum Grunde die Wesenseinigung mit Gott. Unser Geist ist ein lebendiger Spiegel des Alls, ein Strahl des göttlichen Lichts. Aber die mystische Schau des Unendlichen, in dem alle Gegensätze in Eins zusammenfallen, erfüllt den Denker nicht gänzlich, auch die Mannigfaltigkeit der Dinge mit ihrem Leben zieht ihn an und fesselt ihn. Indem dabei das Verlangen nach Erkennen mit jener Idee eines endlosen Fortschritts verschmilzt, wird zur Seele des Lebens ein Durst nach weiterem und weiterem Erkennen. »Immer mehr und mehr erkennen zu können ohne Ende, das ist das Ebenbild der ewigen Weisheit. Immer möchte der Mensch, was er erkennt, mehr erkennen, und was er liebt, mehr lieben, und die ganze Welt genügt ihm nicht, weil sie sein Erkenntnisverlangen nicht stillt.« In diesem Streben wächst das eigene Wesen des Geistes: »wie ein Feuer, das aus dem Kiesel erweckt ist, kann der Geist durch das Licht, das aus ihm strahlt, ohne alle Grenze wachsen.« Indem so der Geist eine bewegliche und ins Unendliche steigerungsfähige Größe wird, gewinnt die Lebensarbeit einen starken Antrieb und das irdische Dasein eine Zukunft bei sich selbst, nicht erst aus der Erwartung eines besseren Jenseits, lauter Zeugnisse einer neuen Denkart.
Zugleich bleibt Nikolaus freilich scholastischer Arbeit verbunden, auch enthalten seine Schriften neben fruchtbarsten Anregungen phantastische Spekulationen und abenteuerliche Zahlensymbolik, auch erbauliche Betrachtungen im Sinne der mittelalterlichen Heiligenverehrung. Auch ist das scheinbar Neue oft bis in die einzelnen Begriffe und Bilder dem Neuplatonismus und der Mystik entlehnt. Und doch befinden wir uns an der Schwelle einer neuen Welt. Denn was in Wahrheit neu eintritt und auch das Alte verwandelt, das ist das veränderte Lebensgefühl, die Lust am Wirken und Schaffen, der Drang zur lebensvollen und schönen Welt, das ist mit Einem Worte die Grundstimmung der Renaissance.
Wer sich von Nikolaus zu Giordano Bruno (1548-1600) wendet, gewahrt sofort die nahe Verwandtschaft beider. Aber zugleich ist ein Wandel unverkennbar: das Leben verschiebt sich weit mehr von der Religion zur Weltarbeit, es wird weniger die Welt von Gott als Gott von der Welt aus betrachtet. Auch erlangt das Neue mehr Selbstbewußtsein und übt mehr Abstoßungskraft, es empfindet deutlich den Widerspruch zur alten Art und nimmt kühn, ja keck den Kampf damit auf. Den neuen Bewegungen und Stimmungen gibt dabei einen festen Halt und eine anschauliche Bekräftigung das kopernikanische Weltsystem, das Bruno begeistert ergreift. Wiederum erscheint ein starker Einfluß der Astronomie auf das Ganze der Weltanschauung und das Lebensgefühl der Menschheit. Die Überzeugung von der Geschlossenheit des Weltalls und der wandellosen Kreisbewegung der Gestirne bildete seit Plato ein Hauptstück und eine Hauptstütze der Fassung des Alls als eines von ewigen Gestalten und Ordnungen beherrschten, in sich selbst gegründeten Kunstwerks. Nun stellt die neue Himmelslehre mit ihrer unendlichen Weite und unablässigen Veränderung des Alls die Welt in ein völlig anderes Licht.
Bruno findet wie Nikolaus den Hauptinhalt des Lebens in dem Aufsteigen des endlichen Geistes zum unendlichen Sein. Auch teilt er die Vorstellung jenes, daß die Welt, das sichtbare Sein, in eine Vielheit auseinanderlegt, was in Gott eine ungeschiedene Einheit bildet; er gibt zugleich dem menschlichen Streben die zwiefache Richtung einer Vertiefung von der Erscheinung zum Wesen und eines freudigen Eingehens in das gotterfüllte All. Aber der Schwerpunkt ist jetzt weit mehr nach der Welt hin verlegt; ja die Beziehung auf Gott erscheint oft als ein bloßes Mittel, die Welt bei sich selbst zu heben und in ein Ganzes zusammenzuschließen. Die göttliche Wesenheit und Kraft wirkt innerhalb der Dinge, und als innerer Künstler wird die göttliche Vernunft gepriesen. »Gott ist nicht über und außer den Dingen, sondern ihnen durchaus gegenwärtig, wie die Wesenheit nicht außer und über den Wesen, die Natur nicht außer den natürlichen Dingen, die Güte nicht außer dem Guten ist.« Damit wird diese Welt zum Hauptvorwurf der Wissenschaft; das unterscheidet nach Bruno den gläubigen Theologen und den wahren Philosophen, daß jenes Deutung die Natur überschreitet, dieser innerhalb ihrer Grenzen bleibt.
Bei solcher Annäherung Gottes an das Weltall übertragen sich auf dieses die Haupteigenschaften der spekulativen Gottesidee, wie der Kusaner sie faßte: die Unendlichkeit und das Zusammenfallen aller Gegensätze. Auch Bruno wird durch die Spekulation zur Behauptung der Unendlichkeit getrieben: eine endliche Welt wäre Gottes nicht würdig, in dem alle Möglichkeit Wirklichkeit ist. Aber dieser Zug wird nun durch das neue astronomische Weltbild kräftig unterstützt und anschaulicher gestaltet; bei Bruno zuerst bekundet es sein umwälzendes und erweiterndes Vermögen, in vollster Frische wirkt hier, was später die Gewohnheit abgestumpft hat. Die bisherige Weltkugel mit ihrer Geschlossenheit wird als viel zu eng zerschlagen, zugleich fällt die Vorstellung von einem räumlichen Jenseits über den Sternenkreisen. Ins Unendliche eröffnen sich Welten über Welten, alle voll Bewegung und Leben, alle Erweisungen des göttlichen Seins. Es erwächst eine stolze Freude an der Befreiung von der mittelalterlichen Enge, eine hohe Seligkeit an dem Miterleben der unermeßlichen, gotterfüllten Welt. Gegenüber ihrer Weite und Fülle sinkt der Sonderkreis des Menschen zu verschwindender Kleinheit herab; aus seiner Dumpfheit herauszutreten in den reinen Äther des Alls, das All mit »heroischer« Liebe zu umfassen, das wird die Größe und Seele unseres Daseins. In diesem Heroismus, diesem Anspannen höchster Kraft in der Richtung auf die Unendlichkeit, besteht auch die echte Sittlichkeit, nicht in einem Entsagen, Sichducken und Verkleinern.
Auch innerlich hat jene unendliche Natur eine andere und höhere Art als alles menschliche Tun. Denn dies ist noch mitten im Suchen und muß mühselig bedenken und erwägen; das All steht über solcher Unfertigkeit und solchem Schwanken, die höchste Ursache kennt kein Suchen und Wählen; was sie tut, das muß sie tun. Damit verschwindet der Gegensatz von Freiheit und Notwendigkeit. Denn echte Notwendigkeit bedeutet keinen äußeren Zwang, sondern das Gesetz der eigenen Natur. Daher »ist nicht zu fürchten, daß, wenn die höchste Ursache gemäß der Notwendigkeit der Natur handelt, sie nicht frei handle, im Gegenteil würde sie nicht frei handeln, wenn sie anders handelte, als die Notwendigkeit und die Natur, vielmehr die Notwendigkeit der Natur verlangt«. So sieht der Mensch über sich und um sich ein wesenhafteres, den Verwicklungen seiner besonderen Art weit überlegenes Leben. Aber mutiges Denken lehrt ihn dieses Leben ergreifen und sich damit aller Kleinheit entwinden.
Die Hingebung an das All verbindet sich aber bei Bruno, wenn auch nicht gleichmäßig durch alle Abschnitte seines literarischen Schaffens, mit der Anerkennung von Monaden unter sich verschiedener, unteilbarer, unzerstörbarer Einheiten. Diese Einheiten sind nicht leere Punkte, sondern jede von ihnen hat »in sich das, was alles in allem ist«, jede hat teil am ganzen All, aber in eigentümlicher, unvergleichlicher Weise, jede dient durch die Entwicklung ihrer besonderen Art der Vollkommenheit des Alls. Jede hat endlich die Gewißheit der Unvergänglichkeit. Denn was Leben und Tod heißt, sind nur Phasen in ihrem Sein, Auswicklung und Einwicklung, wie später ähnlich bei Leibniz. »Die Geburt ist die Ausdehnung des Zentrums, das Leben das Bestehen des Kreises, der Tod die Zusammenziehung ins Zentrum.« Solche Unvergänglichkeit besagt aber nicht die Fortdauer gerade dieser Lebensform, sie ist keine persönliche Unsterblichkeit im Sinne des Christentums. Aber sie ist ein treuer philosophischer Ausdruck jenes starken Lebensgefühles, das die Renaissance durchdrang und auch dem Individuum das Bewußtsein einer Unzerstörbarkeit gab.
Wie hier, so erscheint überhaupt ein Streben, die Gegensätze des Daseins im eigenen Reich der Welt zu überwinden; nach langer Scheidung streben die Dinge endlich wieder mit ganzer Kraft zueinander. Das All kennt nach Bruno keine Spaltung von Innerem und Äußerem, von Körper und Geist. Denn nicht nur entstammt letzthin das eine wie das andere derselben Wurzel, auch im Reich der Erfahrung findet an jeder Stelle sich Seelenleben, ist Größtes wie Kleinstes beseelt, hat aber alles Seelenleben auch eine körperliche Seite. Form und Stoff verbindet der Naturprozeß untrennbar miteinander, die Form wird nicht von draußen dem Stoffe zugeführt, und der Stoff ist nicht jenes leere Vermögen, jenes »beinahe Nichts«, wie ihn mit dem Ausdruck Augustins das Mittelalter nannte, sondern er trägt die Form in seinem Schoß und gestaltet sich von innen heraus. Das erhebt die Natur über die Kunst, daß diese einen fremden, jene einen eigenen Stoff behandelt, daß die Kunst um ( circa) den Stoff, die Natur in ihm ist.
So erweist die Natur sich als ein Reich \lebendiger Kraft. Aber zugleich erhält und verjüngt sich die ältere Überzeugung von dem künstlerischen Zusammenhange des Alls, Leben und Schönheit verbinden sich wie im Streben der Renaissance, so im Weltbilde ihres größten Denkers. Die Welt ist bei aller Bewegung ein herrliches Kunstwerk, dessen Harmonie über dem Unterschied und Streit der Teile liegt. Die Harmonie selbst verlangt eine Mannigfaltigkeit der Teile, denn »es gibt keine Ordnung, wo keine Verschiedenheit ist«. Nur werde in dem Verschiedenen der Zusammenhang, in dem Vielen das Eine ergriffen und von ihm aus das Mannigfache verstanden; »es ist eine tiefe Magie, das Entgegengesetzte hervorlocken zu können, nachdem man den Punkt der Vereinigung gefunden hat«.
Das Innewerden einer solchen Harmonie des Ganzen hebt über alle Mißstände und Leiden des Daseins hinaus, wiederum läßt die Wendung zum Weltgedanken eine volle Versöhnung mit der Wirklichkeit hoffen. Im Kunstwerk des Alls ist alles förderlich, schön und vernünftig. »Nichts im Universum ist so geringfügig, daß es nicht zur Vollständigkeit und Vollkommenheit des Höchsten beitrüge. Ebenso ist nichts für einige und irgendwo schlecht, was nicht für andere und anderswo gut und das beste wäre. So wird dem, der auf das All blickt, sich nichts Schlechtes, Böses, Unangemessenes zeigen; denn auch die Mannigfaltigkeit und Gegensätzlichkeit hindert nicht, daß alles das beste ist, wie es von der Natur geleitet wird, die wie ein Gesangmeister die entgegengesetzten Stimmen zu einem, und zwar dem allerbesten Einklang lenkt.« Als solche Verbindung vollkommener Schönheit mit unendlicher Lebensfülle wird die Natur der wahre Gegenstand der religiösen Verehrung. »Nicht in menschlichen Dingen mit ihrer Kleinheit und Niedrigkeit ist Gott zu suchen und zu verehren, – nicht in den elenden Mysterien der Römlinge ( romanticorum vilia mysteria), – sondern in dem unverletzlichen Naturgesetz, in dem Glanz der Sonne, in der Gestalt der Dinge, welche aus dem Inneren dieser unserer Mutter Erde hervorgehen, in dem wahren Bilde des Höchsten, wie es sich in dem Anblick der unzähligen Lebewesen sichtbar darlegt, die am Saume des einen unermeßlichen Himmels leuchten, leben, fühlen, erkennen und dem einen Besten und Höchsten zujauchzen.« Von derartiger Verehrung der Natur als des wahren Gottesreiches war Bruno persönlich tief ergriffen, dahin war die ganze Kraft seines feurigen Gemütes gewandt, während ihm die inneren Fragen des religiösen Lebens und zugleich das Geschichtliche und Kirchliche der Religion durchaus gleichgültig wurden. Sein Unglück war, einer Zeit anzugehören, die unter dem Zeichen härtesten konfessionellen Streites stand.
Zur Würdigung und Kritik dieser Gedankenwelt diene folgendes. Bruno war ein reicher und fruchtbarer Geist, der viel Befreiung und Belebung brachte; er hat den Hauptrichtungen der Renaissance einen philosophischen Ausdruck gegeben; ein nach anfänglichem Schwanken schließlich mit Heldenmut ertragenes Märtyrertum wirft auf sein ganzes Leben und Sein einen verklärenden Glanz zurück. Für einen großen Denker aber kann ihn nur halten, wer den Grad des Widerstandes gegen die Kirche zum Maßstab der Größe macht. Denn die Gedankenarbeit kommt hier über stürmischer Bewegung nicht zu genügender Klärung. Das Weltall, das von der Kleinheit bloßmenschlicher Art befreien soll, wird selbst wieder durch die Phantasie mit menschenartigen, wenn auch verblaßten Größen erfüllt. Die Welt scheint herrlich als ein Abglanz göttlichen Lebens, aber dieses wird wieder an sie gebunden und in sie versenkt. So jener Kultus der Natur, ein Erzeugnis der künstlerischen Naturbetrachtung der Renaissance, als letzte Überzeugung ein widerspruchsvolles Zwittergebilde.
Wie das Verhältnis der Welt zu Gott, so hat die Welt auch selbst an einem Widerspruche zu tragen: dem einer künstlerischen und einer dynamischen Betrachtung. Die künstlerische Auffassung der Natur enthielt in ihrer antiken Heimat eine Bindung alles Lebens an die Form und eine klare Abgrenzung aller Größen; nun fällt die Selbständigkeit der Form und schrankenlos flutet unendliches Leben, zugleich aber verbleibt jene Betrachtung, ja sie wird mit besonderem Eifer verkündet. Die Widersprüche sind demnach nicht sowohl überwunden als einfach ineinandergeschoben, das gemäß der Art einer Übergangszeit.
Damit sei die Bedeutung der Befreiung und Belebung, die auch von dieser Gedankenwelt ausgeht, nicht geschmälert; nur sei nicht vergessen, daß, wenn vieles gewonnen wird, auch manches verloren geht, und daß das Neue mehr kühne Entwürfe als durchgebildete Gestalten zeigt.
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c. Die Lebenskunst des Individuums. Montaigne.
Die Befreiung des Individuums ist ein Hauptstück der ganzen Renaissance. Aber die verschiedenen Völker gestalten sie verschieden. Italien gibt ihr oft den Zug ins Große, Gewaltige, Dämonische; das macht harte Konflikte mit der Umgebung unvermeidlich. Eine herabgestimmtere und flachere, aber auch maßvollere und liebenswürdigere Art gibt ihr der französische Volksgeist. Hatte dort das Individuum in überquellender Kraft alle Bindung abgeworfen und in stolzem Selbstvertrauen den Kampf mit der Unendlichkeit des Alls aufgenommen, so wird hier namentlich ein Unabhängigwerden und eine Bewegungsfreiheit innerhalb der Gesellschaft erstrebt; suchten dort die Gedanken gern eine Anknüpfung an den Neuplatonismus mit seiner Einigung von Gott und All wie seiner Erhöhung des Menschen zum weltumspannenden Mikrokosmos, so fühlt man hier sich am nächsten dem Epikureismus wie dem Skeptizismus des späteren Altertums mit ihrer Befreiung des Individuums von allen drückenden Fesseln und ihrer Verwandlung harter Lebensarbeit in frohe Lebenskunst. Der hervorragendste Vertreter dieser Bewegung ist Michel Montaigne (1533-1592). Er hat »wenn nicht den Menschen überhaupt, aber den französischen Menschen dargestellt mit allen Zweifeln und Irrungen, die ihn bedrängen, den Genüssen, die ihm Freude machen, den Wünschen und Hoffnungen, die er hegt, seinem ganzen geistig und sinnlich angeregten Wesen« (Ranke).
Das moderne Individuum, das seine Kräfte entfalten und sein Dasein voll genießen will, setzt mehr Lebenslust und mehr Frische ein als das des späteren Altertums, aber es begegnet auch weit härteren Widerständen der Umgebung und Überlieferung; um alle festen Größen, alle starren Bindungen aufzulösen, hat die Denkarbeit viel mehr zu tun, hat sie mehr Schutt aufzuräumen, mehr Scharfsinn und Witz aufzubieten. Das ist hier in Wahrheit geschehen.
Nach neueren Forschungen hat Montaigne mehr innere Bewegung, als es früher schien. Zog ihn zuerst mehr die Stoa an, so hat das Studium des Sextus Empirikus die skeptische Ader in ihm verstärkt, mehr und mehr vollzog sich dann eine Annäherung an die epikureische Denkart. Immer aber war sein Augenmerk vornehmlich dem Menschen zugewandt, und immer beseelte ihn ein Glaube an die Natur, eine Freude an schlichter Natürlichkeit. So darf unsere Darstellung ihn trotz jener Verschiebungen wohl als eine Einheit behandeln.
Montaigne bekämpft eine erstarrte Kultur, die das Individuum mit ihrer Autorität beherrscht, als eine Gefahr und ein Unglück. Sie lenkt durch tote Gelehrsamkeit den Menschen von den eigenen Dingen zu fremden und von der Gegenwart in die Vergangenheit. »Wir sind niemals bei uns selbst, wir sind immer draußen.« Wir wollen überall wohnen und wohnen daher nirgends; wir leben und haben kein rechtes Bewußtsein vom Leben. Zugleich ist das Leben künstlich geworden, »wir haben die Natur verlassen und wollen sie ihre Lektion lehren, sie, die uns so glücklich und sicher führte«. Unwahrheit und Heuchelei durchdringt nun alle Verhältnisse, wir mühen uns am meisten um den Schein, »die ganze Welt treibt Schauspielkunst« (nach Petronius). Dabei macht die Verkettung mit fernen und fremden Dingen unser Leben ruhelos und sorgenvoll; wir genießen nicht mehr unbefangen und bewegen uns nicht mehr leicht und frei. Auch erzeugen künstliche Bedürfnisse gefährliche Leidenschaften. So ist der Kulturmensch minder glücklich und minder tüchtig als der Naturmensch mit seinem schlichten und wahren Leben.
Solche Anklagen gegen die Kultur scheinen Montaigne schon auf die Bahnen Rousseaus zu führen, seine Schilderung des Übels stimmt in Wahrheit mit diesem oft bis auf das Wort überein. Aber sein Heilmittel ist ein völlig anderes, harmloseres und zahmeres als das des großen Stürmers. Während dieser die ganze bisherige Kultur zerschlagen und das Leben von Grund aus erneuern möchte, begnügt Montaigne sich damit, den inneren Druck aufzuheben, mit dem eine geschichtliche Kultur den Menschen belastet; er tut das, indem er die Bedingtheit aller ihrer Einrichtungen aufweist und alle bindenden Satzungen angreift. Mag äußerlich dabei alles stehen bleiben, es verschiebt sich der Sinn des Ganzen.
Das Hauptmittel der Befreiung ist eine nüchterne Betrachtung und unbefangene Prüfung. Sie zeigt den Wechsel und Wandel alles geschichtlichen Lebens, die Zufälligkeit aller überkommenen Einrichtungen, die Unsicherheit alles vermeintlichen Wissens, die Hohlheit und Unfruchtbarkeit schulgerechter Gelehrsamkeit, vornehmlich aber die Subjektivität und Individualität aller Meinung und Schätzung.
Wechseln mit den Individuen bunt die Bilder und Bewertungen der Dinge, zeigt dieselbe Sache dem einen dieses, dem anderen jenes Antlitz, so wird es zu einer Torheit, einer Erzdummheit ( quelle bestiale stupidité!), die eigene Meinung den anderen aufzudrängen. Wer die Bedingtheit und den unablässigen Wandel aller Überzeugungen und Einrichtungen durchschaut, der wird weitherzigste Duldung üben, der kann nicht gewaltsam umstürzen wollen.
Solche innere Wandlung des Lebens verändert alle überkommenen Größen und Güter. Da das Individuum nur nach seiner Empfindung urteilt, so muß der Empfindung sich alles erweisen, was als wirklich, der Empfindung als angenehm dartun, was als gut gelten soll. Demnach entscheidet unser Eindruck über die Wahrheit, und das Ansichgute muß dem Angenehmen und Brauchbaren weichen.
Die freiere Bewegung raubt aber dem Individuum keineswegs allen Zusammenhang mit seinesgleichen. Denn der Mensch lebt in Gemeinschaft und unter dem Einfluß früherer Zeiten; solches Miteinanderleben ergibt einen Durchschnitt von Überzeugungen und Einrichtungen, den die Gewöhnung weiterführt. Unser eigenes Befinden fährt am besten, wenn wir in freiem Anschluß den Gebräuchen und Meinungen folgen, die nun einmal unsere Umgebung und unseren Lebenskreis bilden. »Die Welt«, so meint er, »verbessert sich gewöhnlich zu ihrem Schaden.« Zu den gesellschaftlichen Einrichtungen zählt Montaigne auch die Religion und empfiehlt auch ein freundliches Verhalten zu ihrem geschichtlichen Befunde. Als beste Partei gilt ihm die, »welche die alte Religion und die alte Staatsordnung des Landes festhält«. So hatte es guten Grund, wenn er auf seiner großen Reise vom Papst empfangen wurde und sein Werk die Billigung des heiligen Offiziums fand.
So aller Hemmungen ledig, kann das neue Leben seine Eigentümlichkeit vollauf entfalten. Es wird hier vornehmlich zur Lebenskunst, zur verständigen Nutzung aller Lagen, zur geschickten Anpassung an den jeweiligen Augenblick, zu einem vivre à propos.
Dieses Leben hat keine große Tiefe, aber ihm fehlen nicht edlere Züge. Daß die Lust, d. h. das Behagen ( plaisir) des Einzelnen, das höchste Gut bedeutet, und das Wohl eines anderen Wesens kein direktes Ziel werden kann, braucht nicht gleichgültig gegen das Ergehen der anderen zu machen; die eigene weichgestimmte und gütige Natur empfiehlt ein freundliches Benehmen gegen alle Umgebung. Es erwächst ein Streben nach Humanisierung aller Verhältnisse, nach Aufhebung harter Einrichtungen, z. B. grausamer Strafen, der Tortur usw. Auch die Tiere, selbst die Bäume, seien schonend behandelt. Das Bewußtsein der Bedingtheit alles menschlichen Strebens und des gleichen Rechtes aller Individuen erzeugt eine milde Beurteilung fremden Tuns, eine weitgehende Duldsamkeit gegen Menschen und Lebenslagen. Damit geht Montaigne seinen eigenen Weg gegenüber einer Zeit schroffer Gegensätze und wilder Kämpfe.
Eine Hauptregel glücklicher Lebensführung bildet das Einhalten des rechten Maßes, eben darin besteht die Tugend. Sie legt nicht als eine strenge Herrin das Leben in drückende Fesseln, sondern sie dient dem menschlichen Glück als Lehrerin rechten Genießens; ein Entsagen verlangt sie nur zugunsten größerer Lust. So hat sie ein heiteres und fröhliches Antlitz. Jenes Maßhalten empfiehlt in allen Verhältnissen die goldene Mittelstraße, zum Glück pflegt weniger ein kühner Hochflug als eine weise Beschränkung zu führen. Übergroße Güter werden leicht zur Bürde und Gefahr.
Ferner verlangt das Glück ein einfaches und naturgemäßes Leben, nur in engem Anschluß an die Natur entsteht echte Freude und Tüchtigkeit. So beginne die Erziehung von den einfachsten Eindrücken und Gefühlen, auch bei der moralischen Bildung; »Schmerz und Lust, Liebe und Haß sind die ersten Dinge, die ein Kind fühlt; kommt die Vernunft dazu, so verbinden sie sich mit ihr: das ist die Tugend«. Dabei erscheint – hier wohl zuerst – der Grundsatz, der später soviel Bewegung hervorrief, nicht in alles Geschehen einzugreifen, sondern die Natur gewähren zu lassen ( laissons faire un peu la nature). »Sie versteht ihr Geschäft besser als wir.«
Je mehr dieses Leben sich von den Tiefen des Alls zurückzieht, desto wertvoller und fruchtbarer wird ihm der gesellige Verkehr mit den Menschen. Das Zusammensein bildet die reichste Quelle der Freude, in der Wechselwirkung von Mensch zu Mensch entfaltet sich vornehmlich das Leben. Aber diese Wechselwirkung bleibe freier Art; mögen die Gedanken sich stets mit den Menschen befassen, man soll nicht jeden Augenblick ihrer sinnlichen Nähe bedürfen. Auch meide man alle festen Verpflichtungen, alle bindenden Verhältnisse; »die Weisheit selbst würde ich nicht geheiratet haben, hätte sie mich gewollt.«
Ein besonders hervorstechender Zug dieser Lebensführung ist ihre große Leichtheit und Fröhlichkeit, das in vollem Gegensatz zu der gewaltigen Schwere und Tiefe, welche die Reformation dem Leben gab. Das Leben wird, so scheint es, von dem drückenden Alp der Vergangenheit und der Verwicklung der Weltfragen gänzlich befreit; in den Verkehr mit der Umgebung verlegt, gestaltet es sich zu einem frohen und bunten Spiel, in dem sich mannigfache Kräfte regen und durch unablässige Betätigung eine heitere Freude über das Dasein verbreiten. Alle Probleme verlieren ihre Härte, auch den schärfsten Angriffen nimmt eine liebenswürdige Gemütsart die verletzenden Spitzen.
In solchem Streben entwickelt sich eine Hauptseite der französischen Art: kein Volk hat sich so geneigt und so geschickt gezeigt, mit dem Wust und Schutt veralteter Überlieferungen aufzuräumen, das Leben in volle Gegenwart zu stellen, den jeweiligen Augenblick zu ergreifen, alle Schwingungen der Zeiten mit beweglicher Stimmung zu begleiten. So sind die Franzosen der deutlichste Anzeiger der wechselnden Strömungen und Stimmungen des Kulturlebens geworden, sie haben, nicht nur in äußeren Dingen, die Mode gemacht. Zugleich entstand hier eine Lebenskunst, deren feine Form das Dasein veredelt und dem Individuum Bewegung und Freude zuführt. Von Montaigne aber läßt sich in allen diesen Beziehungen sagen, daß »der eigentümliche Genius der Nation sich in ihm wiederfindet« (Ranke); nur sei keinen Augenblick vergessen, daß damit nur eine Seite jenes Volkes zur Aussprache kommt, und daß seine Behandlung der Lebensprobleme sich keineswegs in jene Lebensklugheit erschöpft, deren Stärke, die Dinge leicht zu nehmen, bei großen und ernsten Angelegenheiten zu kläglicher Schwäche wird.
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d. Das neue Verhältnis zur Natur und ihre technische Bewältigung. Bacon.
Bacon (1561-1626) berührt schon die Schwelle der Aufklärung. Denn der stürmische Lebensdrang ist bei ihm augenscheinlich in Klärung begriffen. Aber immer noch wirkt hier das Neue mehr innerhalb des Alten, als daß es sich einen selbständigen Boden bereitete und eine eigene Art ausbildete; der Denker ist größer in kühnem Entwurf als in sorgsamer Durchbildung, auch ihn treibt eine hochfliegende Phantasie, gibt seinen Ideen einen gewaltigen Schwung und durchflicht seine Darstellung mit glanzvollen Bildern, auch von ihm geht mehr Anregung als Fortbildung aus. So befindet er sich noch im Übergange zur eigentümlich modernen Welt.
Seine Arbeit beginnt mit einer scharfen Kritik der vorgefundenen Denkart, einem völligen Bruch mit der geschichtlichen Überlieferung. Der überkommene Wissensstand erscheint als völlig ungenügend, da er die Dinge weder erkennen noch beherrschen lehrt. Das vermeintliche Wissen ist bloßer Schein, ist toter und unnützer Kram. Und das die Frucht tausendjähriger Arbeit! Wie könnten wir das durchschauen und zugleich den gepriesenen Meistern, namentlich dem Aristoteles, weiter folgen? Warum auch am Alten hangen, da in Wahrheit nicht jene früheren Zeiten, sondern wir selbst mit den Erfahrungen der Jahrhunderte die größere Reife des Alters besitzen? Schien sonst die Überlieferung eine ausgemachte Wahrheit mitzuteilen, so erwachen jetzt Zweifel daran, ob sie uns auch nur das Beste der Vergangenheit zuführt. Denn die Zeit gleicht einem Strom, der Leichtes und Hohles fortträgt, Gewichtiges und Gehaltvolles aber rasch versinken läßt. So gilt es, alle geschichtliche Autorität abzutun und die Arbeit ganz neu zu beginnen. Damit ein völliger Wandel im Verhalten zur Geschichte: die blinde Verehrung der Vergangenheit schlägt um in eine blinde Verwerfung, in eine ausschließliche Schätzung der Gegenwart.
Ein so schroffer Bruch ward oft getadelt und Bacon einer pietätslosen Neuerungssucht bezichtigt. Aber wer ihn unbefangen von der Zeitlage her versteht, wird anders urteilen müssen. Geriet einmal das Recht des bisherigen Weges in Zweifel, so ward die übermächtige Tradition zu einer ungeheuren Last, einer unerträglichen Hemmung, der gegenüber vor allem freie Bahn zu schaffen war. Leicht kann die Geschichte anerkennen, wen sie nicht mehr beengt und bedrückt; wer sein Recht erst erkämpfen muß, wird nicht leicht gerecht sein können.
Wie aber überwinden wir die früheren Zeiten? Ihr Irregehen verschuldete offenbar nicht ein Mangel an geistiger Kraft, denn an Begabung fehlte es ihnen keineswegs. So kann es nur die Art des Verfahrens, die Methode, sein, welche sie in die Irre führte; die Arbeit konnte nicht gelingen, weil sie falsche Wege einschlug. So läßt nur ein richtigeres Verfahren ein Ende der fruchtlosen Mühsal hoffen.
Der Sitz der Irrung war aber dieser. Statt die Dinge unverfälscht aufzunehmen und ihrer Wahrheit nachzugehen, hat der Mensch sich selbst zum Mittelpunkt gemacht und alles nach seinen Wünschen und Zwecken gedeutet, den unermeßlichen Reichtum der Dinge mit einem Gewebe menschlicher Begriffe und Formeln umsponnen; Trugbilder menschlicher Vorurteile (Idole) verfälschten die Arbeit und hinderten ihr Gelingen. Eine derartige Forschung wollte rasch ans Ende und zur Ruhe kommen; so schloß sie ab, wo kaum begonnen war; allgemeine Sätze wurden keck gewagt und als sichere Wahrheiten verkündet, die alle Fragen beantworten sollten. In solcher Weise subjektiv und deduktiv verfahren, das heißt nicht die Natur erklären ( interpretatio naturae), sondern ihr unsere Meinung aufdrängen ( anticipatio mentis); das ergab keine Macht über die Dinge, sondern blieb mit seinen Formeln und Abstraktionen ohne alle Frucht für das Leben.
Solches Durchschauen des Fehlers zeigt zugleich den richtigen Weg: erforderlich ist eine engere Fühlung, eine unablässige Berührung mit den Dingen, die Ausbildung eines objektiven und induktiven Verfahrens, die Befreiung der Forschung von aller menschlichen Zutat. Zu solchem Zwecke seien alle mitgebrachten Begriffe und Lehren ausgetilgt und der Geist wie eine leere Tafel den Dingen entgegengebracht. Die Natur beherrschen kann nur, wer ihr zunächst gehorcht. So sei durch den ganzen Verlauf der Arbeit alle Willkür des Subjekts, ja alles eigene Werk des Geistes ferngehalten, dieser nie sich selbst überlassen, sondern die Sache möglichst durch die eigene Bewegung der Dinge, möglichst mechanisch ( velut per machinas) verrichtet. Die neue Art der Forschung beginne mit den einzelnen Eindrücken, als den noch unverfälschten Eröffnungen der Dinge; diese Grundlage sei breit und sicher, hier müssen wir klar und vollständig sehen, womöglich mit Hilfe von Instrumenten, welche die Beobachtung nicht nur verfeinern, sondern sie auch dem Schwanken individueller Schätzung entziehen; dann gilt es langsam und vorsichtig, in behutsamem Tasten Schritt für Schritt; unter vielfachem Wechsel der Beobachtung und geschickter Auswahl entscheidender sowie sorgfältiger Beachtung verneinender Fälle zu allgemeinen Sätzen aufzusteigen, dabei nicht ungeduldig einen systematischen Abschluß zu erzwingen, der ein weiteres Wachstum verhindert, sondern die Fragen offen und das Denken in Fluß zu halten. Auch sei alles Schlußverfahren durch das Experiment unterstützt, das die Natur, die sonst dem Menschen proteusartig entschlüpft, festhält und zur Antwort zwingt. Wird das alles mit unermüdlichem Eifer und unablässiger Selbstprüfung geübt, so wird sich mehr und mehr auf dem sicheren Grunde der Erfahrung eine gewaltige Pyramide des Wissens erheben.
Dieses baconische Verfahren fand manchen Widerspruch. Die Tätigkeit des Geistes ist nicht so gänzlich auszuschalten, die Arbeit schichtet sich nicht so leicht zusammen, sie fordert beherrschende Richtlinien, die nur ein wegebahnendes Denken dem Gemenge der Erscheinungen abringen kann. Auch haftet die Forschung hier noch zu sehr am ungeschiedenen Eindruck, es fehlt eine schärfere Zerlegung, es fehlt eine mathematische Durchleuchtung des Gegenstandes. Ferner folgt Bacon noch der Scholastik, wenn er nicht sowohl einfachste Kräfte und Gesetze als allgemeine Formen und Wesenheiten der Dinge ermitteln will. Aber trotzdem vollzieht sich hier eine tiefeingreifende Wendung. Das Gefühl der Kleinheit des Menschen ist zu voller Stärke erwacht und zugleich ein Durst nach einem Leben mit dem Eigengehalt der Dinge, ja mit der Unendlichkeit des Alls; das fordert eine Befreiung von eingewurzeltem Wahn, einen Kampf des Menschen gegen sich selbst, ein Opfer lieber Gewöhnungen. Das erweitert nicht nur das Leben, die Berührung mit den Dingen scheint es allererst von bisheriger Schattenhaftigkeit zu voller Wirklichkeit zu führen und gibt ihm bei aller Anschmiegung ein stolzes Kraftgefühl.
Dies um so mehr, als Bacons Forschung nicht bloße Erkenntnis, sondern auch eine technische Herrschaft über die Natur erstrebt; »das wahre und echte Ziel der Wissenschaften ist kein anderes, als das menschliche Leben durch neue Erfindungen und Mittel zu bereichern«; das Wort, daß Wissen Macht ist, kam von hier aus recht in Umlauf. Der Mensch dient nur deshalb willig, um den Dingen ihr Geheimnis abzulauschen und sie sich zu unterwerfen. Indem solche Herrschaft unser Vermögen weiter und weiter ausdehnt, die Naturkräfte zu Gliedern unseres Leibes, zu Werkzeugen unseres Willens macht, steigert sie unermeßlich unser Leben und unser Glück. So liegt an der wissenschaftlichen Erkenntnis mit ihrer Wendung zur Technik aller Erfolg des Lebens.
Solcher Gedankengang führt zu einem begeisterten Preis der Erfindungen, sie sind »gleichsam Neuschöpfungen und Nachahmungen der göttlichen Werke«, die Erfinder aber Mehrer des Reiches der Menschheit und Eroberer neuer Provinzen, als solche den kriegerischen Eroberern weit überlegen, die nur ein einziges Volk und das auf Kosten anderer bereichern. Wie eine einzelne Erfindung das Leben umwandeln kann, zeigen die Buchdruckerkunst, das Pulver, der Kompaß; denn ohne sie gäbe es nicht die literarische Entwicklung, das Kriegswesen, den Welthandel der Neuzeit. Wie viel mehr ist zu erwarten, wenn das bisher dem Zufall Überlassene methodisch und systematisch angegriffen, wenn ein gemeinsames Verfahren des Erfindens gebildet wird und die Arbeit der Einzelnen verbindet. Denn sicherlich birgt der Schoß der Natur des Wertvollen noch recht viel, ein großer Haufe von Erfindungen bleibt noch zu machen; so verspricht die Erhebung des Zufalls zur Kunst das Leben durchgängig zu erhöhen. Mit der Begeisterung eines Sehers erschaut Bacon einen neuen Lebensstand und drängt er mit feurigem Eifer auf seine Verwirklichung. Nach Art eines Sehers erwartet er diese bessere Zukunft weniger von langsamer Arbeit als von einem raschen Umschwung.
Daß eine solche Fassung der Hauptaufgabe einen neuen Geist in das Leben bringt, bekunden mannigfache Züge. – Die Pyramide des Wissens bauen und das ganze Dasein durch Erfindungen erhöhen kann nicht der Einzelne, sondern nur die Verbindung vieler Kräfte, auch bedarf es, mag die Gegenwart die Hauptwendung bringen, der Kette der Geschlechter, einer Aufspeicherung der Leistungen. Die Wissenschaft wird damit aus einem Besitz des Einzelnen zur Sache der ganzen Menschheit, jeder hat sich bei ihr dem Ganzen bereitwillig einzuordnen; »viele werden vorüberziehen, und die Wissenschaft wird wachsen«. Das gibt der neuen Wissenschaft einen eigentümlichen ethischen Zug.
Zugleich bestärkt sich die Hochschätzung der Methode, von der Bacons Arbeit ausging. Nur ein Verfahren, das der Zufälligkeit der Individuen überlegen ist und auf sachlicher Notwendigkeit ruht, sichert einen Fortgang der Arbeit und hält die einzelnen Kräfte zusammen; zugleich vermag es die Unterschiede der Individuen auszugleichen und auch ein schwächeres Vermögen zu stärken. Denn »an sich geringe und untaugliche Gaben werden bedeutend, wenn sie in rechter Weise und Ordnung angewandt werden«. Ein Lahmer auf gerader Straße kann einen Läufer außerhalb des Wegs überholen. Die Methode scheint sich hier von den Personen völlig abzulösen und mit der Sicherheit einer Maschine zu wirken. So beginnt jene Überschätzung der Methode und Unterschätzung der Persönlichkeit, die dem modernen Leben viel Irrung eingetragen hat. Aber trotzdem verbleibt ein Recht, ja eine Unentbehrlichkeit des Grundgedankens. Das moderne Leben konnte nicht vorwärtskommen, ohne der Arbeit in ihren eigenen Notwendigkeiten einen Halt und eine Richtung über die Individuen hinaus zu geben; das aber will jene Forderung einer gemeinsamen Methode.
Die Umgestaltung der Wissenschaft verändert auch ihre Stellung im Ganzen des Lebens. Sie wird der beherrschende Höhepunkt, die Seele aller Kulturarbeit; der neue Stand der Dinge gilt als das »Reich der Philosophie und der Wissenschaften«, die neue intellektuelle Epoche verkündigt sich mit voller Deutlichkeit. Den Grundstock aller Wissenschaft bildet dabei die Naturwissenschaft. Sie ist die »große Mutter« und die Wurzel alles Erkennens, von der es sich ja nicht losreißen darf; sie liefert in der Tat der Forschung Bacons die Hauptbegriffe und Normen. Er schon vollzieht jene Gleichsetzung von Natur und Welt, von Naturwissenschaft und Wissenschaft überhaupt, die bis zum heutigen Tage ihre unrichtige Behauptung als selbstverständlich zu geben pflegt.
Dies Wissen samt dem technischen Aufschwung gibt dem ganzen Leben einen eigentümlichen Anblick und eine entsprechende Stimmung. Nun erhält der Mensch ein hohes Ziel und eine bedeutende Zukunft auch im sichtbaren Dasein, nun wird er hier voll beschäftigt, nun erzeugen die Erfolge der Arbeit ein starkes Selbstbewußtsein und ein freudiges Kraftgefühl. So möchte der Denker nicht das Elend des Menschen beklagen, sondern lieber bei den großen Männern und ihren Werken, »den Wundern der menschlichen Natur«, verweilen, einen Kalender menschlicher Triumphe anlegen. Gewiß ist der Forschung übergroßes Selbstvertrauen gefährlich, aber gefährlicher noch dünkt Kleinmut und voreiliges Verzweifeln. Wie sehr ist hier die Stimmung gegen frühere Zeiten umgeschlagen!
Alles Wirken erstrebt hier vornehmlich Leistung und Erfolg nach außen hin; daß die reine Innerlichkeit zu verkümmern beginnt, das zeigt die Behandlung aller einzelnen Gebiete. So hat Bacon glänzende Aussprüche über die Religion – von ihm stammt z. B. das Wort, daß in der Philosophie ein oberflächliches Kosten vielleicht zum Atheismus treibt, ein tieferes Schöpfen aber zur Religion zurückführt –, aber vor allem möchte er göttliche und menschliche Dinge, Glauben und Wissen deutlich scheiden und damit die Forschung aller Störung durch religiösen Übereifer entziehen. – Die Moral begründet er nicht mehr auf Religion und Theologie, sondern auf die Natur des Menschen, aber er dringt dabei nicht tief, und er befaßt sich weniger mit den Zielen als mit den Mitteln und Wegen des Handelns. Er spricht hier von einer »Kultur« des Geistes ( cultura animi) und unterliegt so sehr dem Einfluß des Bildes, daß er auch von einem »Landbau« ( georgica) des Geistes reden kann. – Ein Stück der Kulturarbeit wird auch das Recht, es soll vornehmlich die gemeinsame Wohlfahrt, das Glück der Bürger fördern. Die Fassung der Gesetze sei klar und bestimmt, ihre Handhabung erfolge, mit tunlichstem Fernhalten aller Willkür und Unsicherheit, aus der Denkweise der lebendigen Gegenwart. – Auch die Erziehungslehre stellt hier das Technische voran, das damals blühende Schulwesen der Jesuiten wird als Muster empfohlen. – Bemerkenswert ist endlich die Geringachtung der Kunst und aller schönen Form. Nicht die Schönheit, sondern der Gehalt und der Nutzen bestimmt den Wert der Dinge. Die Darstellung hat für sich keine Bedeutung, aller Schmuck dünkt überflüssig, ja schädlich. Dabei gibt Bacon selbst seine Gedanken in höchst durchgebildeter und feingeschliffener Form, er prägt so viele treffende Aussprüche und Bilder, daß Jahrhunderte davon zehrten, seine Darstellung zeigt die lebendigste Frische und gewinnt durch den schroffen Gegensatz des Ja und des Nein, der die Arbeit durchdringt, eine Spannung dramatischer Art. Alles zusammen macht ihn zu einem Meister des wissenschaftlichen Stils, ihm vor allem verdankt dieser die eigentümlich moderne Färbung.
So überschreitet auch sonst bei Bacon die Leistung öfter den Rahmen der naturwissenschaftlich-technischen Denkart. Aber diese bestimmt die Hauptrichtung, und nur was dieser sich einfügt, verbindet sich zu gemeinsamer Wirkung.
Bacon hat ein dringliches Verlangen des modernen Lebens geschickt formuliert und energisch durchgesetzt. Er strebt mit Kraft und Leidenschaft vom abstrakten Begriff zur sinnlichen Anschauung, von bloßer Wortweisheit zu sachlicher Erkenntnis, von schulmäßiger Enge zu gemeinsamer Kultur, er verflicht das menschliche Dasein enger der gegenständlichen Welt, er beginnt mit dem allen den modernen Realismus. Wie sehr seine Leistung einem Zeitverlangen nach mehr Anschauung und sinnlicher Nähe entgegenkam, das zeigt besonders die Umwälzung der Erziehungslehre im 17. Jahrhundert (Comenius), die sein Streben aufnimmt und weiterführt.
Daß Bacon bei dem allen eine Übergangserscheinung bleibt, bekundet gerade seine Lebensanschauung. Einmal fehlen ihr noch manche Zweifel, in deren Aussprache und Überwindung die Aufklärung ihre Größe fand, namentlich fehlt ihr ein Bruch mit dem nächsten Bilde der Welt. Sodann bleiben hier widersprechende Strömungen unausgeglichen. Erkennen und Handeln stellen den Menschen wesentlich anders zur Wirklichkeit. Jenes zeigt ihn leer und machtlos gegenüber' den Dingen, dieses gibt ihm eine überlegene Größe und läßt ihn seine Umgebung beherrschen. Was aber aus der Seele des Menschen wird, der nach außen hin so viel vermag, innerlich aber so wenig gewinnt, das findet bei Bacon keine Antwort.
Demnach erreicht er ebensowenig einen vollen Abschluß wie die übrigen Denker der Übergangszeit; wohl hat sein stürmisches Verlangen und sein zuversichtlicher Glaube eine neue Zeit heraufführen helfen, aber auch er bringt erst die Morgendämmerung eines neuen Tages, auch er bringt mehr Stimmung und Anregung als Arbeit und fruchtbare Leistung.