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a. Kant.
α. Die Gesamtart.
In Kant erreichen wir wieder einen großen Denker, einen der größten aller Zeiten. Der Zugang zu ihm ist besonders schwer, schwerer wohl als bei irgend einem anderen Denker. Das aber nicht sowohl wegen der Umständlichkeit und Schwerfälligkeit seiner Darstellung – Schwerfälligkeit darin zu ertragen sind wir Deutschen ja gewöhnt –, sondern weit mehr deshalb, weil seine Philosophie der eingewurzelten Denkart schroff widerspricht, weil sie eine völlige Umkehrung des Denkens und Lebens fordert, ohne das Neue, das sie einführt, zu vollem Abschluß zu bringen. Es könnte aber Kant nicht so tief in die geistige Bewegung eingegriffen, nicht so stark auch den Menschen als Menschen aufgeregt haben, wenn nicht aus seiner Arbeit einfache Wahrheiten sprächen und zur Umgestaltung unseres Daseins wirkten. Um diese Wahrheiten zu erfassen, heißt es sich in die inneren Notwendigkeiten zu versetzen, die sein Wesen enthält, und in deren Entwicklung er eine geistige Selbstbehauptung vollzieht. Denn das ist es, was das Leben und Schaffen eines großen Mannes in Fluß bringt: eine Grund Überzeugung, ein Glaube, eine Notwendigkeit des ganzen Wesens verlangt zwingend eine Gestaltung des Denkens und Lebens, welche die überkommene Gedankenwelt nicht bietet, ja der sie schroff widerspricht; so entsteht ein harter Zusammenstoß; um zu siegen muß die Persönlichkeit einen neuen Stand der Dinge erzeugen, der die Forderung ihres Wesens erfüllt. Solchen Kampf und den schließlichen Sieg der inneren Notwendigkeit zu betrachten, ist ein wundervolles Schauspiel, nirgends mehr als hier erweist sich überzeugend, daß der Mensch mehr ist oder doch mehr sein kann als ein bloßes Erzeugnis der Umgebung, ein bloßer Niederschlag der gesellschaftlichen Atmosphäre.
Es enthielt aber Kants geistige Art zwei Forderungen, die zunächst unverbunden scheinen, die sich ihm schließlich aber aufs engste zusammenschlössen: er verlangt eine neue Art des Erkennens, und er verlangt eine neue Art der Moral. Was bis dahin an Erkennen geboten ward, das scheint ihm bei Weitem nicht sicher genug begründet, das schwankt nach seiner Überzeugung zwischen einer dogmatischen Überspannung des menschlichen Vermögens und einem zerstörenden Zweifel hin und her; nicht minder entbehrt die Moral, zu der man sich oft aus dem Schiffbruch des Erkennens flüchtete, in der gewöhnlichen Fassung eines sicheren Grundes und eines echten Gehalts. Von der Möglichkeit, ja der Notwendigkeit eines echten Erkennens und einer echten Moral ist Kant aber felsenfest überzeugt; es muß sich ein Weg finden lassen, um das, was als Grundforderung das ganze Wesen durchdringt und zur Arbeit treibt, zu entwickeln und zugleich zu rechtfertigen. Diese Aufgabe wurde für Kant zum alleinigen Inhalt des Lebens und zur Sache unermüdlicher Arbeit. Diese Arbeit errang darin ihren Haupterfolg, daß eine durchgreifende Wendung zugleich beide Aufgaben löste, daß das echte Wissen und die echte Moral einander nicht stören, sondern sich gegenseitig ergänzen und fördern. Aber sie tun es nur, indem völlig neue Maße und Werte entstehen, indem eine alte Welt zusammenbricht, und eine neue mit überlegener Klarheit aufsteigt.
β. Die Erkenntniskritik und der Zusammenbruch der alten Denkweise.
Alles Erkennen will Wahrheit; ob aber dem Menschen Wahrheit irgendwie möglich sei, das hat der Verlauf der Zeit immer zweifelhafter gemacht. Der naiven Vorstellungsweise und mit ihr der antiken Wissenschaft galt die Wahrheit als eine Übereinstimmung unserer Vorstellung mit einer draußen befindlichen Wirklichkeit; eine solche Übereinstimmung schien ganz Wohl erreichbar, so lange noch keine Kluft die Welt und die Seele schied, so lange die Welt als von innerem Leben erfüllt und die Seele als ihr wesensverwandt galt. Die moderne Denkweise hat aber jenen unmittelbaren Zusammenhang zerstört, indem sie die Seele von der Welt ablöste und ihr schroff entgegensetzte; damit fiel der Begriff der Wahrheit im alten Sinne. Das entging schon den Denkern der Aufklärung nicht, aber erst Kant zeigt mit voller Überzeugungskraft, daß ein unabhängig von uns vorhandenes Ding bei sich selbst erkennen zu wollen, einen völligen Widersinn bedeutet. Denn in der Mitteilung an uns müßten sich die Dinge unvermeidlich verändern, ohne daß je auszumachen wäre, ob und wie weit unser Bild dem Gegenstande entspricht, da keine Vergleichung des einen mit dem anderen möglich ist. Vor allem aber würde jener Weg nie zu der Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit führen, die alles echte Erkennen fordert. Auf ein solches wäre daher endgültig zu verzichten, wenn unsere Begriffe draußen befindlichen Gegenständen entsprechen müßten.
Aber es besteht noch eine andere Möglichkeit, eine Möglichkeit, die mit eiserner Konsequenz entwickelt und in alle Verzweigung verfolgt zu haben, Kants Hauptleistung bildet. Könnte es nicht sein, daß sich nicht unsere Begriffe nach den Dingen, sondern die Dinge nach unseren Begriffen richten, daß wir die Dinge nur so weit erkennen, als sie in unsere Anschauungs- und Denkformen eingehen, also wir selbst sie von unserem Geiste aus gestalten? Das ist die berühmte von Kant vollzogene Umwälzung, die er selbst mit der Leistung des Kopernikus verglich; hier wie dort wird der Standort nicht in den Dingen, sondern im Beobachter genommen. Eine derartige, von uns aus entwickelte Wahrheit kann freilich auch nur für uns, sie kann nicht jenseits des Menschen gelten, sie reicht nicht über das Reich unserer Vorstellungen, das Reich der Erscheinungen hinaus. Wahrheit ist für uns nur zu retten, wenn wir sie auf den eigenen Kreis beschränken und auf alles Gelten darüber hinaus verzichten.« Ein Erzeugnis unseres Geistes könnte nur dann absolute Wahrheit bedeuten, wenn unser Erkennen schöpferisch wäre und aus seiner eigenen Bewegung eine Wirklichkeit hervorbringen könnte. Das aber kann es nicht, das menschliche Denken bedarf irgendwelcher Anregung und Darbietung, um ein Erkennen hervorzubringen, es bleibt insofern streng an die Erfahrung gebunden, es fällt ins Leere, wenn es sich von ihr ablöst. Anders ausgedrückt: die Formen der Erkenntnis stammen von innen, der Stoff aber muß von außen geboten werden. Wir bedürfen seiner notwendig für alles Erkennen; was Wir jedoch aus ihm machen, das liegt bei uns; ein Weltgefüge, eine zusammenhängende Erfahrung, fällt uns nicht zu, sondern wird von uns selbst bereitet; die Ordnung und Regelmäßigkeit der Erscheinungen, die Natur genannt wird, ist unser eigenes Werk. So erklärt sich das stolze Wort: »Der Verstand schöpft seine Gesetze nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor.«
Diese durchgreifende Wendung ist zunächst eine bloße Behauptung, ihren Beweis hat sie erst zu erbringen. Das geschieht durch das Ganze der »Kritik der reinen Vernunft« derart, daß Kant Punkt für Punkt aufzeigt, wie alles, was zur Verbindung der Mannigfaltigkeit, zur Herstellung eines Zusammenhanges der Wirklichkeit dient, nicht von den Dingen mitgeteilt, sondern von uns aufgebracht wird, daß es nicht von außen, sondern von innen stammt. Dieser Nachweis verwandelt völlig das herkömmliche Bild der Wirklichkeit. Denn aus dem gewöhnlichen Verfahren, die Leistung der Seele den Dingen als Eigenschaft beizulegen und die Welt des Subjekts in ein Reich objektiver Wirklichkeit gegenüber dem Subjekt zu verwandeln, war unsäglich viel Schein aufgekommen und ein Trugbild der Wirklichkeit entstanden. Die Zerstörung dessen bewirkt durch alle Verzweigung der Erkenntnis hindurch die gründlichste Umwandlung und Umwertung; was in gelehrter, umständlicher, bisweilen ermüdender Art beginnt und mit peinlicher Sorgfalt Schritt für Schritt vordringt, das wendet sich schließlich an den ganzen Menschen und ruft ihn zu neuer Denkart und neuem Leben auf.
Raum und Zeit schienen uns sonst als objektive Ordnungen zu umfangen, jetzt läßt eine nähere Prüfung ihres Wesens und ihrer Entwicklung bei uns ersehen, daß der Mensch selbst sie aufgebracht hat, daß sie nur subjektive Anschauungsformen sind, in denen unsere Seele die Eindrücke ordnet; wir empfangen diese Formen nicht von einer jenseitigen Welt, sondern wir bilden in ihnen eine eigene, nur für uns Menschen gültige Welt. Die Allgemeingültigkeit und die Notwendigkeit der Sätze der Geometrie und der Arithmetik wäre unbegreiflich, wenn Raum und Zeit, die ihre Grundlagen bilden, nicht lediglich Grundformen unserer Anschauung wären. So fällt die vermeintliche Handgreiflichkeit der sinnlichen Welt; zum Problem wird, was sonst das Allergewisseste schien.
Von dieser Erschütterung glaubte Kant einige Zeit sich auf das Denken zurückziehen zu können, als ein Vermögen, das eine Wahrheit der Dinge eröffne; später ergriff die Kritik auch dieses Gebiet und zeigte, daß auch hier alles Streben ins Weite im eigenen Kreise verbleibt, daß vom Kleinen bis ins Große unser eigenes Denken bereitet, was bis dahin als unabhängig von ihm vorhanden und den Dingen selbst angehörig galt; »zu aller Erfahrung und deren Möglichkeit gehört Verstand, und das Erste, was er dazu tut, ist nicht, daß er die Vorstellung eines Gegenstandes deutlich macht, sondern daß er die Vorstellung eines Gegenstandes überhaupt möglich macht.« Den Begriff eines Dinges erzeugt unser Verstand, um den sonst zerstreuten Eindrücken Halt und Einheit zu geben; auch was an Zusammenhängen der Erscheinungen vorliegt, ist nicht eine Ordnung und Mitteilung der Außenwelt, sondern unser eigenes Werk. Im besonderen wird die Kausalverkettung, wie schon Hume es sah, nicht von draußen übermittelt, aber sie ist nicht, wie dieser meinte, ein Erzeugnis bloßer Gewöhnung, sondern ein Grundgesetz unseres Geistes, der mit ihrer Hilfe die Erscheinungen verknüpft und in ein Ganzes zusammenfügt. Dieser mit peinlicher Sorgfalt durchgeführte Beweis, daß erst das Denken die sonst halt- und gestaltlosen Empfindungen in Erfahrungen umsetzt und eine zusammenhängende Wirklichkeit hervorbringt, zerstört aufs gründlichste allen Materialismus, der von außen her aufbauen möchte und Elemente wie Zusammenhänge draußen vorzufinden glaubt; Kants scharfe Scheidung zwischen sinnlich Handgreiflichem und logisch Festem hat jenen ein für allemal zu einer unwissenschaftlichen Ansicht herabgesetzt.
Bis soweit verblieben wir innerhalb des Bereichs der Erfahrung. Aber so sehr alles menschliche Erkennen an sie gebunden ist, die letzte Grenze unseres Denkens bildet sie nicht. Vielmehr treibt ein uns innewohnendes Vermögen der Vernunft uns zwingend über die Erfahrung hinaus, wir müssen streben, sie in ein Ganzes zu fassen und auf einen letzten Grund zurückzuführen, wir können nicht umhin, zu dem Bedingten der Erfahrung etwas Unbedingtes zu suchen. Aber so gewiß dies Unternehmen eine Größe unseres Wesens bekundet, es führt uns in ärgste Verwicklung; wir zeigen uns nämlich der Aufgabe nicht gewachsen, die wir doch unmöglich abweisen können. Wir vermögen nämlich nicht, jenseit der Erfahrung einen festen Standort zu erreichen und von ihm einen Weg zu ihr zurückzufinden, von ihm aus sie abzuleiten; wir werden immer wieder auf eben die Erfahrung zurückgeworfen, über die es uns zwingend hinaustrieb. So müssen wir schließlich erkennen, daß auch das Streben nach letzten Abschlüssen nur innerhalb unseres Gedankenkreises liegt, nicht über ihn hinausführt, und daß wir zu Unrecht die subjektive Notwendigkeit einer Verknüpfung unserer Begriffe als eine objektive Notwendigkeit der Bestimmung der Dinge an sich verstanden.
Diese Überzeugung muß aber erschütternd wirken, da bei dem Streben nach einer zusammenhaltenden Einheit und einem letzten Abschluß die dem Menschen allerwichtigsten Dinge in. Frage stehen: die Probleme der Seele, des Weltalls, der Gottheit. Wir können unser Seelenleben nicht fassen ohne die Mannigfaltigkeit dessen, was in ihm vorgeht, auf eine beherrschende Einheit zurückzubeziehen; aus solcher Einheit wurde früher ein Wissen von dem Wesen der Seele entwickelt, namentlich ihre Einfachheit und Unzerstörbarkeit erschlossen. In Wahrheit liegt alle Einheit nur innerhalb unserer Gedankenarbeit und überschreitet nicht die Erfahrung; unbeantwortet bleibt daher für immer die Frage nach dem Wesen der Seele, unbeantwortet auch die, ob sie den Tod zu überdauern vermag. – Wir verbinden weiter die Vielheit der Erscheinungen zum Ganzen einer Welt und möchten über die Beschaffenheit, die Grundkräfte, das Gefüge usw. dieser Welt aufgeklärt sein. Aber wir verfallen dabei unauflöslichen Widersprüchen, indem jedem versuchten Ja alsbald ein Nein gleichkräftig gegenübertritt; jedes von ihnen ist stark genug, die Behauptung des Gegners zu widerlegen, aber zu schwach, sein eigenes Recht zu erweisen. Denken wir z. B. die Welt in Raum und Zeit als begrenzt, so wird das Bild zu klein, denken wir sie als unbegrenzt, so wird es zu groß; das eine ist ebenso unerträglich wie das andere. Da es aber kein Drittes gibt, so ist deutlich und zwingend dargetan, daß wir in jenem Weltbilde nicht eine vorhandene Wirklichkeit ergreifen, sondern lediglich von uns aus eine Zusammenfassung versuchen; bei diesem Versuch aber treffen widerstreitende Bewegungen zusammen und halten die Sache stets in der Schwebe. – Auch dem letzten Problem dieser Art, der Gottesidee, geht es ähnlich: ohne einen letzten, bei sich selbst befindlichen Grund aller Wirklichkeit erreicht unser Erkennen keinen Abschluß; aber ein solches begründendes Sein damit für objektiv erwiesen halten können wir nur, wenn wir Antriebe innerhalb unseres Gedankenkreises in Notwendigkeiten ihm gegenüber verwandeln, wenn wir uns durch einen kecken Sprung aus dem Subjektiven ins Objektive, vom Begriff in ein von ihm unabhängiges Sein versetzen. Daß wir an all diesen Stellen einen letzten, uns überlegenen Abschluß fordern, liegt lediglich innerhalb unseres Denkens, es führt nie darüber hinaus. Demnach überschreitet unser Streben nirgends den eigenen Gedankenkreis und dringt daher nie zu einem Wesen der Dinge und zu letzten Gründen vor. Was uns als Mitteilung einer um uns vorhandenen Wirklichkeit galt, das haben wir selbst in die unerforschliche Welt hineingetragen.
Der erste Eindruck einer solchen Verschiebung aus dem Objektiven ins Subjektive muß erschütternd und niederschlagend wirken. Denn daß die Wahrheiten unabhängig von uns und uns gegenüber galten, das vornehmlich gab ihnen Bedeutung und Wert; unersetzlich scheint der Verlust, wenn uns nunmehr alle Wahrheit im alten Sinne genommen wird, und zwar für alle Zeit. Denn kein Fortschritt der Wissenschaft kann daran etwas ändern, auch alle Erfolge verbleiben innerhalb unseres Lebenskreises.
Freilich läßt die Umkehrung auch manches gewinnen. Indem das Subjekt von sich aus eine Welt gestaltet und zusammenhält, indem es über alle Erfahrung hinaus letzte Gründe erstrebt, erweist es eine eigentümliche Weite und Größe. Die scharfe Scheidung der Form vom Stoff und ihre ausschließliche Zuweisung an die Seele enthüllt in dieser ein viel feineres Gewebe und zeigt auch in scheinbar einfachen Leistungen eine reiche Struktur; eine mikroskopische Betrachtung deckt verwickelte Zusammenhänge auf, wo früher die Sache einfach schien. Wie viel mehr hat Kant z. B. im Vorgang der Anschauung sehen gelehrt! Zugleich wirkt die Versetzung aller Leistungen auf den eigenen Boden der Seele dahin, ihr Eigentümliches und Unterscheidendes deutlicher herauszuarbeiten und schärfer gegeneinander abzugrenzen. Kant ist besonders stark in der Aufweisung qualitativer Unterschiede und scharfer Gegensätze, völlig anders als Leibniz, der alle Fülle des Geschehens einer einzigen Stufenfolge einfügen wollte. So scheidet die kantische Gedankenwelt schärfer als je geschehen war Sinnlichkeit und Verstand, Verstand und Vernunft, theoretische und praktische Vernunft, Gutes und Schönes, Recht und Moral; solche Scheidungen, die bis ins Kleinste reichen, vertiefen, klären und beleben das Bild der Wirklichkeit.
Aber Kant versteht nicht nur zu scheiden, er versteht auch wieder zusammenzufügen und von einer überlegenen Einheit aus alle Mannigfaltigkeit zu beherrschen. Das Ausgehen vom Subjekt macht solche Aufgabe weit eher lösbar. Denn erst wenn das, was sonst eine Mitteilung der Dinge dünkte, von innen her aufgebracht wird, lassen sich alle Möglichkeiten überschauen, eine Vollständigkeit erreichen, ein Zusammenhang und eine Gliederung finden. Hier entstehen umfassende Gesamtwerke, wie z. B. das Ganze der Erfahrung, das jeder einzelnen Betätigung eine besondere Aufgabe und einen bestimmten Platz zuweist; ohne die Wendung zum Subjekt wäre Kants Gedankenwelt nicht die größte architektonische Leistung in der Geschichte der Philosophie geworden, nirgends ist so sehr wie hier die Wirklichkeit mit all ihrer Fülle in einen festen Gedankenbau geordnet, das systematische Denken zeigt hier eine noch größere Kraft als in der Aufklärung, die in ihm eine Stärke hatte.
Solche Leistung erhöht das Subjekt auch im eigenen Wesen, es verwandelt sich in einen großen Zusammenhang, in ein geistiges Gewebe; Kant denkt bei ihm nicht sowohl an das einzelne Individuum als an eine allen Menschenwesen gemeinsame geistige Struktur, an das »Bewußtsein überhaupt«; so ist das Weltbild, das er vom Subjekt aus entwirft, ein Werk nicht des Einzelnen, sondern des Menschenwesens. Das gibt seiner Arbeit einen auszeichnenden Charakter, daß sie nicht danach fragt, wie der einzelne Mensch zu gewissen Leistungen, zu Wissenschaft, Moral usw. gelangt, sondern wie Wissenschaft, Moral usw. innerhalb des Geisteslebens überhaupt möglich sind, welche Voraussetzungen und welche Zusammenhänge sie verlangen und erweisen; damit entsteht ein neues Verfahren, eine »Transzendentalphilosophie«, und hebt sich deutlich von aller empirischen Behandlung ab. Wenn also Kant dem Erkennen die Welt der Dinge verschließt, so stellt er ihm ein neues Ziel in der Ermittlung des Vermögens, Womit der Menschengeist kraft der ihm innewohnenden Vernunft sich seine Welt erbaut; so wird es aus einem Erkennen der Welt, aus einem Ergründen des Wesens der Dinge zu einer Selbsterkenntnis des sich eine Welt bereitenden Menschengeistes und zugleich zur Aufdeckung einer Vernunftkraft, die im Menschenwesen wirkt.
Demnach hat Kants Erkenntnislehre nicht bloß viel genommen, sondern auch viel gegeben. Immerhin würde die völlige Beschränkung des Menschen auf einen Sonderkreis nur eine an den Menschen gebundene Wahrheit ergeben, und eine solche kann uns nimmer gewähren, was wir bei der Wahrheit zu suchen pflegten und zu suchen unmöglich aufhören können. So würde Kant zu den vorwiegend verneinenden Geistern gehören, wenn jene Kritik der Erkenntnis sein letztes Wort bedeutete. Das aber tut sie nicht, vielmehr stellt jene mit aller Größe ihrer Leistung sich als eine bloße Vorarbeit für seine letzte Überzeugung dar, die das Gebiet der praktischen Vernunft eröffnet.
γ. Die moralische Welt.
Die Wendung zum Subjekt, die Kants ganzer Philosophie ihren eigentümlichen Charakter gibt, nimmt sich auf dem Gebiet des Handelns völlig anders aus als auf dem des Erkennens. Denn während auf diesem das Subjekt nur mit Hilfe einer undurchsichtigen Welt und in der Richtung auf diese Welt zur Betätigung kam, eröffnet sich auf dem anderen Gebiet die Möglichkeit eines selbständigen Wirkens und der Erzeugung einer Welt aus eigenem Vermögen; unter der Bedingung, freilich, daß es sich von allem Draußengelegenen befreit und seine Hauptaufgabe in sich selber findet. Damit ist von vornherein entschieden, daß nicht das Streben nach Glück ein derartiges Handeln und Leben hervorbringen kann; denn jenes bindet nach Kant den Menschen an etwas, das draußen liegt, und unterwirft ihn seinen Forderungen. Um unabhängig, »autonom«, zu werden, muß das Handeln alle fremden Zwecke von sich weisen und sich nur mit sich selbst befassen. Enthält nun der Lebenskreis des Menschen ein solches autonomes Handeln? Kant bejaht diese Frage zuversichtlich von der Tatsache aus, daß ein moralisches Gesetz, daß ein unbedingtes Soll der Pflichtidee in uns wirkt. Die Moral fordert von uns gewisse Handlungen und Gesinnungen, nicht wegen ihrer Folgen für uns, sondern lediglich ihrer selber wegen; das moralische Gesetz spricht zu uns nicht bedingungsweise, sondern unbedingt, als ein »kategorischer Imperativ«, und es gilt die Erfüllung dieses Gebotes nicht als ein besonderes Verdienst, sondern als einfache Pflicht und Schuldigkeit. Damit entsteht ein schweres Problem; wir können es nicht lösen ohne von uns selbst ein neues Bild zu gewinnen. Woher dies Gesetz, das so sicher und überlegen zu uns spricht? Unseren Willen bewegen und den Gehorsam als eine Pflicht verlangen könnte es nie als von draußen auferlegtes Gebot. Denn was immer von außen kommt, und Wäre es ein Befehl von Gott, das könnte nur wirken durch irgendwelche der Handlung verheißene Folge, das müßte durch Lohn oder Strafe anziehen oder abschrecken; damit aber hätte es seinen moralischen Charakter aufgegeben, denn als moralisch gut kann nur gelten, was lediglich seiner selber wegen, nicht wegen der Folgen gewollt wird. So kann das Gesetz nirgend anders her als aus unserem eigenen Innern stammen, es ist unser eigenes vernünftiges Wesen, das in ihm sich uns offenbart, es ist unser eigenes Wollen, welches das moralische Gebot uns zur Pflicht macht. Das ergibt aber einen völlig neuen Anblick der Seele, sie gewinnt eine Tiefe bei sich selbst und zugleich eine innere Abstufung, in uns erscheint eine »intelligible« Natur, die an den Menschen als eine Forderung kommt, aber als eine Forderung seines eigenen Wesens, als ein Verlangen nach Verwirklichung dieses Wesens. So eröffnet sich innerhalb des Menschen eine weite Kluft, die ihn zugleich als klein und als groß darstellt: klein ist er gegenüber dem Gesetz, hinter dessen strengen Forderungen sein Verhalten aufs weiteste zurückbleibt, groß dagegen ist er mit dem Gesetz, sofern er in ihm sein innerstes Wollen und Wesen erkennt und selbst zum Gesetzgeber, zum Mitträger einer neuen Ordnung wird. Aus solchen Zusammenhängen erklären sich die bekannten Worte: »Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir. Beide darf ich nicht als in Dunkelheiten verhüllt oder im Überschwänglichen außer meinem Gesichtskreise suchen und bloß vermuten; ich sehe sie vor mir und verknüpfe sie unmittelbar mit dem Bewußtsein meiner Existenz. – Das zweite fängt von meinem unsichtbaren Selbst, meiner Persönlichkeit an und stellt mich in einer Welt dar, die wahre Unendlichkeit hat, aber nur dem Verstande spürbar ist.«
Eine solche Hoheit aber hat das moralische Gesetz nur, wenn es seine Unabhängigkeit aufs strengste wahrt, sich nicht irgendwie mit Fremdartigem verquickt. Das geschieht aber nur, wenn die bloße Form des Gesetzes, die Allgemeinheit der Maxime, unser Handeln ausschließlich beherrscht; die Maxime unseres Wollens muß zugleich zum Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung taugen, und unsere Beweggründe dürfen, zum allgemeinen Gesetz erhoben, nie sich selbst widersprechen. Wir haben zu handeln aus bloßer Achtung vor dem Gesetz, als Gefäß und Werkzeug des Gesetzes, das wir selbst mit gegeben haben. Aus solchem Gedankengange läßt Kant das sittliche Handeln des Menschen in keiner Weise mit der natürlichen Neigung zusammenrinnen, ja macht er ein Handeln gegen die natürliche Neigung zum Kennzeichen pflichtgemäßer Gesinnung; damit wird nicht alle Neigung für unrecht erklärt, wohl aber das sittliche Gebiet als etwas wesentlich Höheres über sie erhoben; »die einzig sittliche Triebfeder ist die Achtung für das Sittengesetz.« Eben diese strenge Fassung der Lebensaufgabe ergibt die höchste Schätzung des Menschen als eines autonomen Wesens. Autonomie ist der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur. Erst sie, nicht der bloße Intellekt, macht den Menschen zu etwas wesentlich anderem als das Tier, »über die bloße Tierheit erhebt ihn das gar nicht, daß er Vernunft hat, wenn sie ihm nur zum Behuf desjenigen dienen soll, was bei Tieren der Instinkt verrichtet.« Zugleich klären und verschärfen sich Begriffe, die von alters her die Menschheit bewegten, die bis dahin aber keine sichere Begründung aus einer philosophischen Gedankenwelt fanden, Begriffe wie Persönlichkeit und Charakter. Zum Persönlichsein genügt nicht das bloße Denkvermögen, sondern es fordert die Fähigkeit einer sittlichen Zurechnung und damit eine Unabhängigkeit von allem Mechanismus bloßer Natur. Der Charakter aber ist weder eine bloßnatürliche Anlage noch eine durch Gewöhnung erworbene Festigkeit des Handelns, sondern die »absolute Einheit des inneren Prinzips des Lebenswandels überhaupt«. Solche Vertiefung allen vertrauter Größen hat weit über die Schule hinaus auf das gemeinsame Leben gewirkt.
Den Mittelpunkt dieser Überzeugungen bildet die Idee der Freiheit, als der Selbstbestimmung des vernünftigen Willens, als des Vermögens, einen Zustand von selbst anzufangen; sie ist die Voraussetzung aller Moral: so gewiß es Moral gibt, so gewiß besteht auch Freiheit, wir müssen können, wo wir sollen: »Du kannst, denn du sollst.« Dieser Idee der Freiheit widersprach die durchgängige Verkettung des Geschehens mit unangreifbarer Starrheit, so lange sie als eine Eigenschaft der Dinge selbst erschien. Die Vernunftkritik aber hat die Verkettung als das Werk unseres eigenen Geistes erwiesen, das nur für die Welt der Erscheinungen gilt, das daher freien Platz für eine andere Ordnung der Dinge läßt, wenn sich dafür zwingende Antriebe finden. Diese liefert aber die Moral; so wird nunmehr die Freiheit zum archimedischen Punkt, »woran die Vernunft einen Hebel ansetzen kann«. Aus der Freiheit entsteht ein neues Reich gegenüber der bloßen Natur, die Moral erscheint nun nicht mehr als eine Leistung innerhalb einer gegebenen Welt, sondern als der Aufbau einer neuen Welt, deren Wert ganz und gar in ihr selber liegt, keiner Bestätigung durch die Welt der Erfahrung bedarf, ja einen vollen Widerspruch mit ihr keineswegs zu scheuen braucht. Denn »in Betracht der Natur gibt uns Erfahrung die Regel an die Hand und ist der Quell der Wahrheit; in Ansehung der sittlichen Gesetze aber ist die Erfahrung (leider!) die Mutter des Scheins, und es ist höchst verwerflich, die Gesetze über das, was ich tun soll, von demjenigen herzunehmen oder dadurch einschränken zu wollen, was getan wird«. So hat die Moral, unbekümmert um das Tun und Treiben der Menschen, ihren eigenen Weg zu verfolgen, dessen gewiß, daß nur ihre Welt Güter enthält, die das menschliche Dasein lebenswert machen. »Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.« »Alles Gute, das nicht auf moralisch gute Gesinnung gepfropft ist, ist nichts als Schein und schimmerndes Elend.« »Wenn die Gerechtigkeit untergeht, so hat es keinen Wert mehr, daß Menschen auf Erden leben.« So eine gründliche Befreiung des sittlichen Handelns von der gegebenen Welt, eine Befestigung in sich selbst, ein Unabhängigwerden von allem äußeren Erfolge.
Diese Schätzung der moralischen Welt ruht auf der Überzeugung, daß das sittliche Handeln nicht der besonderen Natur des Menschen entstammt, sondern ein allgemeingültiges Reich der Vernunft eröffnet. Denn die Freiheit, woraus jene Welt hervorgeht, gehört zum Wesen der Vernunft; so läßt ihre Entwicklung eine allen Vernunftwesen gemeinsame Wahrheit, eine absolute Wahrheit gewinnen. Demnach eröffnen sich von hier aus, wenn auch »nur mit schwachen Blicken« Aussichten ins Reich des Übersinnlichen, in den tiefsten Grund der Wirklichkeit. Kant findet hier eine zuversichtliche Antwort auf die Frage nach einem letzten Sinne der Welt, dieser kann nunmehr nur ein moralischer sein. Mit solchem Erstreben einer letzten und vollen Wahrheit erweist er sich selbst als einen Metaphysiker, freilich als einen Metaphysiker eigener Art.
Auch bewährt er bei solcher Wendung die ihm eigentümliche kritische Vorsicht. Was das neue Gebiet an Ideen entwickelt, das bleibt grundverschieden von allen theoretischen Lehren, das setzt die Anerkennung des Sittengesetzes voraus und fordert damit eine persönliche Entscheidung. Aber diese ist keineswegs eine Sache individuellen Beliebens, sie wird allen als Pflicht auferlegt.
So die Idee der Freiheit, die Grundlage aller Moral, so auch zwei weitere Ideen, die der Unsterblichkeit der Seele und des Daseins Gottes; sie gehen nach Kants Überzeugung aus der Moral notwendig hervor. Das Sittengesetz verlangt eine strikte Erfüllung, eine vollendete Heiligkeit des Wandels, diese Aufgabe kann der einzelne Mensch innerhalb des Erdenlebens unmöglich lösen, ein schlechthin Unmögliches aber wäre nicht mit ganzer Kraft zu erstreben, so bedarf unser Handeln der Überzeugung, daß wir über diese kurze Zeitspanne hinaus ins Unendliche fortbestehen. – Die natürliche Ordnung der Dinge läßt Tüchtigkeit und Glück oft weit auseinanderfallen, sie versagt dem Glückswürdigen oft das gebührende Glück. Wir könnten aber nicht unsere ganze Kraft an die Verwirklichung des Guten setzen, müßte es uns als ohnmächtig gelten; so erzeugt die Idee des Guten notwendig die Forderung einer naturüberlegenen sittlichen Ordnung und damit die eines allmächtigen sittlichen Wesens: Gottes. – Diese Erörterungen erreichen nicht die sonstige Höhe der kantischen Arbeit, ja im Grunde widersprechen sie ihr; nirgends mehr als hier zeigt Kant einen Zusammenhang mit der Verstandesnüchternheit der späteren Aufklärung.
Aber es bleibt eine männliche und kräftige, ja eine strenge und herbe Moral, die hier geboten wird. Sie entwindet das menschliche Handeln nicht nur der Herrschaft des Verstandes, sondern auch der des Gefühls, ihre Begründung in der schöpferischen praktischen Vernunft scheidet sie von aller bloßpsychologischen Ableitung. Wie diese Moral alle Anknüpfung an das bloße Gefühl verschmäht und den Vernunftbegriff direkt auf den Willen wirken läßt, so tragen auch die Tugenden, die Kant vornehmlich zur Pflicht macht, einen strengen und herben Charakter; es sind das Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit, jene zunächst gegen den Handelnden selbst, diese gegen die anderen gekehrt. Wahrhaftig sollen wir an erster Stelle nicht gegen andere, sondern gegen uns selber sein; überall gilt es völlig aufrichtig gegen uns selbst, aus eigener Überzeugung und selbständiger Entscheidung, nicht auf unsichere Meinung und fremde Verantwortung hin, zu handeln. Mag auch die größte Gewissenhaftigkeit gegen sachliche Irrung nicht schützen, ihr moralischer Wert wird dadurch nicht angetastet. »Es kann sein, daß nicht alles wahr ist, was ein Mensch dafür hält (denn er kann irren), aber in allem, was er sagt, muß er wahrhaft sein.« – Das Verhältnis der Menschen untereinander aber entspreche der Idee der Gerechtigkeit. Als ein Glied des Vernunftreiches hat jeder Mensch eine unverlierbare Selbständigkeit und die Würde eines moralischen Selbstzwecks; wir haben uns demnach gegenseitig zu achten und einander nie als ein bloßes Mittel zu behandeln. Das ergibt eine eigentümliche Ordnung des gesellschaftlichen Zusammenseins, die einen Einfluß des englischen Freiheits- und Rechtsideals nicht verleugnet; der Staat ist hier nicht mehr als eine »Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen«, so daß der Gedanke eines nationalen Staates noch fernliegt. Jedoch wächst das Zusammensein über das englische Maß hinaus, indem hier der Mensch an erster Stelle als sittliche Persönlichkeit betrachtet wird, und die Gesellschaft ihr höchstes Ziel nicht in der eigenen Wohlfahrt, sondern in dem Aufbau eines Reiches der Freiheit und Gerechtigkeit findet. Kant hält aber bei aller Schätzung der Freiheit nicht viel von der Demokratie, er sieht in ihr eine Gefahr für die Freiheit des Einzelnen, die ihm besonders am Herzen liegt; »Volksmajestät« erklärt er für einen »ungereimten Ausdruck«. Sein politisches Ideal ist die »Repräsentationsverfassung«. Das Verlangen einer gerechten Ordnung hat Kant auch auf das Verhältnis der Völker ausgedehnt und dem unaufhörlichen Kriegszustand die Forderung eines ewigen Friedens entgegengesetzt, freilich nicht ohne Bedenken, ob die Idee eines solchen Friedens nicht unausführbar sei, aber doch in der Überzeugung, daß hier eine Aufgabe vorliegt, die »nach und nach aufgelöst, ihrem Ziele beständig näher kommt«. Es hat ihn solche Überzeugung aber nicht gehindert, den Wert der kriegerischen Leistung vollauf anzuerkennen; ein tapferer Mensch, so meint er, sei »selbst dem Wilden ein Gegenstand der größten Bewunderung«. »Selbst der Krieg, wenn er mit Ordnung und Heiligachtung der bürgerlichen Rechte geführt wird, hat etwas Erhabenes an sich und macht zugleich die Denkungsart des Volks, welches ihn auf diese Art führt, nur um desto erhabener, je mehreren Gefahren es ausgesetzt war und sich mutig darunter hat behaupten können.« So würde sicherlich auch heute die Sympathie des größten deutschen Denkers mit seinem kämpfenden Volke sein.
Es läßt sich aber nicht leugnen, daß Kant in der Beurteilung des menschlichen Standes unter widerstreitende Antriebe gerät und dadurch an einzelnen Stellen einem Schwanken verfällt. Einerseits hat er den höchsten Begriff von der Würde des Menschen als eines autonomen Wesens, andererseits entwirft er ein durchaus trübes Bild vom tatsächlichen Stande der Menschen; das zeigt nicht nur die bekannte Lehre von einem radikalen Bösen, sondern das geht durch seine ganze Philosophie; ihn empört die Unwahrhaftigkeit und die Ungerechtigkeit, die Unlauterkeit und der Mangel an Aufrichtigkeit, die sich durchgängig finden; »aus so krummem Holz, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden«, er spricht von einem »traurigen Anblick, nicht sowohl der Übel, die das menschliche Geschlecht aus Naturursachen drücken, als vielmehr derjenigen, welche die Menschen sich untereinander selbst antun«. Kant widerspricht mit solcher Überzeugung schroff dem Hauptzuge der Aufklärung, die im Bösen nur eine Schwäche unserer sinnlichen Natur sah, deren Neigungen wir nicht genügend widerstehen; er dagegen findet das Böse im Willen selbst, nicht darin, daß wir niedere Neigungen haben, sondern darin, daß wir ihnen nicht widerstehen wollen. So erklärt sich, daß Kant weniger eine Verständigung zwischen der sittlichen Forderung und dem Menschen der Erfahrung erstrebt als eine Aufrechterhaltung des Sittengesetzes in seiner vollen Reinheit und Strenge, daß er sich mit aller Energie dagegen sträubt, unser Handeln auf die Neigungen des Menschen zu gründen, auch daß er das Verhältnis von Mensch zu Mensch weniger auf Liebe und Mitleid als auf Gerechtigkeit und gegenseitige Achtung gestellt haben will. Zugleich verbietet es sich, die moralische Forderung nach den tatsächlichen Verhältnissen zu bemessen, daher erschien es als »höchst verwerflich«, die Gesetze über das, was ich tun soll, von demjenigen herzunehmen oder dadurch einschränken zu wollen, was getan wird. Es wird solche moralische Strenge vollauf auch auf das politische Gebiet ausgedehnt und die Forderung erhoben, nie das Recht der Politik, wohl aber die Politik jederzeit dem Rechte anzupassen. »Wohl ist,« so meint Kant, »Ehrlichkeit nicht immer die beste Politik, aber sie ist besser als alle Politik«.
Kants Geringschätzung des moralischen Standes des Menschen macht es schwer die Überzeugung von einem Fortschritt zu begründen, die er doch nicht aufgeben möchte. Der tiefen Kluft im Stande des Menschen, welche die Lehre von einem radikalen Bösen aufdeckt, entsprechen nicht vollauf die Mittel, welche Kant zu ihrer Überwindung verwendet. Schließlich bleibt nur das Vertrauen auf die menschliche Kraft und einen dadurch bewirkten allmählichen Fortschritt. Der Glaube an einen solchen scheint ihm unerläßlich, da ohne eine Hoffnung besserer Zeiten »eine ernstliche Begierde, etwas dem allgemeinen Wohl Ersprießliches zu tun, nie das menschliche Herz erwärmt hätte«. Aber er erklärt wegen der moralischen Unzulänglichkeit des Menschen einen Fortschritt zum Besseren »durch den Gang der Dinge von unten hinauf« für unmöglich, er erwartet daher einen solchen nicht sowohl von dem, was wir tun als »von dem, was die menschliche Natur in und mit uns tun wird, um uns in ein Gleis zu nötigen, in welches wir uns von selbst nicht leicht fügen würden. Denn von ihr, oder vielmehr (weil höchste Weisheit zur Vollendung dieses Zweckes erfordert wird) von der Vorsehung allein können wir einen Erfolg erwarten, der aufs Ganze und von da auf die Teile geht.«
Die hier erscheinende Verwicklung erstreckt sich auch in das Gebiet der Religion, die persönliche Überzeugung und die wissenschaftliche Darlegung decken einander nicht völlig. Wenn diese die Religion als »die Erkenntnis aller unserer Pflichten als göttlicher Gebote« versteht, so sinkt damit die Religion zu einem bloßen Mittel zur Verstärkung der Moral und überschreitet also kaum die Fassung der Aufklärung. Nur die Energie, mit der Kant diese Fassung entwickelt, hat seiner Erörterung einen besonderen Nachdruck gegeben. Aber alle Kraft, womit er die moralische Seite der Religion hervorkehrt, alles Scheinwesen in ihr mit erfrischender Entrüstung bekämpft, vollste Wahrhaftigkeit der Überzeugung fordert, sollte nicht übersehen lassen, daß hier der Religion alle eigentümliche Art und Wirkung versagt bleibt. Kants persönlicher Überzeugung bedeutete, wie auch verschiedene Stellen seiner Schriften bekunden, die Religion weit mehr, hier hatte sie weit mehr Selbständigkeit, Wärme und Innerlichkeit. Aber seine Philosophie verbleibt bei jenem Moralismus, einem Moralismus freilich größten Stiles. So erscheint hier ein weiter Abstand zwischen den beiden größten Geisteshelden deutschen Lebens, zwischen Luther und Kant, so gewiß beide in der Voranstellung der sittlichen Persönlichkeit und in der Forderung einer vollen Unmittelbarkeit und Wahrhaftigkeit des Lebens innerlich nahe verwandt sind. Kant sagt: »Du kannst, denn du sollst«, Luther: »Vom Sollen läßt sich nicht aufs Können schließen« ( a debere ad posse non valet consequentia). Das ist der Unterschied einer überwiegend moralischen und einer überwiegend religiösen Überzeugung und Lebensgestaltung. Wie immer wir aber zu diesen Problemen stehen, wir müssen es Kant zu höchster Ehre rechnen, daß er die Größe und Würde der Moral gegenüber der landläufigen Verflachung wieder voll zur Geltung und Wirkung gebracht hat, er hat, um mit Goethe zu sprechen, ein »unsterbliches Verdienst« darin, »uns von jener Weichlichkeit, in die wir versunken waren, zurückgebracht zu haben«.
δ. Das Reich des Schönen.
Während Kant sonst die Idee des Guten den gesamten Umkreis des Lebens bis in die einzelnen Gebiete hinein beherrschen läßt, hat er dem Schönen mehr Selbständigkeit und mehr Eigenwert zuerkannt. Mag er schließlich auch das Schöne als »Symbol des Sittlichguten« dem Guten unterordnen und den Geschmack als ein »Beurteilungsvermögen der Versinnlichung sittlicher Ideen« verstehen, den Kern der ästhetischen Lehren hat diese moralisierende Richtung nicht ergriffen, hier wird das Schöne als ein eigenes Reich behandelt, von überkommener Vermengung befreit, in der Tiefe des Geistes begründet. – Eine schärfere Prüfung der Eigentümlichkeit des Schönen ergibt nämlich eine deutliche Abgrenzung des Wohlgefallens an ihm sowohl gegen das am Angenehmen als das am Guten: jenes ist ohne alles Interesse, während das am Angenehmen wie am Guten stets mit Interesse verknüpft ist. Ferner gefällt das Angenehme den Sinnen in der Empfindung, es kann daher nicht allgemeingültig sein, das Gute vermittelst der Vernunft durch den bloßen Begriff, schön hingegen ist, was ohne Begriffe als Objekt eines allgemeinen Wohlgefallens vorgestellt wird.
Diese Allgemeingültigkeit des ästhetischen Urteils wird nur begreiflich, wenn die Beurteilung lediglich die Form der Gegenstände betrifft, und wenn diese Form nicht als ihnen selbst angehörig, sondern als ihnen von uns beigelegt gilt. So eröffnet uns das Schöne nicht eine draußen befindliche Welt, sondern den Zustand der eigenen Seele; nicht ihre eigene Beschaffenheit macht die Dinge schön, da diese uns gänzlich dunkel bleibt, sondern ihr Vermögen, unsere Geisteskräfte, im besonderen Sinnlichkeit und Verstand, zu beleben und harmonisch zueinander zu stimmen. Indem wir demnach beim Schönen nicht eine Harmonie der Dinge, sondern eine Harmonie unserer eigenen Geisteskräfte erfahren, werden wir auch hier vom Druck einer äußeren Welt befreit und auf das eigene Innere gestellt.
Diese subjektive Natur des Schönen tritt besonders anschaulich beim Begriff des Erhabenen hervor. Beim Erhabenen empfinden wir einen schroffen Kontrast; dieser könnte aber nicht zu unserm Erlebnis werden, wenn er zwischen uns und einer Außenwelt läge, nicht uns selbst, unserer eigenen Seele angehörte. Im Erhabenen erleben wir nicht unser Verhältnis zu draußen befindlichen Dingen, sondern das Unvermögen unserer Einbildungskraft, auch durch höchste Anspannung die Unendlichkeit der Vernunftidee zu erreichen. Nur deshalb können Eindrücke der Sinne erhaben heißen, weil ihre Anschauung die Idee der Unendlichkeit mit sich bringt, die »wahre Erhabenheit aber liegt im Gemüte des Urteilenden, nicht im Naturobjekt«.
Aus solcher Begründung des Schönen in der eigenen Natur des Geistes hat Kant es unabhängig nach außen hin und allem bloßen Nutzen überlegen gemacht. Das war es, was unsere Dichter zu ihm hinzog und sich ihm verwandt fühlen ließ; so konnte namentlich Goethe »die großen Hauptgedanken der Kritik der Urteilskraft seinem bisherigen Schaffen, Tun, Denken ganz analog« finden. Für Kant selbst aber wird das Schöne ein Bindeglied zwischen dem erhabenen Reich der Moral und der sinnlichen Welt der Erfahrung, »der Geschmack macht gleichsam den Übergang vom Sinnenreiz zum habituellen moralischen Interesse ohne einen gar zu gewaltsamen Sprung möglich, indem er die Einbildungskraft auch in ihrer Freiheit als zweckmäßig für den Verstand bestimmbar darstellt und sogar an Gegenständen der Sinne auch ohne Sinnenreiz ein freies Wohlgefallen finden lehrt«. So hält das Schöne das gewaltige System zusammen und mildert die Strenge des Ganzen.
ε. Würdigung.
Es liegt uns nicht ob, zum gewaltigen Gedankenbau Kants in eingehender Erörterung Stellung zu nehmen, wir möchten nur sein Verhältnis zur eigenen Zeit wie zu den folgenden Zeiten in knappen Zügen schildern. Es dauerte eine Weile, bis Kants Zeitumgebung erkannte, wie sehr seine Leistung ihrem eigenen Streben entgegenkam; als sie es aber erkannte, da fielen ihm weiteste Kreise mit heller Begeisterung zu und folgten den von ihm eröffneten Bahnen. Denn sein Werk schien dem sie beseelenden Verlangen nach Freiheit erst die rechte Begründung und abschließende Vollendung zu geben, dadurch zu geben, daß seine Denkart die Menschheit vom Druck einer ihr entgegenstehenden Welt befreite und sie ihre eigene Welt von innen her aufbauen hieß. Auch die großen Dichter begrüßten diese Wendung freudig als eine Rechtfertigung ihres eigenen Beginnens, überhaupt aber steigerte sie das Bewußtsein der Größe und Würde des Menschen, hob sie das Selbstgefühl der Zeit. Aber diese Begeisterung für Kant ergab keinen unbedingten Anschluß an ihn. Denn eben indem man jene Befreiung zur entscheidenden Hauptsache machte, empfand man die Leistung als unvollendet und glaubte man das begonnene Werk über Kant hinaus fortführen zu müssen. Es waren namentlich zwei einander verwandte Punkte, die ein solches Weitergehen zu fordern schienen: die Annahme eines Dinges an sich jenseits der Erscheinungswelt und die Scheidung einer theoretischen und einer praktischen Vernunft mit ihrer grundverschiedenen Bewertung des menschlichen Vermögens. Es waren jugendliche, von frischem Mut strotzende Geister, welche die von Kant gezogenen Schranken getrost durchbrechen und das Ganze der Gedankenwelt in einen einzigen großen Strom verwandeln zu können vermeinten. Sie haben mit solchem Unternehmen unermeßlich viel in Fluß gebracht, neue Durchblicke der Wirklichkeit eröffnet, das Leben vor neue Aufgaben gestellt; aber ihr kühnes Wagnis hat zugleich das menschliche Vermögen stark überspannt, das Menschenleben zu sehr als absolutes Leben behandelt, eben damit aber es in eine unsichere Bahn gebracht; scheinbar auf ihrem Gipfel angelangt, brach die Bewegung in der menschlichen Meinung und Schätzung zusammen, und es entstand ein so heftiger Rückschlag, daß das Ganze jener Bewegung manchem eine kaum begreifliche Verirrung dünkte. So folgte dem gewaltigen Aufschwung rasch eine tiefe Ermattung, und da die Verwerfung einer besonderen Leistung sich leicht ins Ganze und Prinzipielle wendet, so entstand eine große Abneigung gegen die Philosophie überhaupt und ihr Unternehmen einer Erschließung der Welt. Solche völlige Abwendung mußte freilich bald vorübergehen; als aber wieder eine Wendung zur Philosophie erfolgte, da empfand man gegenüber jener Zeit der stürmischen Aufregung und überraschen Produktion vor allem das Bedürfnis einer ruhigen Besinnung, einer umsichtigen Orientierung, einer sicheren Befestigung; der Standort für diese wurde nunmehr vielen die kantische Denkart mit ihrer ruhigen Klarheit und ihrer sorgfältigen Grundlegung. Ein Zwiefaches ward hier geboten, was dem Verlangen der Zeit entgegenkam: für die mehr fachgelehrte Forschung der Antrieb zu erkenntnistheoretischer Selbstprüfung und gewissenhafter Absteckung des menschlichen Vermögens, für den Menschen als Menschen die Voranstellung der Pflichtidee und die Verfechtung eines kräftigen moralischen Idealismus.
So glaubte man aller Metaphysik entraten zu können und zugleich gegen allen bloßen Materialismus wie auch Utilitarismus geschützt zu sein. Dieser Neukantianismus pflegte sich den spekulativen Systemen schroff entgegenzustellen, ihnen gegenüber wurde Kant zum sammelnden Losungswort. Aber ihn einfach in ursprünglicher Form wiederaufzunehmen, war schon deshalb unmöglich, weil die Zeit sich wesentlich verändert hatte und neue Forderungen erhob, auch hätten jene Systeme, mochte ihre nähere Ausführung noch so bestreitbar sein, viel zu viel geistiges Leben geweckt und viel zu zwingende Fragen in Fluß gebracht, als daß das Ganze sich einfach hätte streichen lassen. So drängte es über jene Anfänge des Neukantianismus hinaus zur Ausbildung eigener Gedankenwelten, die im Festhalten der kantischen Grundlage einen Weiterbau unternahmen; es ist das namentlich in der zwiefachen Richtung geschehen, daß entweder die logisch-intellektuelle Bewegung weiter verfolgt, oder aber die in Kant liegende Wertbetrachtung selbständig ausgebaut wurde. Jedoch diese Entwicklungen lassen sich hier nicht näher betrachten, beschränken wir uns daher auf die Frage, was über die fachgelehrten Kreise hinaus Kant eine bleibende Bedeutung für das gemeinsame Leben und die geistige Bewegung gibt.
Daß sein Werk schon den allgemeinen Zügen nach eine überragende Größe besitzt, wird kein Unbefangener bestreiten. Mit gewaltiger Kraft eines Überschauens und Zusammenfassens, ja einer souveränen Beherrschung ausgedehnter Gedankenmassen, mit einem einzigartigen Vermögen systematischer Anordnung verbindet sich hier die sorgfältigste Durcharbeitung bis ins Einzelne und Kleinste hinein, nichts ist hier flüchtig hingeworfen, nichts nur im Umriß angedeutet, sondern mit peinlicher Gewissenhaftigkeit wird alles bis ins Kleinste ausgeführt und eine lückenlose Vollständigkeit erstrebt. Das Besondere fällt dabei nie aus dem Zusammenhange heraus, es vertritt und verkörpert immer durchgehende Weltgedanken. So wirkt das Ganze mit der Wucht einer vollständig durchgebildeten, fest bei sich selbst geschlossenen, einheitlichen Gedankenwelt. Es hängt eng mit solcher Art zusammen, daß diese Gedankenarbeit Synthese und Analyse mit gleicher Energie entfaltet und in fruchtbarste Wechselwirkung setzt. Überall der offenste Blick für das Eigentümliche und Unterscheidende der Dinge, infolgedessen schärfere Züge, begrenztere Umrisse, mehr innere Spannung und Bewegung als bei anderen großen Denkern, und doch immer das Streben zu einem Gesamtaufbau, kein Sichvergrübeln in Einzelheiten. Auch die Klarheit der Definitionen wie die durchsichtige Entwicklung der Einteilungen steigert die Wirkung dieser Gedankenarbeit, nichts wird hier ungeprüft aufgenommen, nichts verläuft hier ins Unbestimmte, festgefügt ist dies ganze Reich.
Die überwältigende Macht dieser Arbeit verstärkt sich weiter durch die lautere persönliche Wahrhaftigkeit, welche sie trägt und beseelt; überall steht hinter der wissenschaftlichen Leistung der ganze Mensch, dem nur an der Sache, nichts an der Wirkung auf andere oder gar an dem Beifall anderer liegt, der überall sich selber gibt und sich nicht das mindeste einreden läßt, der nirgends auf einen bequemen Abschluß, auf eine einschmeichelnde Darstellung ausgeht.
So war die Wissenschaft mit ihrer herben Strenge für Kant eine enge Pforte, aber sie war ihm eine Pforte, »die zur Weisheitslehre führt«. Das aber durch die hohen Ziele, in deren Dienst er jenes vorzügliche Rüstzeug stellte; diese Ziele waren so bedeutend, daß mit ihrer Eröffnung und Förderung ein neuer Abschnitt in der Gesamtbewegung der Gedankenarbeit beginnt. Der Neuzeit ist es, so zeigte sich uns durchgängig, eigentümlich und wesentlich, wie den Aufbau des Lebens, so auch die Erkenntnisarbeit vom Menschen her zu beginnen, nicht ihn auf eine ihm gegenüberliegende Welt zu verweisen und deren Mitteilung erwarten zu lassen, ihn damit an sie zu binden. Sollte zugleich aber ein Weltcharakter des Lebens und eine Wahrheit des Erkennens behauptet werden, so galt es vom Menschen aus wieder zu einer Welt zu gelangen und ihren Gehalt zu gewinnen; dies Problem beherrscht die Gedankenbewegung der Neuzeit. Es hatten aber die Kant vorangehenden Denker die große Frage auf dem Wege der spekulativen Metaphysik zu lösen versucht, durch den Nachweis, daß was unmittelbar im Menschen vorgeht, infolge seiner eigentümlichen Art ganz wohl zu einer von ihm unabhängigen Welt stimmen kann; mit besonderer Kühnheit hatte das Leibniz mit seiner prästabilierten Harmonie getan. Aber dieses Verfahren litt nicht nur an großer Künstlichkeit und begegnete schon deswegen schwersten Bedenken, es hatte auch darin eine Schranke, daß auf diesem Wege bestenfalls ein intellektuelles Verhältnis zur Welt zu gewinnen war, daß die Welt nur als Gegenstand der Erkenntnis uns zu eigen werden konnte, eine auf die Dauer unerträgliche Einschränkung. Das alles erfährt nun die gründlichste Wandlung durch Kant. Er bringt den Menschen nicht mit der Welt auf künstlichen Wegen zusammen, sondern er läßt sie sich innerhalb des Menschen und durch seine eigene Tätigkeit hindurch entfalten, er befreit ihn dadurch von der Gebundenheit, stellt ihn fest auf sich selbst und erweitert sein Leben von innen heraus zu einem Weltleben von unmittelbarer Gegenwart. Wir erkennen darin ein Hauptstück der geistigen Befreiung der Menschheit, welche die Höhe des deutschen Lebens nach verschiedenen Richtungen vollzogen hat; Luther, Kant, Goethe sind dabei die Führer. Luther tat jenes vornehmlich für die Religion, Goethe für die Kunst, Kant tut es für die Erkenntnislehre und für die Moral; eine innere Verwandtschaft dieser Bestrebungen ist bei aller Verschiedenheit augenscheinlich. Daß aber bei Kant das Moralische zum beherrschenden Mittelpunkt wurde, das ist es, was ihn über jeden besonderen Kreis hinaus aufs stärkste zum Ganzen der Menschheit und namentlich zum deutschen Volke wirken läßt. Denn so wurden Größen, die von altersher in hoher Schätzung standen, als die Eröffnung einer neuen Welt erkannt und anerkannt, so vor allem die Pflichtidee, so aber auch Begriffe wie Persönlichkeit und Charakter; dadurch wurden nicht nur diese Größen bei sich selbst geklärt und gehoben, sondern es wurde auch dem Menschenwesen als ihrem Träger eine unvergleichliche Größe und Würde zuerkannt, eine sichere Erhebung über das Alltagsgetriebe mit seinen kleinen Zwecken vollzogen. Es kann aber Kant das Menschenwesen nicht so von innen her erhöhen, ohne zugleich die Schranken des tatsächlichen Standes mit vollster Deutlichkeit vorzuhalten. Denn niemand steht einer Verherrlichung des Menschen wie er leibt und lebt, einer Menschenvergötterung, ferner als Kant; kaum je hat ein Denker das Unzulängliche nicht nur, sondern das Unwahre und Niedrige in seiner Art so eindringlich gelehrt als der Mann, welcher meint: »Alles, auch das Erhabenste, verkleinert sich unter den Händen der Menschen, wenn sie die Idee desselben zu ihrem Gebrauch verwenden.« Eben die unbestechliche Aufdeckung dieser tiefen Kluft, dieses schroffen Zwiespalts im Menschenwesen selbst, bei voller Festhaltung einer Bedeutung menschlichen Tuns, gibt der kantischen Gedankenwelt eine mächtige innere Bewegung, eine aufrüttelnde und stählende Kraft. Wir überzeugten uns von dem Unterschiede zwischen Kant und Luther, zwischen einem Idealismus, der die Moral, und einem Idealismus, der die Religion voranstellt, aber gemeinsam bleibt der Grundgedanke eines männlichen, kräftigen, alles gewöhnliche Behagen als unwürdig verschmähenden Idealismus, der nicht nur die Welt um uns, sondern auch uns selbst voll Widerspruch und Unvernunft findet, der sich aber kraft geistiger Zusammenhänge stark genug fühlt, zu einer neuen Welt vorzudringen, sich fest in ihr zu verschanzen und von ihr aus den Kampf gegen alles Feindliche voller Zuversicht aufzunehmen. Auch nach unserer Überzeugung ist dies der einzige Weg, auf dem der Mensch den ihm gestellten Problemen gewachsen werden kann, auch der Weg, den einzuschlagen der wirren Gegenwart besonders nottut.
Wenn wir damit Kant als einen großen Lebensführer und geistigen Befreier der Menschheit anerkennen und ehren, so verstehen wir das aber keineswegs dahin, daß bei der Formulierung seiner Überzeugungen schlechtweg zu verbleiben sei; diese scheint uns vielmehr eine Weiterbildung zwingend zu fordern. Kant könnte nicht solange der Aufklärungsphilosophie angehört haben, ohne daß vieles von der Aufklärung in seine im Grunde ihr widersprechende Philosophie einging. Nicht nur müssen wir über jene Scheidung einer theoretischen und praktischen Philosophie und damit über den Dualismus von Lebensbildern hinaus, es herrscht in jener Gedankenwelt auch viel Formalismus mit einer Überschätzung allgemeiner Größen, der freilich beim Denker selbst ein Hervorbrechen gehaltvolleren Lebens nicht hindert, der dieses aber nicht zur vollen Ausbildung und Wirkung gelangen läßt. Das Verlangen, diesen Formalismus zu überwinden, ruft Fragen über Fragen hervor, die in alle Hauptbegriffe reichen. So verlangen wir ein Hinaus über Kant, aber freilich auf Grund von Kant und in Ehrerbietung vor Kant. Das aber weiter zu verfolgen, gehört in andere Zusammenhänge, hier muß eine Andeutung dessen genügen, worin nach unserer Überzeugung die weltgeschichtliche Größe und die bleibende Bedeutung Kants liegt.
*
b. Das Lebensideal des deutschen Humanismus.
α. Die allgemeine Art.
Der deutsche Humanismus bildet die Höhe der geistigen Bewegung, welche die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts in Deutschland erzeugte; der Widerstand gegen die Aufklärung erreicht in ihm den vollen Sieg. Bisher hatte einerseits die Zeit des Sturmes und Dranges mehr Unmittelbarkeit des Lebens, im besondern des Gefühles, verlangt und zum guten Teil auch durchgesetzt; andererseits War das Studium des Altertums, namentlich das zeitweise in Deutschland sehr zurückgetretene Studium des klassischen Griechentums, mit frischer Kraft erwacht und hielt sein Verlangen nach Schönheit und nach einem Selbstwert des Lebens der Richtung der späteren Aufklärung auf bloße Nützlichkeit und Zweckmäßigkeit siegesbewußt entgegen. Der deutsche Humanismus, wie die Höhe der Literatur ihn zeigt, nimmt Elemente aus beiden auf und entwirft in mutigem Vordringen ein allumfassendes Lebensziel; er besitzt in aller Mannigfaltigkeit der Persönlichkeiten und der Werke einen Grundstock gemeinsamer Überzeugung, er vertritt in allem Schaffen eigentümliche Anschauungen von Leben und Welt und verflicht mit dem Dichten eng ein Denken über große Probleme.
Es erscheint aber jene literarische Bewegung zunächst als eine entschiedene Abweisung und gründliche Überwindung der Aufklärung, wenigstens der Gestalt, in welche sie auslief. Ihrem verstandesmäßigen Räsonnement widersteht ein Verlangen nach durchgreifender Belebung und unmittelbarer Bewegung des ganzen Menschen, ihrem Streben nach Nützlichkeit die Forderung eines Selbstwerts des Tuns, ihrer praktisch-moralischen Gestaltung des Lebens eine künstlerisch-universale, ihrer Spaltung von Welt und Mensch ein Streben nach innerer Einigung beider. Über die bürgerliche Welt mit ihren Zwecken und Bindungen hinaus strebt hier der Mensch an der Hand der Kunst und Phantasie zu einer neuen Wirklichkeit, einem Reiche innerer Bildung, einer Welt reiner Gestalten und lauterer Schönheit. Auch die Besonderheit der deutschen Verhältnisse trieb ein aufstrebendes Geschlecht auf diesen Weg. Denn das politische und soziale Leben mit seiner Zersplitterung, Kleinlichkeit, Dürftigkeit bot dort nichts, was hochgesinnte Geister anziehen konnte; in dem damaligen Deutschland gab es, nach dem treffenden Worte der Frau von Staël, für den nichts Rechtes zu tun, der nicht mit dem Weltall zu schaffen hatte. So floß die beste Kraft jener geistigen und literarischen Bewegung zu; sie sollte das Dasein nicht bloß mit gefälligem Schmuck umkränzen, sondern ein neues Leben eröffnen, ein Leben des Menschen als Menschen, ein Leben im Innern der Seele jenseits der Schranken und Mißstände der sichtbaren Welt. Das Menschsein mit seiner Erhebung des Daseins zur Freiheit und Schönheit wird hier zu einem hohen Ideal, zum höchsten aller Ideale; die Führerin dahin aber ist die Phantasie, die »ewig bewegliche«, das »Schoßkind« des höchsten Gottes.
»Wollt ihr hoch auf ihren Flügeln schweben,
Werft die Angst des Irdischen von euch,
Flüchtet aus dem engen, dumpfen Leben
In des Ideales Reich.«
(Schiller.)
Das Hauptmittel, eine so reine Menschlichkeit zu erreichen, wird damit die Kunst, namentlich als literarisches Schaffen, sie allein vermag sich der Schwere des Stoffes zu entwinden, die sonst den Menschen herabzieht; erst das Reich des Schönen bringt die aufstrebende Form zu reiner Gestalt und verbindet alle Mannigfaltigkeit zu einem lebensvollen Ganzen; hier erst vermag der Mensch ein innerer Zusammenhang, ein ganzer Mensch zu werden, hier erst erreichen seine Kräfte eine volle Harmonie. Mit solcher Bildung des Menschen zu einem inneren Kunstwerk steigt eine neue Wirklichkeit auf, eine Wirklichkeit, wenn auch unsichtbarer, so doch unmittelbar gegenwärtiger Art. Zugleich stuft das Dasein sich innerlich ab: deutlich scheiden sich die äußere Notwendigkeit des Lebens mit ihrer Nützlichkeit und das Reich der Schönheit mit seiner edlen Bildung, scheiden sich der weltkluge Verstand und die schöpferische Vernunft, die bloße Zivilisation als »Ordnung und Ruhe des äußeren Lebens« (F. A. Wolf) und die echte Geisteskultur, die Stätte geistigen Schaffens.
Dient derart das literarische Schaffen, wie es Gedankenarbeit und Kunst eng miteinander verschlingt, der Herausbildung und Befestigung dieser höheren Stufe, so ist ersichtlich, wie es zur Seele des Lebens Werden und die höchste Kraft und Liebe des Menschen gewinnen kann, wie nur jenes Schaffen ein Volk zu einem echten Kulturvolke macht.
Die ausgezeichnete Stellung aber, die der Mensch damit erhält, zerstört keineswegs seinen Zusammenhang mit dem großen All. Denn ein und dasselbe Leben, ein und dasselbe Grundgesetz, umfängt ihn Wie die Natur: überall ein Walten innerer Kräfte, ein Werden und Wachsen, ein Bilden und Gestalten, ein Streben zum Ganzen. Aber was die Natur unbewußt und unter dem Zwange der Notwendigkeit, im Zusammenschießen dunkler Kräfte und Triebe verrichtet, das erhebt sich beim Menschen zur Klarheit, Bewußtheit und Freiheit. »Die Natur ist darunter gebunden, die Vernunft nur mit Notwendigkeit zu vollbringen; aber das Reich des Geistes ist das Reich der Freiheit« (Hegel). Wenn erst mit dieser Wendung das Weltleben seiner selbst inne wird und seine Wahrheit voll in Besitz nimmt, so ist hier der Mensch zugleich dem Ganzen innig verbunden und doch über alle Umgebung sicher hinausgehoben. Die Schönheit aber erweist sich im Vollbringen jener Befreiung als die Zwillingsschwester der Wahrheit, sie führt uns nicht in ein fremdes Land, sondern erschließt uns den Kern der Wirklichkeit.
So vom tiefsten Grunde des ganzen Menschen her wirkend muß jene Bildung alle Verzweigung des Lebens ergreifen und jedes Gebiet mit dem Geist der Wahrheit und Schönheit durchdringen. Die Wirkung dieser Denkart auf die Religion zeigt Schleiermacher, die auf das Unterrichtswesen Pestalozzi und F. A. Wolf, jeder in eigentümlicher Färbung. Die Erziehung dient hier an erster Stelle nicht Zwecken des gesellschaftlichen Zusammenseins, sondern der Entfaltung und Vollendung des inneren Menschen, der ebenmäßigen Ausbildung aller Kräfte; der Erzieher schreibe nicht gebieterisch vor, sondern er unterstütze nur die Bewegung, die von innen her aufsteigt, er leiste ihr dienstwillig »Handbietung«, und er suche dabei tiefer zurückzugreifen und schon die elementarsten Regungen der Seele zu fördern (Pestalozzi). Auch das Unternehmen der spekulativen Philosophie, die Welt von innen her aufzuhellen, empfängt nur aus der geistigen und künstlerischen Art jener Zeit die volle Beleuchtung und Begründung.
Gegenüber solchem Aufstieg eines Reiches innerer Bildung wird leicht nebensächlich, ja gleichgültig, was zur Breite des Lebens gehört. Dahin wird oft auch das politische Leben und Treiben, vornehmlich die äußere Politik gerechnet. Der Einzelne möge sie auf sich beruhen lassen und »sich nicht in die Zwiste der Könige mischen« (Goethe).
»Für Regen und Tau und fürs Wohl der Menschengeschlechter
Laß du den Himmel, Freund, sorgen wie gestern so heut.«
(Schiller.)
Der Staat erscheint nicht selten als ein unheimliches Wesen, eine ungeheure Maschine, ein seelenloses Getriebe, das weder der inneren Bildung noch der individuellen Art ihr Recht gewährt. Aller wesentliche Fortschritt im Bestände des Lebens wird nicht vom Staat und seiner Organisation, sondern von schöpferischen Persönlichkeiten erwartet. In solchem Sinne untersucht Wilhelm von Humboldt die »Grenzen der Wirksamkeit des Staates«, bezeichnet Fichte in einer früheren Schrift als den Zweck aller Regierung »die Regierung überflüssig zu machen«, und mahnt Fr. Schlegel: »Nicht in die politische Welt verschleudere du Glauben und Liebe, aber in der göttlichen Welt der Wissenschaft und der Kunst opfere dein Innerstes in den heiligen Feuerstrom ewiger Bildung«.
Noch war kein Platz für ein freies Bürgertum, noch schlummerte die nationale Idee, noch hob die Arbeit an der Bildung des Menschen über den Gegensatz der Völker hinaus. Ein Fichte, der später so viel zur Weckung deutschen Vaterlandssinnes getan hat, erklärt unmittelbar vor dem Zusammenbruch als das »Vaterland des wahrhaft ausgebildeten Europäers – im allgemeinen Europa, insbesondere in jedem Zeitalter denjenigen Staat, der auf der Höhe der Kultur steht«, und fügt hinzu: »Und in diesem Weltbürgersinne können wir dann über die Schicksale der Staaten uns vollkommen beruhigen«. Wie kühl sich Goethe zu den Bestrebungen nach nationaler Selbständigkeit verhielt, ist bekannt; wie fremd ihm die bewegenden Kräfte des politischen Lebens waren, zeigt seine Äußerung aus dem Jahre 1812, also unmittelbar vor der doch schon kräftig vorbereiteten Erhebung, Preußen sei ein Staat, »der nicht mehr zu retten ist«. Schiller empfand bei diesen Fragen kräftiger, er hätte sich wahrscheinlich zu Fichte gestellt.
Jener Mangel sei in keiner Weise beschönigt oder verschwiegen. Aber vergessen wir nicht, daß viel Schuld daran die allgemeinen Verhältnisse trugen, daß sie die Teilnahme an politischer Arbeit weit mehr hemmten als förderten, auch daß das nationale Bewußtsein eben erst im Aufstieg begriffen war; wir tun unrecht, die heutigen Maße auf jene Zeit anzuwenden.
Ihre Richtung auf die innere Bildung machte zum Mittelpunkt alles Strebens das Individuum. Jeder individuelle Mensch trägt nach Schillers Ausdruck »der Anlage und Bestimmung nach einen reinen idealischen Menschen in sich«; um dies Ideal zu erreichen, bedarf es unermüdlicher Arbeit an uns selbst, bedarf es einer Klärung über den Punkt unserer Stärke und einer Lenkung aller Kräfte gemäß der eigentümlichen Begabung. Haben wir aber durch Selbstprüfung und Selbsterkenntnis darüber Gewißheit erlangt, so dürfen, ja sollen wir getrost dem eigenen Genius vertrauen, uns nicht dem flachen Durchschnitt der gesellschaftlichen Umgebung fügen. Das Individuum lege möglichst in jede Lebensäußerung seine besondere Art hinein. Solche Forderung erzeugt eine starke Abneigung wie gegen alle Schablone, so auch gegen alle bindende und gleichmachende Methode. Das macht F. A. Wolf mißtrauisch gegen alle pädagogische Technik und läßt ihn die Lehrer ermahnen, vornehmlich Geist zu haben und Geist zu wecken. In Wahrheit hat jene Zeit eine erstaunliche Fülle ausgeprägter Individualitäten hervorgebracht, die mit markiger Art bis in Sprache und Stil hinein ihrem Lebenskreis eine unvergleichliche Eigentümlichkeit gaben.
Die Richtung auf das Individuelle beherrscht auch die gegenseitigen Beziehungen der Menschen untereinander. Enge Freundschaften erzeugt ein Austausch geistigen Schaffens wie seelischer Bildung, ein Hauptstück ernster Lebensarbeit wird der vertraute Briefwechsel verwandter Seelen. Jenseit der Freundeskreise aber entwickelt sich die gebildete Gesellschaft als die Gemeinschaft derer, die, wenn nicht durch Entwerfen und Schaffen, so durch Empfangen und Verwerten den Aufbau eines neuen Reiches fördern; in dieser geistigen Sphäre weiß man sich einig in der Schätzung der Güter, in den Grundsätzen der Beurteilung, in der Hauptrichtung des Geschmackes. Die gebildete Gesellschaft der Renaissance lebt in ruhiger, geklärter, verinnerlichter Art wieder auf. Wie dieser Kreis Menschen von reicher Gedankenfülle, feinem Geschmack, sicherem Urteil erzeugte, das zeigt z. B. die Persönlichkeit eines W. von Humboldt.
Alles Wirken dieses Kulturkreises atmet einen starken Lebensmut und eine freudige Stimmung. Das besagt nicht einen trägen Optimismus, der die Probleme von vornherein abschleift, diese werden vielmehr tief empfunden und erfüllen das Leben mit Arbeit und Mühe. Aber insofern denkt man optimistisch, als hier die geistige Kraft den Aufgaben gewachsen gilt, und selbst der Zusammenstoß mit dem Schicksal mehr zur Anspannung des Vermögens als zur Hemmung des Strebens wirkt. Vom Menschen kann man aber so groß nicht denken, ohne ihn in Weltzusammenhängen zu begründen und sein Unternehmen von göttlicher Kraft getragen zu glauben. So steht man zur Religion nicht feindlich, aber sie ist hier mehr ein Erfassen eines unendlichen Lebens im eigenen Leben, ein Anerkennen unsichtbarer Zusammenhänge als eine Wendung zu einer neuen Welt durch schwere Erschütterung und völlige Umwandlung hindurch. Weit näher steht man dem Panentheismus, dem Bekenntnis der edelsten Geister der Renaissance, als der eigentümlich christlichen Überzeugung, die hier leicht eine bloße Zuflucht schwacher und kranker Seelen dünkt. So ist die Religion als Bildungsreligion mehr eine unsichtbare Begleiterin der geistigen Arbeit als ein eignes Lebensgebiet; die Weite und Freiheit der Gesinnung ist nicht ohne eine Gefahr der Verflüchtigung zu bloßer und matter Stimmung. Auch die Frage der Unsterblichkeit ist jene Zeit zu bejahen geneigt. Denn viel zu sehr fühlt sie sich im geistigen Schaffen aller bloßen Zeit überlegen und einer unzerstörbaren Kraft teilhaftig, um den Menschen ganz dem Naturprozeß einzufügen und den Tod als ein völliges Erlöschen des Lebens zu verstehen; aber sie findet die Ewigkeit vornehmlich innerhalb dieses Lebens und stellt aus solcher Gesinnung dem überkommenen Memento mori ein »Gedenke zu leben!« entgegen.
»So löst sich jene große Frage
Nach unserm zweiten Vaterland,
Denn das Beständige der ird'schen Tage
Verbürgt uns ewigen Bestand.«
Wie die Größe, so liegt auch die Gefahr dieser Lebensanschauung des deutschen Humanismus deutlich zutage: die Gefahr eines Bildungsaristokratismus, eines Liegenlassens der allgemeinen Verhältnisse, einer Zurückschiebung alles Dunklen und Mißfälligen, eines Mangels an Kraft und Härte. Aber solche Mängel verschuldet zum guten Teil die eigentümliche Lage der Zeit, und von dieser Lage vermag ganz wohl der Gewinn sich abzulösen, den die Arbeit jener Dichter und Denker allen Zeiten gebracht hat. Denn mit wunderbarer Kraft und Zartheit ist hier das Seelenleben in sich selbst vertieft, ist alle Weite unseres Bereiches belebt und veredelt, sind die innersten Beziehungen des Menschen zu sich selbst, seinen Genossen, der umgebenden Natur herausgebildet; so sehr ist das Grundgewebe des Lebens verfeinert, und es ist dabei eine solche Einfalt und Anmut des Ausdrucks erreicht, daß das Ganze sich den unverlierbaren Gütern der Menschheit einreiht. In den Wirren und Erschütterungen der Gegenwart will es uns freilich bedünken, als sei mehr Mark und Kraft notwendig, um den Lebenskampf zu bestehen, aber vergessen wir zugleich nicht, daß das hier gesammelte Vermögen sich auch einer starken Wirkung nach außen hin fähig zeigte, sobald der Anlaß dazu geboten wurde. Denn vornehmlich dem Kreise dieser scheinbaren Phantasten und Träumer entstammten, freilich unter scharfer Scheidung der Geister, die Männer, welche nach dem jähen Zusammenbruch den Mut, die Kraft, das Geschick gefunden haben, das Vaterland wieder aufzurichten und sein Leben in neue Bahnen zu lenken. Hat doch Napoleon selbst, der große Realist, seinen Sturz in erster Linie nicht der Staatskunst der Diplomaten oder der Übermacht der Bajonette, sondern dem Widerstand der deutschen »Ideologen« zugeschrieben. Auch hätte Deutschland nun und nimmer im 19. Jahrhundert nach der sichtbaren Welt hin so viel leisten können wie es geleistet hat, hätte ihm nicht die tiefgrabende Arbeit seiner Dichter und Denker eine unsichtbare Welt und in ihr einen unermeßlichen Schatz von Bildung und Kraft bereitet.
β. Goethe.
So gewiß Goethe mit der Bewegung des deutschen Humanismus eng zusammenhängt, er hat viel zu sehr eine besondere Art, und er überschreitet viel zu sehr den Durchschnitt jener Bewegung, um nicht eine eigne Behandlung zu fordern. Einer solchen muß zweierlei von vornherein gegenwärtig sein. Goethe gibt seine Lebensanschauung keineswegs als eine allgemeine Lehre und bindende Vorschrift, sondern als ein persönliches Bekenntnis, sie ist nichts anderes als die Ausstrahlung einer höchst eigentümlichen Art, volle Wahrheit schöpft sie nur aus der Verbindung mit dieser. Daher sei Goethes Denkart und Leistung nun und nimmer als ein normierender und bindender Typus aufgedrängt. Vergessen wir nie, daß Goethe die Frage
»Was willst du, daß von deiner Gesinnung
Man dir nach ins Ewige sende?«
beantwortet:
»Er gehörte zu keiner Innung,
Blieb Liebhaber bis ans Ende.«
Weiter erzeugt viel Schiefheit ein Verkennen des tiefen Ernstes und der starken Bewegung in Goethes Lebensarbeit. Weil er uns seine Erlebnisse erst mitteilt, nachdem die wunderbare Kunst seiner Darstellung sie geklärt und veredelt hat, scheint leicht das Ganze eine Gnadengabe des Schicksals, scheint ein Ausfluß bloßer Natur, was in Wahrheit selbsteigenes Werk und oft mühsam errungene Gegenwirkung war. Und wenn Goethe beim Lichte zu verweilen liebt, so verkennt er keineswegs tiefe Schatten im menschlichen Dasein. Die innere Bewegung seines Lebens können wir nicht verfolgen, wir halten uns hier an den Abschluß, den es auf seiner Höhe erreichte.
Den Kern des Lebens bildet hier das Verhältnis des Menschen zum All, aus dem All fließt unser Leben, in steter Wechselwirkung mit dem All entwickelt sich unser Wesen. Es waltet hier die entschiedenste Abneigung gegen ein Verharren bei kleinmenschlicher Art, gegen ein Sicheinspinnen in den bloßmenschlichen Kreis; das dünkt nicht bloß eine dürftige Einengung, sondern ein Preisgeben echter Wahrheit. Dieser Zug ins Weite führt Goethe in die Nähe Spinozas und macht ihn zu seinem Verehrer im Verlangen nach Befreiung von menschlicher Kleinheit und nach Hingebung an die Unendlichkeit. Aber alle Annäherung beläßt einen weiten Abstand. Spinoza möchte den Menschen gänzlich in das All versenken, er hält alle menschlichen Begriffe vom Grunde der Dinge fern; Goethe macht den Menschen weit selbständiger; so gewiß dieser seine Natur nur in steter Berührung mit dem All entfaltet, er setzt dabei etwas Eigenes und Inneres ein, er kann dem Zustrom der Dinge von draußen widerstehen. Der Lebensprozeß ist hier in aller Aneignung der Weit zugleich eine Selbsterhaltung gegen sie, ein Sichbehaupten gegen ihre Flut, er wird damit frischer, tätiger, freudiger, als es die starren Begriffe Spinozas gestatten. So sei Goethe nicht schlechtweg ein Spinozist genannt.
Indem bei ihm das Sichbilden und Klären des Menschen durch die Welt zu einer Mitteilung der Seele an die Welt, einer inneren Belebung und Annäherung aller Umgebung wird, entspinnt sich ein inniges Wechselverhältnis, wobei die Welt dem Menschen ihr sonst verschlossenes Wesen eröffnet, ihm ihr innerstes Leben und Weben mitteilt. So ist diese Lebensanschauung an erster Stelle künstlerischer Art, selbst die Naturforschung ist hier nur so weit eigentümlich und fruchtbar, als sie künstlerischen Antrieben folgt. Am engsten verwandt ist diese Art dem klassischen Altertum; es ist vor allem der Platonismus mit seiner Verbindung von Seele und Welt, der hier in einer neuen, sowohl durch die modernen Verhältnisse als durch Goethes Eigenart umgewandelten Gestalt wieder auflebt. Wenn Goethe aus stürmischen Erregungen sich schließlich zum Griechentum rettete, so betrat er damit nicht fremde Bahnen, sondern er suchte dadurch seine eigene Natur zu verstärken; ob das freilich voll gelungen ist, ob Fremdes und Eigenes sich gänzlich zusammengefunden haben, das ist eine andere Frage.
Bei so enger Verschlingung von Seele und Welt verkündet die Welt in großen Zügen, was das Individuum im eignen Kreise erfährt. Für Goethe nun ist die Welt kein rätselhaftes Problem, sondern eine sonnenklare Grundtatsache, die uns mit mächtigem Wirken umfängt, ohne uns dabei zu erdrücken; wir haben diese Wirklichkeit anzuerkennen und uns anzueignen, nicht aber sollten wir uns erdreisten, sie umzuwandeln und ihren Bestand aus einem jenseitigen Grunde abzuleiten. Die Wirklichkeit erscheint damit zunächst als Natur, und aller Freiheit voran steht das Schicksal. So gehe auch die Forschung nicht hinter die Dinge zurück und suche etwas jenseit der Phänomene; wohl aber dringe sie kräftig in sie, bis sie Urphänomene erreicht, die sich selbst erhellen, und beruhige sich bei ihnen. »Die Theorie an und für sich ist nichts nütze, als insofern sie uns an den Zusammenhang der Erscheinungen glauben macht.« »Man suche nichts hinter den Phänomenen, sie selbst sind die Lehre.« So eine Abweisung aller »Transzendentalphilosophie«, eine Abneigung gegen ein Grübeln und Zerlegen, ein unmittelbares Zusammenschauen der Welt, die uns umfängt.
Wie das Forschen, so hat auch das Leben hier unverrückbare Schranken. Alle Betätigung des Menschen entspringt auf einer ihm zugefallenen Natur, sein Streben kann nur im Einhalten der von jener gewiesenen Richtung gelingen, es gerät in Leere und Irrung, wenn es sich ihr entfremdet oder gar widerspricht. »Der Mensch mag sich wenden, wohin er will, er mag unternehmen, was es auch sei, stets wird er auf jenen Weg wieder zurückkehren, den ihm die Natur einmal vorgezeichnet hat.« Aber unsere Natur bedarf zu ihrer Entwicklung unseres Tuns, auch liegt sie keineswegs deutlich und vor aller Irrung geschützt zutage, sie ist erst aufzudecken und anzueignen; so wird das Schicksal zugleich zur Aufgabe und zur Tat. Wieviel Mühe es Goethe machte, sich seiner eigenen Natur zu bemächtigen, wie er erst nach vielfachem Schwanken und peinlichen Aufregungen der Hauptrichtung seines Wesens sicher wurde, das wissen wir und wissen zugleich, daß jener Glaube an eine Natur im Menschen keine träge Ruhe empfiehlt, daß er das Leben nicht leicht und bequem macht. Wohl aber setzt solche Natur der Bewegung eine feste Grenze und bewahrt sie vor stürmischer Hast, alles Suchen hält den Ausgangspunkt fest, in aller emsigen Tätigkeit bleibt dies Leben frei von heftiger Erschütterung, von schroffem Abbruch und völligem Neueinsetzen. Durch alle Veränderung geht ein Beharren, auch der Zweifel zerstört nicht jenen Urgrund der Natur. So suchte Goethe auch in den Geschicken der Menschheit einen Zusammenhang zu erkennen und einen Zusammenhang zu fördern; allem Umsturz abhold, möchte er alles Tun einem vorhandenen Stande verketten und diesen ruhig weiterbilden. Daher war er allem Radikalismus abhold und mußte nach seiner Natur das sein.
Solcher persönlichen Gesinnung entspricht Goethes dichterische Art. Seine Helden verändern sich im Zusammenstoß mit den Dingen nicht wesentlich, sondern durch allen Wandel der Verhältnisse bewahren sie ihre Grundnatur; dieser Wandel gibt ihnen mehr Gelegenheit, jene immer neu zu entfalten und sie kräftiger herauszubilden, als sie durch Erschließung neuer Tiefen innerlich umzuwandeln. Die entscheidende Rettung pflegt durch eine Rückkehr zu ihrem echten, durch Versuchung und Irrung nur verdunkelten Wesen zu erfolgen. Bei solchem Mangel einer inneren Geschichte sind Goethes Helden nicht eigentlich dramatische Charaktere, wohl aber mit wunderbarer Lebensfülle und unvergleichlicher Individualität ausgestattete Naturen; auch hängt es wohl damit zusammen, daß er stärker war, herrliche Frauengestalten als kraftvolle Männer zu zeichnen.
Wie aber Goethe den Einzelnen aus dem Ganzen des Alls schöpfen läßt, so muß dessen Beschaffenheit vornehmlich den näheren Charakter des menschlichen Lebens bestimmen. Nun ist die .große Natur kein zerstückeltes Nebeneinander, sondern ein inneres Ganzes; als ein unsichtbarer Zusammenhang umfängt und beseelt sie alle Mannigfaltigkeit der sichtbaren Welt. Das führt zu einer allesdurchwaltenden Gottheit; Goethe hat dabei verschiedene Stufen von einem naturalistisch gefärbten Pantheismus bis zur Annäherung an den christlichen Theismus durchlaufen, darin aber ist er sich gleich geblieben, das Göttliche nicht sowohl im Gegensatz als in enger Verbindung mit der Welt zu fassen, die Natur in Gott, Gott in der Natur zu sehen. Gott wirkt nicht von draußen zu den Dingen, sondern sie umfassend wirkt er aus ihrem eigenen Wesen heraus, das sich selbst erst mit der Aufnahme in das Leben des Alls vollendet.
Solche Begründung im Leben des Alls gibt dem Menschen sowohl eine freudige Gewißheit und sichere Ruhe als einen innigen Zusammenhang mit allen anderen Wesen. Es rechtfertigt und bestärkt sich damit Goethes warme Liebe zu aller Fülle des Lebendigen, namentlich zum Menschenwesen; denn die innere Gegenwart göttlicher Kraft läßt überall im Kern etwas Wertvolles und Unverlierbares finden, das aller Not und aller Schuld des Lebens überlegen bleibt. »Gott begegnet sich immer selbst; Gott im Menschen sich selbst wieder im Menschen. Daher keiner Ursache hat, sich gegen die Größten gering zu achten.« Solche Schätzung des Menschenwesens läßt ihn aber keineswegs den Menschen wie er leibt und lebt überschätzen. Ihm gegenüber hat Goethe oft ein recht scharfes Urteil, namentlich die Gefahr von Massenwirkungen ist ihm vollauf gegenwärtig. Aber das erschüttert nicht seinen Glauben an ein Walten von Göttlichem im Menschen; das göttliche Alleben an jeder Stelle zu sehen, anzuerkennen, freudig zu verehren, wo und wie es sich offenbare, in der Natur wie im Menschenwesen, darin ist Goethe besonders stark, während er formulierten und bindenden Bekenntnissen widerstrebt. Ihm wird alles Sichtbare ein Ausdruck, ein Abglanz, eine Offenbarung eines unsichtbaren Wesens, das sich »gleichsam hinter der Natur verbirgt, um sich uns faßlich zu machen.«
»So im Kleinen ewig wie im Großen
Wirkt Natur, wirkt Menschengeist, und beide
Sind ein Abglanz jenes Urlichts droben,
Das unsichtbar alle Welt erleuchtet.«
Das ist ein Hauptzug der hier wirksamen Überzeugung, daß jenes Alleben nicht die Mannigfaltigkeit verschlingt und die Unterschiede auslöscht, sondern daß es die Fülle der Wirklichkeit erst recht zur Entfaltung bringt, daß es namentlich die großen Gegensätze von Welt und Leben nicht aufhebt, sondern sie in sich aufnimmt und in fruchtbare Wechselwirkung setzt. In der Behandlung jener Gegensätze hat Goethe seine Eigentümlichkeit besonders deutlich erwiesen. Indem er die Welt in eine Reihe von Gegensätzen zerlegt, überwältigt und unterdrückt ihm nicht das eine Glied das andere, sondern die verschiedenen Seiten treten weit genug auseinander, um ihr eigentümliches Vermögen voll zu entwickeln, aber sie bleiben innerhalb eines Ganzen des Lebens sich nahe genug, um fruchtbar zueinander zu wirken. Diese Verwandlung des Daseins in ein Gewebe von Gegensätzen, deren Glieder sich deutlich scheiden und. kräftig gegeneinander behaupten, zugleich aber unablässig zueinander streben und einander beleben, gibt dem Leben ein wunderbares Gleichgewicht, durchgeistigt, klärt, veredelt das Dasein, vollzieht eine künstlerische Einigung des Lebens, ja der ganzen Wirklichkeit.
Das Einzelwesen steht im Ganzen und schöpft aus dem Ganzen, aber jeder Punkt gestaltet das Leben in unvergleichlicher Weise und erhält damit seine eigene Wahrheit, jeder hat aus der vorhandenen Welt sich seine eigene Welt erst zu bilden. Aber da alle Mannigfaltigkeit innerhalb des Gesamtlebens bleibt, so fallen die einzelnen Kreise nicht auseinander, »so kann jeder seine eigene Wahrheit haben, und es ist doch immer dieselbe«. In der Entfaltung einer besonderen Art ist das Einzelwesen zugleich ein Ausdruck und Gleichnis des Allgemeinsten; im Streben zu uns selbst erfassen wir zugleich die Unendlichkeit.
»Du sehnst dich, weit hinaus zu wandern,
Bereitest dich zu raschem Flug.
Dir selbst sei treu und treu den andern;
Dann ist die Enge weit genug.«
Eine Ausgleichung finden weiter Freiheit und Notwendigkeit. Wir alle unterstehen ewigen ehernen Gesetzen, die keine Auflehnung dulden; so gehen feste Typen auch durch das Bilden der Natur und halten das Leben zusammen. Aber alle Strenge der Gesetze läßt freien Raum wie für individuelle Bildung, so auch für eigenes Handeln; »unser Leben ist, wie das Ganze, in dem wir enthalten sind, auf eine unbegreifliche Weise aus Freiheit und Notwendigkeit zusammengesetzt«; Macht und Schranke, Willkür und Gesetz, Freiheit und Maß suchen und finden in unserem Leben fortwährend eine Ausgleichung.
Zeit und Ewigkeit bilden hier keinen starren Gegensatz, sondern das Ewige, Unvergängliche, das alles Leben trägt, ist in der Zeit gegenwärtig, in jedem Augenblick gemäß seiner Unvergleichlichkeit in eigentümlicher Weise; so sei es in der unmittelbaren Gegenwart erfaßt und dadurch der Augenblick zum Vertreter der Ewigkeit erhoben. Nicht aber strebe man hastig weiter und weiter; das menschliche Dasein verliert allen Sinn und Wert, wenn der Tag den Tag erzeugt, der Augenblick den Augenblick verschlingt. So in unermüdlicher Tätigkeit zugleich eine sichere Ruhe, bei allem offenen Sinn für die Forderungen der lebendigen Gegenwart die Überzeugung, dem Großen aller Zeiten innerlich nahe zu sein.
»Die Wahrheit war schon längst gefunden,
Hat edle Geisterschaft verbunden;
Das alte Wahre faß' es an!«
Kein Gegensatz ist für Goethe wichtiger und keine Ausgleichung fruchtbarer als die zwischen Innerem und Äußerem. Gegenüber dem Zuge jener Zeit, vornehmlich von innen her zu bauen, gewährt Goethe dem Äußeren weit mehr Selbständigkeit und Wert; nur die Berührung von Innerem und Äußerem scheint ihm fruchtbares Leben und Schaffen hervorzubringen. Inneres und Äußeres sind aufeinander angewiesen: das Innere findet und gestaltet sich erst am Äußeren, das Äußere aber erschließt sein Wesen nur in der seelischen Aneignung; erst die gegenseitige Beziehung und Durchdringung erzeugt lebensvolle Gebilde. Solche Erfahrung des künstlerischen Schaffens wurde Goethe zu einer persönlichen Notwendigkeit, jenes Herausbilden des Inneren und Beseelen des Äußeren wurde ihm zur schöpferischen Werkstatt des Lebens, ja zur Erlösung aus allen Nöten. Denn was immer ihn erfreute oder quälte, das mußte er in ein Bild, ein Gedicht verwandeln; solche Ablösung und Verkörperung brachte ihm eine seelische Beruhigung, ja endgültige Befriedigung. Mag dies Bekennen des eigenen Seelenstandes im künstlerischen Schaffen nicht schon eine volle moralische Entlastung bedeuten, es hat wesentlich dazu beigetragen, dem Werke Goethes seine großartige Wahrhaftigkeit und seine wunderbare Einfalt zu geben. Mit gutem Recht durfte er von sich sagen:
»Teilen kann ich nicht das Leben,
Nicht das Innen noch das Außen,
Allen muß das Ganze geben,
Um mit euch und mir zu hausen.
Immer hab' ich nur geschrieben,
Wie ich fühle, wie ich's meine,
Und so spalt ich mich, ihr Lieben,
Und bin immerfort der Eine.«
Eng verbunden damit ist die Gegenständlichkeit des Denkens und Schaffens, die wir mehr als irgend etwas anderes an Goethe bewundern. Diese Gegenständlichkeit bedeutet kein bloßes Abbilden einer draußen befindlichen Sache, sondern der Vorwurf wird auf den Boden der Seele versetzt, gewinnt hier ein inneres Leben und vermag bei solcher Beseelung sein eigenes Wesen auszusprechen und damit zum Menschen zu wirken. So wird den Dingen nicht eine fremde Stimmung aufgedrängt, sondern ihre eigene Stimmung abgelauscht oder abgerungen, der Seele des Dichters enthüllt sich dabei ihre innerste Natur. Wie ein Zauberer bringt dieser im Durchwandern der Natur durch seine Berührung die sonst stummen Wesen zum Sprechen, ihm erschließt sich aller Reichtum der Welt, er führt alle Mannigfaltigkeit ihrer eigenen Tiefe zu und sieht mit sicherem Blick das Lebendige, Wesenhafte, Wirksame aus der Fülle der Dinge heraus. Solche innere Belebung der Wirklichkeit beläßt keine Kluft zwischen dem Menschen und der Welt, auch keinen Spalt zwischen Erscheinung und Sein, sondern ihr erschließt sich die letzte Tiefe in jener Verbindung von Geist und Natur, »die von der ewigen Harmonie des Daseins die seligste Versicherung gibt«. So begründet sich fest die Überzeugung des Dichters:
»Natur hat weder Kern noch Schale,
Alles ist sie zu einem Male«,
und
»Wir denken, Ort für Ort
Sind wir im Innern«.
Eine solche Überzeugung vermag wohl Kunstwahrheit und Naturwirklichkeit auseinanderzuhalten, aber die neue Wirklichkeit, welche die Kunst erzeugt, steht den Dingen nicht fremd gegenüber, sondern sie bildet ihr eigenstes Wesen. Indem so verstanden die Kunst überall aus der Verhüllung oder Entstellung die reine Gestalt, den echten Kern herausschält, vermag sie das ganze Leben zu durchdringen und seiner eigenen Wahrheit zuzuführen.
Wer so wie Goethe die Kunst als die Seele des Lebens schätzt, der kann sie nicht der Moral entgegenstellen, nicht eine ästhetische Kultur und Lebensführung auf Kosten der ethischen empfehlen. Wohl muß die Kunst selbständig sein und die Kultur durch Kunst ihre eigenen Wege gehen, die dichterische Freiheit werde nicht durch »konventionelle Sittlichkeiten«, durch »Pedanterie und Dünkel« eingeschränkt. Aber wie alle schaffenden Geister kann auch Goethe von der künstlerischen Arbeit nicht groß denken und sie zur Seele des Lebens machen, ohne in ihr zugleich ein ethisches Werk zu sehen und ethische wie künstlerische Bildung aufeinander anzuweisen. Wenn das Kunstwerk stets der Wahrheit und lediglich der Wahrheit die Ehre zu geben und alle bösen Dämonen, wie Eigendünkel, Scheinwesen, Parteisucht, von sich fernzuhalten hat, so gewinnt das künstlerische Schaffen unmittelbar eine ethische Art. Was aber von den einzelnen Werken, das gilt auch vom Ganzen des Lebens. Indem es die eigene Natur voll und kräftig herauszubilden, die geistige Eigenart rein zu entfalten und richtig zu nutzen hat, wird es selbst das größte Kunstwerk. Aber jene Bildung verlangt so viel Selbsterkenntnis, Selbstbegrenzung, Selbstüberwindung, so viel Entsagung und so viel Unterordnung, daß zugleich eine hohe moralische Aufgabe darin ersichtlich wird.
Schließlich ist es auch das künstlerische Schaffen, das der Überzeugung von der Zugehörigkeit zu einem göttlichen Alleben eine persönliche Wahrheit und überwältigende Eindringlichkeit verleiht, Das Kunstwerk bedarf einer religiösen Gesinnung, sofern es ein reines, unschuldiges Betrachten, ja eine Verehrung des Gegenstands fordert. »Wer nicht mit Erstaunen und Bewunderung anfangen will, der findet nicht den Zugang in das innere Heiligtum.« Der Künstler aber verdankt alles Entdecken, Verbinden, Gelingen nicht eignem Grübeln, sondern einer überlegenen Macht; in den Scheiterhaufen, den mühsame Arbeit aufschichtet, muß der Blitz hineinfahren, damit hell die Flamme auflodere. So will alles echte Gelingen gegeben sein, wie ein Geschenk der Gnade sei es freudig empfangen und dankbar verehrt. In Wahrheit durchdringt die Stimmung freudiger Dankbarkeit Goethes Leben und Wirken. Hand in Hand mit ihr geht aber ein festes Vertrauen auf eine Vernunft im Grunde der Dinge, der Glaube als ein starkes Gefühl von Sicherheit für die Gegenwart und Zukunft aus dem Zutrauen auf ein übergroßes, übermächtiges und unerforschliches Wesen; solcher Quelle entstammt auch das, »was niemand mit auf die Welt bringt, und worauf doch alles ankommt, damit der Mensch nach allen Seiten zu ein Mensch sei«: die Ehrfurcht. Sein Vermögen, überall das Reinmenschliche und Ewigwahre aus den Dingen herauszusehen, bekundet Goethe namentlich in seiner Behandlung der heiligen Urkunden der geschichtlichen Religionen, im besonderen der Bibel. Daß in Ägypten ein König aufkam, der nichts mehr von Joseph wußte, das zeigt ihm die Vergänglichkeit alles menschlichen Ruhmes; daß Saul, der Sohn Kis, auszog, um seines Vaters Eselinnen zu suchen, und ein Königreich fand, das vergegenwärtigt ihm die Erfahrung, daß der Mensch oft nicht erreicht, was er erstrebt, aber dafür etwas anderes erreicht, das weit mehr wert ist als das Erstrebte; die Erzählung aber von dem Wandeln Jesu auf dem Wasser, während die Jünger versinken, wird ihm ein Zeugnis für die Notwendigkeit festesten Glaubens für alle großen Werke.
Mit der Überzeugung von dem Gegründetsein alles echten Strebens und Schaffens in einem göttlichen Leben kehrt Goethes Lebensanschauung zu ihrem Ausgang zurück, bildete doch die Bindung des Einzelnen an das All die Voraussetzung des Ganzen. Aber wie reich hat sich inzwischen das Leben gestaltet, und wieviel Tiefe die Welt gewonnen! Ohne einen schroffen Bruch ist das ganze Dasein geläutert; veredelt, seinem echten Kern zugeführt. Das vornehmlich ist die Größe der goetheschen Art, mit offenstem und freiestem Sinn alle Mannigfaltigkeit des Seins und Geschehens an sich zu ziehen, alles Scheinhafte, Konventionelle, Parteimäßige abzustreifen, das Echte, Lebensfrische, Reinmenschliche aber zu vollster Wirkung zu bringen. So erfolgt eine durchgängige Klärung und Veredlung des Lebens, eine Wendung vom Schein zum Sein, eine Erhöhung der Wirklichkeit von innen heraus; uraltes Besitztum der Menschheit wirkt und entzückt wie neu, indem alle unechte Zutat abfällt und lauterem Wesen Platz macht. Mit solcher Selbstvertiefung gewinnt das Leben zugleich eine innere Freiheit, ein Wirken von innen heraus; in dieser inneren Freiheit vornehmlich sah Goethe selbst den Kern seines Schaffens. Wer möchte ihm widersprechen, wenn er meint: »Wer meine Schriften und mein Wesen überhaupt verstehen gelernt, wird doch bekennen müssen, daß er eine gewisse innere Freiheit gewonnen.« – Die Gegenwart zwingt uns freilich, hier neben aller Größe auch eine Grenze zu sehen; zu viel Unvernunft hat sich ihr gezeigt, als daß jenes künstlerische, freudigruhige Bild des Lebens sie vollauf befriedigen könnte. Aber daß ein solches Bild auch auf deutschem Boden und aus deutschem Geiste entstand, das wollen wir als eine wesentliche Bereicherung unseres geistigen Besitzes in hohen Ehren halten.
γ. Schiller.
Die Lebensanschauung Schillers hat nicht die Weite, die Selbständigkeit, den Reichtum der Erfahrung wie die Goethes, aber sie ist groß in ihrer energischen Konzentration, sie vertritt in bedeutender Umgebung eine eigentümliche Gedankenrichtung mit bewunderungswürdiger Wärme und Kraft. In dem literarischen Kreise jener Zeit ist Schiller vor allem der Mann des Handelns und der Tat; macht ihn solche, seiner ganzen Arbeit eingeprägte Art zum größten Dramatiker der Deutschen, und verleiht sie auch seiner wissenschaftlichen Darstellung ein straffes Gefüge, eine scharfe Scheidung der Gegensätze, eine dramatische Bewegung, so richtet sie sein philosophisches Denken vornehmlich auf ethische Probleme und macht ihn zu einem begeisterten Anhänger der kantischen Freiheitslehre; ganz und gar teilt er ihre Erhebung des Menschen über allen Mechanismus der bloßen Natur und ihre Erweckung eines stolzen Selbstbewußtseins der Menschheit als eines Gliedes einer unsichtbaren Welt. Indem die kantischen Gedanken in der feurigen Seele des Dichters die schulmäßige Form abstreifen und sich der unmittelbaren Empfindung nähern, erweisen sie voll ihre Kraft der Befreiung und der Erhöhung. Wohl mindert sich die Strenge Kants, es kommt mehr Freude in die Stimmung und mehr Lust in das Leben, aber der Ernst des Ganzen sinkt keineswegs, und fern bleibt alles leichte Getändel, dem selbst ein Goethe bisweilen verfiel.
Mit solchem Ernst und solcher ethischen Grundüberzeugung verbindet sich aber das eifrigste Verlangen nach einer künstlerischen Gestaltung des Lebens, nach engster Verbindung des Guten mit dem Schönen. Die Formeln, in denen das versucht ward, sind angreifbar, und es standen in verschiedenen Phasen des Lebens die Schalen des Guten und des Schönen nicht immer gleich zueinander, immer aber wurde beides in großem Sinne gefaßt, und immer sollte ihre Verbindung das Ganze des Lebens fördern. Das Sittlichgute sinkt nie zu einer bloßen Summe einzelner Gebote herab, sondern es bedeutet immer eine neue Art des Lebens, die Versetzung in eine neue Welt; es ist nie eine bloße Verneinung, es ist vor allem eine kräftige und freudige Bejahung; das Schöne aber, als die »Freiheit in der Erscheinung«, liefert keineswegs bloß einen gelegentlichen Genuß, sondern es vollzieht eine durchgängige Veredlung des Lebens, es wird ein unentbehrlicher Bestandteil aller echten Kultur. Je mehr die Geschichte sonst das ethische und das künstlerische Streben einander verfeindet zu zeigen pflegt, desto mehr ist es als etwas Besonderes und Großes zu schätzen, daß Schiller beides nicht nur versöhnen, sondern als einander unentbehrlich, als zusammengehörig aufweisen möchte. »Die hohe Reinheit des sittlichen Standpunktes bei der vollsten Anerkennung des künstlerischen Lebens in seiner Selbständigkeit ist das Eigenartige, ja Einzigartige der Schillerschen Denkweise« (Kühnemann).
So über die Gegensätze sich erheben hätte Schiller nicht vermocht ohne hohe Begriffe von der Menschheit und dem Menschenwesen, ohne die Idee einer uns im Ganzen unseres Wesens erhöhenden Geisteskultur. Der Glaube jener Zeit an die Größe und Würde des Menschen hat nirgends einen edleren Ausdruck gefunden als hier; der Gedanke der Menschheit erwärmt alle Begriffe und hält alle Mannigfaltigkeit des Strebens zusammen. Aber wie Kant so ist auch Schiller aufs Weiteste davon entfernt, den Menschen, wie er leibt und lebt, zu überschätzen, den Erfahrungsstand zu idealisieren. Vielmehr ist es die Vernunftidee, die freilich mit lebendiger Kraft in jedem Einzelnen gegenwärtige Vernunftidee, welche dem Menschen allererst einen Wert verleiht; eine derartige Tatsache ist zugleich eine unendliche Aufgabe, indem der Mensch sein eigenes Wesen erst zu entdecken und voll zu erringen hat. Ebenso fern liegt es Schiller, die gegebnen menschlichen Verhältnisse als gut oder doch annehmbar darzustellen, seine Schilderung der Unvernunft in Natur und Geschichte steigert sich wohl gar bis zu einem herben Realismus, der eine Wendung zu trübem Pessimismus nahelegt. Wenn Schiller davor bewahrt bleibt und eine Freudigkeit gegenüber allem Trüben behauptet, so tut er das nicht in charakterloser Verständigung mit der Welt, sondern in einer Erhebung über die Welt, im Vordringen in ein unsichtbares Reich der Vernunft, das dem Geisteswesen eine Unabhängigkeit und Weltüberlegenheit gewährt, das Güter erzeugt, denen gegenüber die der nächsten Welt als nichtig erscheinen. Solche Behauptung freudigen Glaubens bei voller Anerkennung der Unvernunft der nächsten Welt hat vornehmlich, der Denkweise und Gedankenwelt Schillers eine gewaltige Kraft sowohl der Bewegung und Aufrüttelung als der Stählung und Ermutigung verliehen; es wirkt aus seinem Denken und Sein eine heldenhafte Gesinnung, eine unversiegliche Jugendlichkeit, ein hinreißender Antrieb zu eigenem Kampf und Sieg. Was dieses Leben lehrt »ist der Zug der Größe, der leidenschaftliche Trieb zur Höhe der geistigsittlichen Entwicklung, jenes Ausharren im Kampfe um das Ideal – mit einem kurzen deutschen Worte die Männlichkeit« (Biese). Dankbar bekannte Goethe, Schiller habe ihn von der allzu strengen Betrachtung der äußeren Dinge und ihrer Verhältnisse auf sich selbst zurückgeführt und ihm eine zweite Jugend verschafft; in ähnlichem Sinne hat Schiller befreiend, erhebend, verjüngend auf das Ganze des deutschen Volkes gewirkt, und kann er trotz alles Wandels der Zeiten weiterwirken.
δ. Die Romantik.
Sowenig wir die einzelnen Gestalten der Romantik vorführen können, jene hat dem Ganzen des Lebens und auch der Lebensanschauung zu viel Anregung gebracht, um hier ganz fehlen zu dürfen; sehen wir also, so gut es geht, aus der Fülle der verschiedenen Persönlichkeiten und dem Wandel geschichtlicher Phasen gemeinsame Züge herauszuheben.
In der deutschen Romantik fließt eine bleibende Bewegung des Menschenlebens mit der besonderen Lage der Zeit zusammen. Durch die großen Völkergruppen und durch die Jahrtausende geht ein Gegensatz, der sich kurz als der des Klassischen und des Romantischen bezeichnen läßt; dort ein Streben nach geschlossener Gestalt, nach deutlichen Begriffen und klarer Gliederung, hier ein Ergriffensein von der Unendlichkeit des Lebens und ein Ausbilden freischwebender, die Seele bei sich selbst festhaltender Stimmung; dort die Gefahr einer starren Festlegung, hier die einer vagen Verflüchtigung. Das Überwiegen der einen oder der anderen Art scheidet den Orient und den Okzident; in dieser Hinsicht ist es bemerkenswert, daß die deutsche Romantik die neu aufsteigende Kunde Indiens mit besonderer Wärme ergriffen und gefördert hat. Diese Romantik fand aber ihre besondere Art namentlich im Kampf mit der Aufklärung. Dem verstandesmäßigen Räsonnement dieser widersprach sie mit der Wendung zum Gefühl und zur Anschauung, ihrem Voranstellen allgemeiner Begriffe mit der Betonung der Individualität, ihrer Richtung auf eine gemeinsame Vernunft und möglichste Gleichsetzung alles Menschenwesens mit der scharfen Abhebung des geistig belebten Individuums vom großen Haufen und der Neigung, dem menschlichen Durchschnittsstande ein Reich »höherer« Bildung entgegenzusetzen, wie überhaupt der Ausdruck »höher« eine ihrer Lieblingswendungen ist, ihrer Scheidung von Mensch und Natur, von Geistigem und Sinnlichem mit dem Streben, beide eng zu verbinden, namentlich aber ihrer Voranstellung der Moral mit der Erhebung der Kunst zur Seele des Lebens; durchgängig eine Wendung zum Unmittelbaren, Individuellen, Ausgeprägten, eine Verstärkung der Subjektivität. Dies Überwiegen der Subjektivität ist es auch, was die Romantik, im besonderen ihre erste Phase, vom deutschen Humanismus scheidet, der namentlich in seinem Höhepunkt bei Goethe die engste Verbindung mit der eignen Natur der Dinge sucht; war dort die Kunst die Seele eines weiteren Lebens, so erscheint sie hier als sein einzig wertvoller Bestand, eine ästhetische Lebensführung und Lebensanschauung entwickelt sich hier zu schroffer Ausschließlichkeit, das Ideal der moralischen Persönlichkeit weicht dem der genialen Individualität, der ein Gesetz allein ihre Eigenart gibt.
Diese künstlerische Kultur hat zunächst auf dem Gebiet des literarischen Schaffens Hervorragendes geleistet, so gewiß dies Bedeutende sich oft mit Problematischem verquickt.
Zunächst haben die Romantiker erst recht den Bruch mit der Aufklärung durchgesetzt, sie haben sie mit überlegenem Geist und Witz bekämpft und den Zeitgenossen den Geschmack an ihr ausgetrieben, sie haben einen Begriff der »Bildung« als der künstlerischen Gestaltung des Lebens aufgebracht, der in dieser Weise in Deutschland neu war, wie denn auch von ihnen vornehmlich der Ausdruck Bildung vom Körperlichen aufs Geistige übertragen ward. Zugleich haben sie die literarische Betrachtung und Kritik in Deutschland zu einer ungekannten Höhe und Macht erhoben.
Ihre eigne Arbeit war vornehmlich auf eine Verstärkung des Subjekts gerichtet, dieses suchten sie aller Bindung zu entwinden und rein bei sich selbst zu fassen, sie haben in solchem Bestreben zuerst den Begriff der Stimmung als eines an keinen besonderen Gegenstand gebundenen Gefühls festgelegt. Alles Gegenständliche der Arbeit wird ihnen ein bloßes Mittel und Werkzeug zur Entfaltung des Subjekts, dieses sieht sich selbst in die Dinge hinein und erfreut sich mehr der daraus erwachsenden Spiegelung des eignen Wesens als ihres sachlichen Befundes; indem man sich stets mit dem eignen Zustand befaßt, hinter das erste Erlebnis zurücktritt und es nochmals erleben, die Empfindung wieder empfinden, den Genuß nochmals genießen möchte, entsteht die Gefahr einer Verkünstelung und Verflüchtigung, aber es hat das Walten des souveränen Subjekts mit seiner schrankenlosen Phantasie auch viel wertvolle Frucht erzeugt. Die Phantasie entflieht dem einförmigen Alltagsleben und strebt in weiteste Ferne, sie zaubert in unerschöpflicher Fülle neue Stoffe und Formen hervor, das Wunderbare wird ihr alltäglich, das Alltägliche aber erschließt einer neuen Beleuchtung überraschende Züge. So findet Novalis das Romantische darin, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein zu geben. Es entsteht hier eine Märchenpoesie, eine Lust am Geheimnisvollen und Abenteuerlichen, an dämmerndem Halbdunkel und traumhaftem Leben. In unser Dasein scheint eine höhere Welt mit wundersamen Wirkungen hineinzuragen, die sich dem nüchternen Begriff streng verschließt, sich vielmehr nur ahnen und andeuten läßt; unser Leben und Sein erhält damit einen Charakter symbolischer Art, die Dinge sind im Grunde weit mehr und weit besseres als ihr unmittelbarer Befund uns zeigt. Zugleich vollzieht sich eine völlige Wandlung in der Stellung und Schätzung des Unbewußten: galt es der Aufklärung als etwas Niederes und möglichst Auszutreibendes, so wird es jetzt zum Urquell des Lebens, aus dem dies immerfort schöpfen muß, um gesund und frisch zu bleiben; wir sollen nicht nach Absichten handeln, sondern uns »ohne alle Absicht auf dem inneren Strom ewig fließender Bilder und Gefühle frei bewegen« (Fr. Schlegel). Solche Wandlung des Innern eröffnet neue Seiten auch an der Welt, die uns umgibt, die Romantiker haben den Sinn für die Poesie des Waldes und der Mondnacht, der »mondbeglänzten Zaubernacht«, später auch für geschichtliche, namentlich vaterländische Erinnerungen geweckt und die Natur durch die Geschichte verklärt. Auch haben sie den geschichtlichen Horizont erweitert, indem sie die Literatur und das Geistesleben mancher bis dahin uns innerlich fremder Völker unserer Seele näher rückten.
Der Erweiterung des Stoffes entspricht eine Bereicherung der Darstellungsmittel. Indem sich die Romantiker vornehmlich bemühten, das Fürsichsein der Seele mit seiner frischwebenden Stimmung herauszubilden, gewinnt ihnen der Ausdruck an sinnlicher Fülle, an Weichheit und Klang, an Innigkeit und Resonanz; die Bildsamkeit und Geschmeidigkeit der deutschen Sprache kommt hier zu vollster Entwicklung, der Ausdruck gewinnt in Laut und Rhythmus mit Rauschen und Klingen eine weiche Musik, auch ein leuchtendes Farbenkolorit; so gelingt es, leiseste Seelenvorgänge, namentlich schwebende, wogende, schwankende Stimmungen mit wunderbarer Feinheit zu schildern, auch das Flüchtigste festzuhalten, dabei den Gebilden der Kunst einen zarten Duft zu verleihen. Das Vermögen, sich verständnisvoll anzuschmiegen und sich Fremdem seelisch zu verbinden, hat die Romantiker auch zu Virtuosen der Übersetzungskunst gemacht. Dagegen gebricht es ihnen an der Kraft zu größerem Aufbau und straffer Gliederung, allem Systematischen abhold, finden sie ihre Stärke vielmehr im scheinbar leicht dahingeworfenen Aphorismus. So hat ihr Schaffen auf literarischem Gebiet bei aller Fülle von Anregung keine Werke ersten Ranges erzeugt. Aber die Bereicherung und Verfeinerung des Ausdrucks, die wir ihnen verdanken, blieb aller weiteren Bewegung der deutschen Literatur erhalten, und die Vollendung ihres Stils kann noch heute als Muster dienen. Seinen Gipfel aber hat das romantische Schaffen in der Musik erreicht, hier ist seine Größe unbestreitbar.
Auch dem allgemeinen Leben brachte diese Bewegung manche Förderung. Vor allem hat ihr Wirken und Schaffen das künstlerische Element im deutschen Leben verstärkt, was um so schätzbarer ist, als jenes uns nicht von vornherein als eine Naturgabe zufiel, sondern fortwährender geistiger Arbeit bedarf. Zugleich ist von hier aus das Recht der Individualität gegenüber herkömmlichen Schranken zu vollster Anerkennung gelangt, und es sind damit die Verhältnisse von Mensch zu Mensch, im besonderen das Verhältnis der Geschlechter, unverkennbar veredelt. Beides zusammen ergibt eine freiere und feinere Art des gesellschaftlichen Verkehrs, in dem die Frauen eine hervorragende Rolle spielen, es führt zu einem energischen Kampf gegen das prosaische »Philistertum« und gegen die »Beschränktheit häuslicher Frauen«. Mit dem allen wird dem Leben gegenüber lastender Schwere träger Gewohnheit mehr Fluß und mehr Leichtigkeit gegeben. Auch das verdient Erwähnung, daß hier die sinnliche Seite des Lebens nicht mit der Geringschätzung behandelt wird, welche die Aufklärung gern zur Schau trug, Geistiges und Sinnliches rücken einander näher und treten in fruchtbare Wechselwirkung; daß dabei freilich nicht selten das Sinnliche sein Maß überschreitet und das Geistige mit sich fortreißt, das ist nicht zu verkennen.
Überhaupt bringt die Wirkung dieser Bewegung auf das Ganze des Lebens manches Unerquickliche mit sich. Die Hochschätzung der Kunst ergibt leicht eine Geringachtung der Moral, die man sich oft nicht anders als in verzerrter Weise, als eine herdenhafte Unterordnung unter eine Schablone, vorstellen kann. Ferner wirkt die einseitige Schätzung der Individualität, der »unendlich freien Subjektivität«, leicht zur Geringachtung aller Ordnung und Sitte, auch zu eitler Selbstbespiegelung und Dünkelhaftigkeit des sich als »höher« geberdenden Individuums. Es fehlt schließlich der unermeßlichen Bewegung ein geistiger Grundgehalt, aus dem das Leben schöpfen, und durch den es eine individueller Willkür und Laune überlegene Richtung gewinnen könnte. Freilich weichen bei all diesen Punkten die Individuen weit voneinander ab, ein Gesamturteil kann leicht gegen den Einzelnen ungerecht machen.
Auch das sei nicht vergessen, daß die Romantik bei sich selbst eine Geschichte besitzt, daß sie sich von einer kosmopolitischen und kunstphilosophischen Art mehr und mehr zu einer nationalen und geschichtlichen entwickelt hat; ja sie nahm an dem Aufschwung des nationalen Lebens bei uns wie an der Ausbildung einer geschichtlichen Weltanschauung in hervorragender Weise teil. Indem bei solcher Wendung die Stimmung an dem Befund der Dinge ein festes Gegengewicht erhält und sich ihm anschmiegt, gewinnt das Leben mehr Ruhe und Innigkeit, und kann die Bewegung nach den verschiedenen Richtungen zur Beseelung und Erhöhung wirken. Vornehmlich ist die Geschichte von hier aus weit mehr geworden, die Geschichte in all ihrer Verzweigung: Heimat und Volkstum, Sitte und Recht, Sprache, Kunst und Religion. Dabei erscheint durchgängig die Bewegung als von eignem, aller menschlichen Reflexion und Absicht überlegenen Leben getragen und gelenkt; die Zusammenhänge sind nicht menschliches Werk, sondern sie werden und wachsen aus einer eignen Natur, nach Art eines lebendigen Organismus umfängt und beherrscht ein Bildungsgesetz des Ganzen alle Mannigfaltigkeit; so soll der Mensch nicht das Gewordene nach Art der Aufklärung meistern und den Stand der Dinge nach einer abstrakten Vernunft bemessen und leicht auch bemäkeln, sondern er schließe sich jenem hingebungsvoll an und gestalte ihm gemäß das eigne Beginnen. So eine »organische« Fassung von Recht und Staat, so die moderne Nationalitätsidee mit all ihren Triebkräften, Erfahrungen, aber auch Gefahren, so eine durchgängige Verknüpfung der eignen Arbeit mit der Fülle der Vergangenheit, das alles in entschiedenstem Gegensatz zur rationalistischen Art des 18. Jahrhunderts. Dies Neue hat zeitweilig die Gemüter überwältigend fortgerissen, bald kam dann aber ein Rückschlag und ließ manche Gefahren und Schranken empfinden. Nun wurde klar, daß das hier gebotene Bild der Gesellschaft und der Geschichte nicht ihren reinen Tatbestand mitteilt, sondern eine starke Umbildung vom Betrachtenden empfangen hat; auch konnte nicht entgehen, daß ein so enger Anschluß an die Vergangenheit das Recht der Gegenwart zu verkümmern und den Mut eignen Schaffens zu lähmen droht. Namentlich auf politischem Gebiet konnte die Versenkung in die Vergangenheit leicht zur Hemmung freier Bewegung wirken. Es fehlt jener Denkweise die Kraft, sich das Leben selbst zu bereiten und eigne Wege zu bahnen, der Beweglichkeit und Schmiegsamkeit des Geistes entspricht nicht die Ursprünglichkeit des Schaffens. Aber alle solche Mängel heben nicht den Gewinn der Romantik auf: sie hat das Leben reicher, gesättigter, anschaulicher gestaltet, sie hat ihm eine breitere Grundlage bereitet, sie hat uns Deutsche namentlich uns mehr auf uns selbst besinnen lassen und uns unsere große Vergangenheit wieder nahegerückt, die beinahe verschüttet und vergessen war, auch hat sie das künstlerische Element bei uns bedeutend verstärkt, den Geschmack weiter Kreise gehoben. Das alles bleibt ein Gewinn, und er wird mehr und mehr anerkannt, nachdem der erste Rückschlag überwunden ist und das Fruchtbare jener Leistung sich weiteren Zusammenhängen einordnen, das Problematische aber abstreifen läßt.
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c. Die Lebensbilder der deutschen Spekulation.
Unser Verhältnis zu den großen Systemen aus dem Ende des 18. und dem Beginn des 19. Jahrhunderts ist nicht ohne Verwicklung. Je kühner das Unternehmen jener war, desto stärker wurde zunächst der Rückschlag, so daß Männer wie Schelling und Hegel, mit denen ein Goethe auf gleichem Fuß verkehrte, bisweilen sogar als bloße Abenteurer im Reich des Gedankens dargestellt wurden. Das ist in letzter Zeit anders geworden, man sucht sich in jene Systeme hineinzuversetzen und ihren Ertrag für das eigne Leben und Streben zu verwerten, man unterliegt dabei aber leicht so sehr ihrem Einfluß, daß die Kluft übersehen wird, welche uns von ihnen trennt. All ihr Schaffen ruht auf einer hochgespannten Metaphysik, auf dem Unternehmen, eine ursprüngliche Haupttätigkeit des Geistes zu ergreifen und von ihr aus die ganze Wirklichkeit zu entwickeln, diese damit bis auf den Grund zu durchleuchten und dem Menschen in vollen Besitz bringen. Verständlich ist das nur bei Vergegenwärtigung der eigentümlichen Art jener Zeit, welche die ganze Wirklichkeit im Menschen gipfeln ließ und sein Vermögen aufs höchste anschlug, die dazu auf philosophischem Gebiet durch Kants Verstärkung des Subjekts in große Erregung versetzt war. Inzwischen hat die Lage sich wesentlich verschoben, das Leben hat sich uns weit mehr nach außen verlegt und uns dort Großes verrichten lassen, die Welt der Erfahrung hat nicht nur einen unermeßlichen Reichtum gezeigt, sondern auch eine Selbständigkeit gewonnen, weit strenger hält sie uns fest und zwingt uns, unser eignes Vermögen weit bescheidener einzuschätzen. Zu solcher Bescheidenheit und zu größerer Umsicht mahnt auch die Wiedererneuerung der kantischen Erkenntniskritik mit ihrer gewissenhaften Abwägung des menschlichen Vermögens. So muß uns in dem Unternehmen der unmittelbaren Nachfolger Kants manches als zu gewagt, manches als nicht genügend begründet erscheinen; zugleich aber wird uns die Welt, welche damals aus der Arbeit hervorging, zu eng, sie entspricht zu wenig der Fülle und auch den Verwicklungen der Wirklichkeit. Andererseits möchten wir gegenüber weit unproduktiverer Art der Gegenwart den Reichtum der Belebung und Förderung, den jene Arbeit der Gesamtkultur brachte, vollauf anerkennen und auch für das eigne Wirken verwerten; so treibt es uns bei allem Widerspruch gegen ihre Metaphysik immer wieder zu ihnen hin. Wenn aber daraus, daß wir oft in der Folge festhalten möchten, dessen Begründung wir ablehnen müssen, eine eigentümliche Verwicklung entsteht, so trifft diese mehr die Prinzipienforschung als eine Darstellung der Lebensanschauung; diese vermag ganz Wohl, ohne die eigne Überzeugung festzulegen, von der Kulturarbeit aus die Größe jener Denker zu würdigen: ihr Schaffen aus Einem Guß, ihr Ringen der ganzen Persönlichkeit mit dem Ganzen des Alls, ihre kräftige Durchleuchtung des menschlichen Daseins, ihren Zug ins Systematische, Einheitliche, Kosmische, auch ihre charaktervolle, durch und durch persönliche Ausdrucksweise. In dem Streben, dem allen gerecht zu werden, wollen wir uns möglichst in ihr eignes Schaffen versetzen.
Aus dem Kreise jener Männer seien hier Fichte, Schelling, Hegel, Schleiermacher, Schopenhauer herausgehoben. Jene vier gehen bei allen Unterschieden darin zusammen, die Welt als ein Reich der Vernunft zu bejahen, während Schopenhauer sie ebenso entschieden als bare Unvernunft verneint. Fichte, Schelling, Hegel wagen es, das Werden des Vernunftreiches im Denken nachzubilden, die Welt zu »konstruieren«, während Schleiermacher jenes Ziel mit größerer Besonnenheit, aber auch geringerer Kraft verfolgt. Da die Kulturarbeit des 19. Jahrhunderts den bedeutendsten philosophischen Ausdruck in Hegel fand, so soll dieser uns vornehmlich beschäftigen.
α. Die Systeme konstruktiven Denkens.
Fichte, Schelling, Hegel bilden bei allen Unterschieden eine Gesamtbewegung: dieselbe Grundbehauptung trägt ihrer aller Arbeit. Diese Behauptung ist nur von Kant aus verständlich, nämlich aus seiner Aufdeckung von Gesamtleistungen und einer inneren Struktur des Geisteslebens, die eine eigentümlich philosophische »transzendentale« Betrachtungsweise einführt und sie deutlich von der bloßen Ermittelung der Erfahrung abhebt. Dies neue Verfahren hatte Kant selbst scharf abgegrenzt und strengen Bedingungen unterworfen. Seine kühnen, jugendlich aufstrebenden, von dem Selbstbewußtsein der Zeit getragenen Nachfolger möchten die Denktätigkeit aller solcher Schranken entledigen; ihnen wird sie zum Mittelpunkt, zur schaffenden Seele der Wirklichkeit; bei voller Einsetzung ihrer Kraft scheint sie die ganze Unendlichkeit an sich zu ziehen oder vielmehr aus sich hervorzubringen.
Zu solcher weltschaffenden Leistung läßt sich das Geistesleben nicht berufen, ohne seine übliche Fassung wesentlich zu überschreiten. Es darf nicht eine Eigenschaft der bloßen Individuen bleiben, es muß sich von ihnen ablösen und ihnen überlegen werden, mehr und mehr wird es ein bei sich selbst befindliches Reich, das vom Menschen Unterwerfung und Einordnung fordert, das nicht menschlichen Zwecken dient, sondern eigenen Notwendigkeiten folgt. Zugleich wird es aus einem ruhenden und fertigen Sein ein unablässiges Vorwärtsschreiten, eine durch eigne Kraft bewegte Entwicklung, ein Prozeß, der in sicherem Zuge rastlos vordringt. Von diesem Prozeß ergriffen, wird die ganze Wirklichkeit flüssig und belebt, im besonderen wird die Geschichte zur erzeugenden Werkstatt des Geisteslebens und empfängt damit eine Bedeutung wie nie zuvor. Auch ein einfaches Grundgesetz der Bewegung ist bald ermittelt, es ist das Fortschreiten durch ein Hervorbringen und Überwinden von Gegensätzen; im Strom jenes Lebens erzeugt jedes Ja alsbald ein Nein, aus ihrem Kampf arbeitet sich eine überlegene Synthese heraus, weitere und weitere Antithesen und Synthesen folgen, bis endlich die ganze Wirklichkeit von der Bewegung umspannt und zugleich in Geistes- und Gedankenleben verwandelt ist.
Je selbständiger in solcher Weise das Geistesleben gegenüber dem Menschen wird, desto weiter entfernt es sich vom ersten Eindruck der Dinge. Im Beginn bei Fichte steht die Bewegung dem Menschen noch näher und wird unmittelbar von seiner Seele getragen, er scheint den Dingen als Herr zu gebieten und bei voller Einsetzung seiner Kraft die ganze Wirklichkeit erzeugen zu können; je mehr sich aber das Geistesleben zu einem eigenen Reich gegenüber dem Menschen festlegt, desto mehr hat dieser sich unterzuordnen, desto mehr entwächst die Bewegung dem unmittelbaren Seelenstande. Aber zugleich greift sie tiefer in die Behandlung der einzelnen Gebiete ein, die das geschichtlich-gesellschaftliche Leben umfaßt.
Es sind aber die drei Führer des Ganzen, Fichte, Schelling, Hegel, nicht bloße Stufen einer fortschreitenden Bewegung, die in Hegel gipfelt, sondern jeder von ihnen sucht den Kern des Lebens und der Gedankenarbeit an einer verschiedenen Stelle: für Fichte wird das Denken eine Tathandlung moralischer Art, welche die Welt höchsten Zwecken der Vernunft unterwirft, für Schelling wird es ein künstlerisches Bilden, das die Wirklichkeit drinnen und draußen in ein lebensvolles Kunstwerk verwandelt, bei Hegel entwickelt es sich zu einem logisch-dialektischen Prozeß, der alle Arbeit der Weltgeschichte an sich zieht und im Denken des Denkens den letzten Abschluß erreicht. Jeder hat damit seinen eigentümlichen Weltdurchblick, jeder rückt andere Gebiete und Probleme in den Vordergrund, jeder hat auch seinen besonderen Stimmungston; zusammen haben sie dem menschlichen Dasein so viel Anregung und Belebung gebracht, daß sich ihre Wirkung wohl zeitweilig verdunkeln, nicht aber verdrängen läßt.
aa. Fichte.
Fichtes (1762-1814) Gedankenarbeit ist in hervorragendem Maße persönliche Tat, Entfaltung des eignen Wesens; an sich selbst hat er sein Wort bewährt: »Was für eine Philosophie man wähle, hängt davon ab, was für ein Mensch man ist.« Seine von Haus aus auf Kraft und Selbsttätigkeit angelegte Natur kam so lange nicht in ihre eigne Bahn, als ihn der Einfluß Spinozas im Menschen ein bloßes Glied einer strengen Kausalverkettung sehen ließ; von solchem peinlichen Zwiespalt befreite ihn die kantische Philosophie mit ihrer Verstärkung des Subjekts, ihrer Verwandlung der Kausalität in ein eigenes Erzeugnis des Denkens, ihrer Voranstellung der praktischen Vernunft. Aber solcher Anschluß an Kant ergibt unmittelbar ein Hinausstreben über Kant; wo das Verlangen nach Selbsttätigkeit die Überzeugung und das Streben ausschließlich beherrscht, da wird die kantische Begrenzung der Tätigkeit durch eine entgegenstehende Welt zu einer unerträglichen Hemmung, da ist kein Platz für ein »Ding an sich«. Nunmehr wird die praktische Vernunft zur Wurzel aller Vernunft, und es heißt: »Von dem Bedürfnis des Handelns geht das Bewußtsein der wirklichen Welt aus, nicht umgekehrt vom Bewußtsein der Welt das Bedürfnis des Handelns; dieses ist das erste, nicht jenes, jenes ist das Abgeleitete. Wir handeln nicht, weil wir erkennen, sondern wir erkennen, weil wir zu handeln bestimmt sind, die praktische Vernunft ist die Wurzel aller Vernunft«; das Denken selbst mit seinem Ergreifen und Durchleuchten der Wirklichkeit erscheint nunmehr als eine Art des Handelns, es darf bei solcher Fassung es wagen, die Welt aus sich zu entwickeln und sie damit dem Menschen in vollen Besitz zu verwandeln. Wie die Philosophie als »Wissenschaftslehre« eine große Aufgabe darin erhält, dies näher durchzuführen, so wird überhaupt das Leben auf eigne Tat gestellt. Hier heißt es »sei dir selbst alles oder du bist nichts«; »wer auf Autorität hin handelt, handelt notwendig gewissenlos«; die Übereinstimmung mit sich selbst wird damit das höchste Ziel, und es wird dem Menschen, in unverkennbarem Hinblick auf Kant und im Hinausstreben über ihn, die Weisung erteilt: »Handle so, daß du die Maxime deines Willens als ewiges Gesetz für dich denken kannst.« In energischer Durchführung dessen wird das ganze Dasein aufgerüttelt und in frischen Fluß gebracht. Als Quelle aller Laster erscheint hier die Faulheit, als das »radikale Übel« die Trägheit; aller ängstlichen Abwägung und Einschränkung des menschlichen Vermögens setzt Fichte den Gedanken entgegen, daß der Mensch kann, was er soll, und daß er nicht wahrhaft will, wenn er sagt, daß er nicht kann. Das Erdenleben der Menschheit findet hier darin seinen Zweck, alle Verhältnisse mit Freiheit nach der Vernunft einzurichten, und die Kultur erscheint hier als »Übung aller Kräfte auf den Zweck der völligen Freiheit, der völligen Unabhängigkeit von allem, was nicht wir selbst, unser reines Selbst ist.« Dabei ist aber die Tätigkeit kein blindes Dahinstürmen, kein bloßer Naturtrieb, sie findet ein Gesetz in sich selbst, indem sie durchgängig unser »empirisches« Ich dem »absoluten« Ich unterzuordnen hat. Nur im Gehorsam gegen jenes Gesetz gewinnen wir echte Freiheit und erreichen wir unser wahres Selbst. So wird der Gedanke der Pflicht zum Leitgedanken, die Pflicht aber geht nicht nach außen hin, sondern an erster Stelle gegen das eigne Wesen. Hier ist die Moral keine bloße Polizei des Lebens, sondern ein innerer Antrieb, ein mutiger Aufstieg zur eignen Höhe; sie macht den Menschen nicht klein und schwach, sondern groß und stark; die Welt aber erscheint als das »versinnlichte Materiale unserer Pflicht«.
So sehr sich Fichte durch sein ganzes Leben im Grunde seiner Seele treu blieb, so hat seine anfängliche Lehre, die alles von der Bewegung des Ich ableiten wollte, später eine Milderung erfahren: von der bloßen Tätigkeit hat sich ein, freilich tätiges Sein abgehoben; indem es damit zur Aufgabe wird, dieses Sein in der Tätigkeit darzustellen, gestaltet diese sich ruhiger und innerlicher, auch wird nun das Ganze dem bloßen Individuum überlegener. Auf diesem Boden erhält die Religion eine größere Wärme und eine persönliche Färbung, es gilt, damit die einzelne Stelle gedeihen könne, vor allem das rechte Verhältnis zum Ganzen zu finden, es entsteht eine moderne Mystik, die den Menschen das »Ewig Eine« als das allein Wesenhafte in seinem eignen Leben und Tun erfassen heißt:
»Das Ewig – Eine
Wirkt mir im Leben, sieht in meinem Sehen.«
Die Religion, die daraus hervorgeht, soll vollauf gegenwärtig sein, sie ist kein träges Harren und Hoffen auf ein Jenseits, da durch das bloße Sichbegrabenlassen man nicht in die Seligkeit kommt; sie soll sich nicht auf geschichtliche Daten stützen, sondern unmittelbar aus dem eignen Leben quellen, da nur das Metaphysische, nicht das Historische, selig macht; sie bedarf keiner äußeren Zeichen und Wunder, da sie das entscheidende Wunder in der Schöpfung eines neuen Lebens sieht. »Diese Wunder in der Sinnenwelt (vom Himmel) leugne ich entschieden, lehrend übrigens einen lebendigen und wirkenden Gott in der Geisterwelt. Daß er allen, die zu ihm sich nahen, ein neues Herz schafft, das ist sein ewiges großes Wunder.«
Die größte Bewegung zeigt Fichte bei allem Festhalten einer Grundgesinnung auf dem Gebiet des gesellschaftlichen und staatlichen Lebens. Zunächst vertritt er mit besonderer Kraft den Rechtsund Freiheitsstaat, zur Hauptsorge wird hier die Unabhängigkeit und das Mitentscheiden jedes Einzelnen, der Staat erscheint nicht als ein Selbstzweck, sondern als ein bloßes Mittel; so kann es heißen: »Der Staat geht, wie alle menschlichen Institute, die bloße Mittel sind, auf seine eigne Vernichtung aus; es ist der Zweck aller Regierung, die Regierung überflüssig zu machen.« Eine positive Bedeutung wird dem Staat dagegen im »geschlossenen Handelsstaat« (1800) zuerkannt, er soll hier das gesamte wirtschaftliche Leben überwachen und vernunftgemäß ordnen. Die warme Teilnahme, die Fichte von früh an jedem einzelnen Gliede der Menschheit zugewandt hatte, und die ihn die Gleichheit alles dessen verkünden ließ, was menschliches Angesicht trägt, spricht sich hier mit besonderer Stärke aus. Der Denker erklärt als das Recht jedes Menschen, ein gewisses Eigentum zu besitzen und so echt menschlich auf der Erde zu leben, als es die Natur nur irgend gestattet. »Der Mensch soll arbeiten; aber nicht wie ein Lasttier –, er soll angstlos, mit Lust und mit Freudigkeit arbeiten und Zeit übrig behalten, seinen Geist und sein Auge zum Himmel zu erheben, zu dessen Anblick er gebildet ist.« Der Staat aber soll ihn dazu führen, indem er sich nach außen hin wirtschaftlich möglichst abschließt, im Innern aber die Arbeit reguliert und jedem Einzelnen wie eine Tätigkeit so ein menschenwürdiges Dasein sichert.
Dann erfolgt eine Wendung zum Kulturstaat, wobei Kultur in augenscheinlicher Wandlung gegen früher als »Einrichtung aller Verhältnisse nach dem Vernunftgesetz« verstanden wird. Freilich soll er nur die Bedingungen für eine freie Erzeugung der Vernunft herstellen, während die höheren Zwecke der Vernunftkultur: »Religion, Wissenschaft, Tugend« nie Zwecke des Staates werden können. Dabei herrscht noch ein völliges Weltbürgertum, und es wird für das »Vaterland des wahrhaft ausgebildeten Europäers« in jedem Zeitalter derjenige Staat in Europa erklärt, »der auf der Höhe der Kultur in Europa steht«. Es werden sogar die »Erdgeborenen«, welche fest an dem sinnlichen Vaterlande hängen, mit spöttischer Herablassung behandelt. Dieser stark überspannte Kosmopolitismus weicht aber nach dem jähen Zusammenbruch Deutschlands sofort einer Wendung zum nationalen Staate, die Reden an die deutsche Nation bringen diese zu klassischem Ausdruck. Der Denker rechtfertigt gemäß seiner Weise die einzigartige Bedeutung der Nation von den tiefsten Gründen her. Der Mensch kann nichts wahrhaft lieben, das er nicht als ewig erfaßt und in die Ewigkeit seines Gemütes aufnimmt; auch sein irdisches Leben bedarf, um rechten Wert zu erlangen, beharrender Zusammenhänge, die seinem Wirken eine Fortdauer durch die Kette der Zeiten versprechen; einen solchen Zusammenhang gewährt dem Menschen aber allein sein Volk, »die besondere geistige Natur der menschlichen Umgebung, aus welcher er selbst mit allem seinem Denken und Tun und mit seinem Glauben an die Ewigkeit desselben hervorgegangen ist, das Volk, aus welchem er abstammt, und unter welchem er gebildet wurde und zu dem, was er jetzt ist, heraufwuchs«. »Diese Eigentümlichkeit ist das Ewige, dem er die Ewigkeit seiner selbst und seines Fortwirkens anvertraut, die ewige Ordnung der Dinge, in die er sein Ewiges legt; ihre Fortdauer muß er wollen, denn sie allein ist ihm das entbindende Mittel, wodurch die kurze Spanne seines Lebens hienieden zu fortdauerndem Leben hienieden ausgedehnt wird.« Der Deutsche aber darf sich seinem Volk mit besonderer Hingebung widmen, da dieses Volk, das Volk des »Gemütes«, eine besondere Aufgabe unter den Völkern hat, die Aufgabe, das Leben von innen heraus zu gestalten und ihm dadurch einen unvergleichlichen Wert bei sich selbst zu verleihen. Diese deutsche Innerlichkeit findet er namentlich bezeugt in der Religion, der Philosophie, der Erziehung; diese Innerlichkeit ist der Menschheit unentbehrlich; so wird das Volk, das sie besitzt, gewiß nicht untergehen. Bei der Nation ist aber für Fichte die Hauptsache nicht die äußere Macht und Ausdehnung, sondern die innere Durchbildung, die Ausprägung eines geistigen Charakters; so ist sie ihm mehr eine hohe Aufgabe als ein fertiges Datum, so braucht er auch bei höchster Schätzung seines Volkes sein Menschheitsideal nicht aufzugeben, so bleibt er gänzlich fern einem naturalistischen Rassendünkel der unvermeidlich die Menschheit auseinanderreißt.
Der Wandlung der politischen Ideale Fichtes entspricht eine Verschiebung seiner Überzeugung an anderen Stellen. So vornehmlich bei der Geschichte. Zunächst bedeutete ihm die Geschichte in ihrer Besonderheit wenig, schon wegen der Besorgnis, ihrer Autorität zu verfallen; mit dem Wachstum des Gemeinschaftsgedankens erscheint sie als eine Lösung der Aufgabe, die Vernunft, die von Anfang an, aber dunkel und gebunden im Menschen wirkte, in volle Klarheit und eigne Tat zu verwandeln; zugleich aber wird die Arbeit der früheren Geschlechter für die eigene unentbehrlich. »Alles Große und Gute, worauf unsere Existenz sich stützt, ist lediglich dadurch wirklich geworden, daß edle und kräftige Menschen allen Lebensgenuß für Ideen aufgeopfert haben, und wir selber mit allem, was wir sind, sind das Resultat der Aufopferung aller früheren Generationen und besonders ihrer würdigsten Mitglieder.«
Eine Wandlung zeigt endlich auch Fichtes Verhältnis zu Krieg und Frieden. Zuerst und lange Zeit hindurch war er ein unbedingter Gegner des Krieges, ein entschiedener Anhänger des ewigen Friedens, ein entschiednerer noch als Kant; der Befreiungskampf seines Volkes ließ ihn anders über diese Frage denken. Mit aller Energie verteidigt er nun den »wahrhaften« Krieg, d. h. einen Krieg, den ein Volk zur Rettung seiner Selbständigkeit führt. In einem solchen Kriege soll es keine Stellvertretung geben; wird er verkündigt, »so soll dem Erleuchteten sich das Herz erheben beim Anbruche seines Vaterlandes, und er soll es begierig als vollen Ernst ergreifen«. Der Gedanke des ewigen Friedens verblaßt dabei, er erscheint nunmehr als Ausdruck einer vagen und matten Gesinnung.
So hat Fichtes Überzeugung in diesen Dingen verschiedene Stufen durchlaufen, das aber vornehmlich deshalb, weil er in allem Wirken und Sein seiner Zeit eng verbunden war, und weil diese Zeit große Wandlungen brachte. In der Grundrichtung seiner Gesinnung ist er immer derselbe geblieben: ein unerschrockener und unermüdlicher Kämpfer für Wahrheit und Freiheit, eine Tatnatur, nicht ohne Härte und Einseitigkeit, aber überall aufs Große und Unbedingte gerichtet und von warmer Liebe für alles Menschenwesen, im besonderen aber für sein deutsches Volk erfüllt. An einen Wendepunkt des allgemeinen Lebens wie in eine kritische Zeit seiner Umgebung gestellt, fand er sein Werk darin, die Geister zu wecken; er hat sie mit Einsetzung aller Kraft und mit hingebender Treue gelöst. Als ein Lehrer großen Stils hat er namentlich zu seinem Volke gesprochen, als ein solcher wird er diesem dauernd in hohen Ehren bleiben. In die Philosophie aber hat er eine starke Bewegung gebracht, die bei ihm selbst eine eigentümliche Gedankenwelt erzeugte und über ihn selbst hinaus weitere Gestaltungen hervortrieb.
bb. Schelling.
Ist Fichtes Denken und Sinnen vornehmlich dem Menschen zugewandt, so richtet Schelling die Kraft seiner Seele mehr auf das All, um von hier aus erst das menschliche Leben zu verstehen; wollte Fichte den Menschen moralisch heben, indem er ihn zu voller Selbsttätigkeit aufrief, so suchte Schelling ihm eine größere Weite und Tiefe zu geben, indem er ihn durch ein künstlerisches Schauen der Wirklichkeit enger zu verbinden suchte; geht Fichtes Verlangen auf eine bessere Zukunft und möchte er dafür die Menschheit bilden, so blickt Schelling in die Vergangenheit, um die Welt samt dem Menschen aus ihrem Werden zu verstehen. Aber wenn er mehr das Objektive und den Allgedanken zur Wirkung bringt, so hält auch seine Überzeugung eine überragende Stellung des Menschen im Weltall fest: »im Menschen allein als im Mittelpunkt geht die Seele auf, ohne welche die Welt wie die Natur ohne Sonne wäre; im Menschen allein erscheint das ganze volle Sein ohne Abbruch.« Nur aus solcher Überzeugung kann er es wagen, die Welt aus dem Ganzen zu sehen und von innen her zu verstehen.
Zuerst geschieht das gegenüber der Natur, in der viel besprochenen Naturphilosophie. Sie behandelt die Natur als ein inneres Ganzes, dessen Leben alle Mannigfaltigkeit umspannt und zusammenhält, sie versteht sie nicht als ein abgeschlossenes und ruhendes Sein, sondern als ein unablässiges Werden, eine fortschreitende Selbstentwicklung; getrieben aber wird diese Bewegung durch den Gegensatz positiver und negativer Kräfte, durch Anziehung und Abstoßung. Alle einzelnen Formen erscheinen dabei als Stufen ein und derselben Organisation, die einzelnen Naturdinge sind nur Beschränkungen oder Anschauungsweisen des allgemeinen Organismus.
Überall werden dabei Natur und Geist als zusammengehörige Seiten ein und desselben Weltalls gefaßt, indem dort bewußtlos geschieht, was hier zu klarer Bewußtheit gelangt; das allein macht es möglich, die Natur vom Denken aus aufzuhellen; »was wir Natur nennen, ist ein Gedicht, das in geheimer, wunderbarer Schrift verschlossen liegt. Doch könnte das Rätsel sich enthüllen, würden wir die Odyssee des Geistes darin erkennen, der wunderbar getäuscht, sich selber suchend, sich selber flieht; denn durch die Sinnenwelt blickt nur, wie durch die Worte der Sinn, nur wie durch halbdurchsichtigen Nebel das Land der Phantasie, nach dem wir trachten«.
Das alles sucht eine im Grunde künstlerische Naturbetrachtung in eine wissenschaftliche Lehre umzusetzen; die Unmöglichkeit dessen muß erhellen, sobald die Grundgedanken sich näher durchbilden und mit dem Befunde der Erfahrung auseinandersetzen, dabei aber ein lückenloses System entwickeln möchten; indem Schelling das unternimmt, ist er in so viel Gewaltsamkeit und in so viel Spielen mit leeren Begriffen verfallen, daß eine entschiedene Ablehnung seitens der Forschung unvermeidlich war. Zugleich aber bleibt anzuerkennen, daß von hier ein starker Antrieb ausging, eine Einheit der Naturkräfte aufzusuchen sowie die Natur als etwas Werdendes zu verstehen. Am meisten Anklang hat die Naturphilosophie bei künstlerischen Geistern gefunden, wie bei einem Goethe. Denn wenn der ältere Goethe meinte, seiner früheren Naturauffassung habe die Anschauung der beiden großen Triebräder der Natur: »der Begriff von Polarität und von Steigerung« gefehlt, wem mehr als Schelling verdankte er diesen Gewinn?
Endlich sei nicht vergessen, daß über die Besonderheit der Naturphilosophie hinaus Schelling sich ein allgemeineres Verdienst um dies Gebiet erworben hat: er hat im Ganzen der Gedankenwelt die Natur und zugleich das sinnliche Element mehr in den Vordergrund gerückt; es berührt in jener Zeit wie etwas Neues, wenn Schelling, übrigens in Einklang mit der Romantik, bekennt, »daß in Sachen der Wissenschaft, der Religion und Kunst so wenig als in weltlichen Geschäften je ohne überwiegende Naturkraft etwas Großes vollbracht worden, und daß die erhabensten Äußerungen der Seele ohne eine kräftige Sinnlichkeit tot und unwirksam für die Welt sind«.
Später wird die Kunst zum beherrschenden Mittelpunkt der Gedankenwelt, und es entwickelt sich eine »Identitätsphilosophie«, welche alle Gegensätze umspannen, Sinnliches und Geistiges, Ruhe und Bewegung, Einzelnes und Allgemeines miteinander ausgleichen möchte. Die Kunst erscheint hier als »die einzige und ewige Offenbarung, die es gibt, und das Wunder, das, wenn es auch nur einmal existiert hätte, uns von der absoluten Realität des Höchsten überzeugen müßte«. Hier wird mit besonderem Nachdruck gefordert, daß der Einzelne sich ganz und gar als Werkzeug der Einheit des Ganzen fühle; das Böse wird darin gesetzt, daß der Mensch etwas für sich selbst und aus sich selbst sein will. Es entwickelt sich hier ein Ideal der künstlerischen Kultur, das alle einzelnen Gebiete zu veredlen sucht, wie namentlich die Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums zeigen. Als Lebensideal gilt hier nicht wie bei Fichte die sittliche Persönlichkeit, sondern die geniale Individualität; will jener das ganze Dasein in Handeln verwandeln, so heißt es hier: »Lerne nur, um selbst zu schaffen.« Die wissenschaftliche Arbeit findet durchgängig ihre Höhe in der Wendung zu künstlerischer Gestaltung. Besonders fruchtbar wird das für die Behandlung der Geschichte. Alle Lehrhaftigkeit, überhaupt alle subjektiv-menschliche Betrachtungsweise, wird als eine ungebührliche Anmaßung energisch aus ihr verwiesen, da selbst unter dem Heiligsten nichts sei, was heiliger wäre als die Geschichte, »dieser große Spiegel des Weltgeistes, dieses ewige Gedicht des göttlichen Verstandes«. Demgegenüber wird als »der absolute Standpunkt der Historie der der historischen Kunst« erklärt. Indem die daraus erwachsende Betrachtung die einzelnen Handelnden bei aller subjektiven Freiheit als Werkzeuge einer höheren Notwendigkeit, eines überlegenen Schicksals darstellt, »kann die Geschichte die Wirkung des größten und erstaunenswürdigsten Dramas nicht verfehlen, das nur in einem unendlichen Geist gedichtet sein kann.« Bei den Lehren von Recht und Staat berührt Schelling, empfangend und weiterbildend, sich eng mit den Überzeugungen der Romantik. Jene Gebiete sollen sich von aller menschlichen Reflexion befreien und sich gänzlich auf ein ihnen innewohnendes Leben und eine eigne Notwendigkeit stellen; auch beherrscht der Begriff des Organismus die Gedanken, eines Organismus, der seinen Zweck in sich selber trägt. Auch zur Kunst selbst finden sich hier bedeutende Erwägungen: die Kunst wird hier dem Gesamtstande des menschlichen Lebens eng verbunden, nur eine umfassende Gedankenwelt, nur die lebhafteste Bewegung der innersten Gemüts- und Geisteskräfte kann die Begeisterung erzeugen, deren die Kunst für ihr Schaffen und für die Bildung eines gemeinsamen Geschmackes bedarf. Wenn dabei die Kunst mit der Geschichte in eine enge Beziehung tritt, so verweilt der Denker mit besonderer Liebe bei dem Unterschiede der antiken und der modernen Kunst; er hofft aber auf eine Neubelebung der Kunst namentlich in Deutschland, das aber auf Grund eines durchgreifenden Fortschritts in den Ideen, auf Grund eines neuen Wissens und eines neuen Glaubens. »Dieses Volk, von welchem die Revolution der Denkart in dem neueren Europa ausgegangen, dessen Geisteskraft die größten Erfindungen bezeugen, das dem Himmel Gesetze gegeben und am tiefsten von allen die Erde durchforscht hat, dem die Natur einen unverrückten Sinn für das Rechte und die Neigung zur Erkenntnis der ersten Ursachen tiefer als irgendeinem anderen eingepflanzt, dieses Volk muß in einer eigentümlichen Kunst endigen.« Besonders groß aber erscheint ihm das deutsche Volk in seinem Verhältnis zur Religion. »Die deutsche Nation strebt mit ihrem ganzen Wesen nach Religion, aber ihrer Eigentümlichkeit gemäß nach Religion, die mit Erkenntnis verbunden und auf Wissenschaft gegründet ist.« »Wiedergeburt der Religion durch die höchste Wissenschaft, dieses eigentlich ist die Aufgabe des deutschen Geistes, das bestimmte Ziel aller seiner Bestrebungen.«
So sehr Schelling in dem allen das Leben auf eine unsichtbare Welt zu gründen und den Einzelpunkt an das Ganze zu binden, vom Ganzen aus zu erfüllen strebt, das Göttliche ist ihm zunächst in unserer Welt gegenwärtig, und die Religion hebt sich nicht als ein Sondergebiet über das übrige Leben zu beherrschender Stellung hinaus. Das geschieht aber, als sich ihm im weiteren Verlauf des Lebens, auch unter dem Einfluß trüber persönlicher Erfahrungen, der Anblick von Welt und Leben verdüstert und das Dunkle und Böse unserer Welt zu groß dünkt, um ohne eine gründliche Umwandlung der ersten Lage und ohne die Hilfe höherer Mächte überwindbar zu sein. Das Böse erscheint nun nicht mehr wie. früher als ein vergeblicher Widerstand gegen das Gute, sondern als eine »positive Verkehrtheit der Prinzipien«; daß es in seiner ganzen Tiefe anerkannt werde, darauf dringt Schelling mit höchstem Eifer. Er findet das Böse schon in der Natur, namentlich in der alles beherrschenden Macht des Todes, er findet es in gesteigertem Maß beim Menschen; hier ist es namentlich das scheinbar Zweck- und Sinnlose des unablässigen Werdens und Vergehens, was den Denker bewegt und aufregt. »Ein Geschlecht vergeht, das andere kommt, um selbst wieder zu vergehen. Vergebens erwarten wir, daß etwas Neues geschehe, woran endlich diese Unruhe ein Ziel finde; alles was geschieht, geschieht nur, damit wieder etwas anderes geschehen kann, das selbst wieder gegen ein anderes zur Vergangenheit wird, im Grunde also geschieht alles umsonst, und es ist in allem Tun, in aller Mühe und Arbeit der Menschen selbst nichts, als Eitelkeit; alles ist eitel, denn eitel ist alles, was eines wahrhaften Zweckes ermangelt.« Die Überwindung dieser Unvernunft, im besonderen die des moralisch Bösen, wird damit zum Hauptziel des Lebens, und es ist bezeichnend, wie sich dem kraftvollen Denker damit das Gesamtbild von Welt und Leben verschiebt. Der unbestimmte Begriff des Geistes weicht dem der Persönlichkeit, gegenüber der bisherigen Voranstellung des Intellekts heißt es jetzt »Wollen ist die Grundlage der Natur«, die Freiheit des Willens, für die sich sonst kaum Platz fand, wird mit aller Entschiedenheit verteidigt und zum Mittelpunkt aller Probleme erklärt: »ohne den Widerspruch von Notwendigkeit und Freiheit würde nicht Philosophie allein, sondern jedes höhere Wollen des Geistes in den Tod versinken«. Das Leben aber wird ein unaufhörlicher Kampf zwischen Gutem und Bösem, indem es unablässig die im Bösen steckende Naturkraft ihm zu entwinden und für das Gute zu gewinnen gilt: denn »ein Gutes, wenn es nicht ein überwundenes Böses in sich hat, ist kein volles lebendiges Gute«. Durchgängig verschieben sich die Begriffe ins Individuelle und Persönliche: »Das allgemeine Wesen existiert nur, wenn das absolute Einzelwesen es ist.« Der Gottesbegriff, der sich früher nicht weit genug von der bloßmenschlichen Art abheben ließ, soll nun möglichst anthropomorph gestaltet werden, da nur ein lebendiger und uns naher Gott Hilfe, und Rettung bringen könne. So erweist sich auch hier, daß die Stellung zum Problem des Bösen der Gedankenwelt ihre Hauptrichtung gibt.
Was aber Schelling selbst zur Lösung des Problems darbietet: ein gewagtes Spekulieren über den Ursprung des Bösen aus einem dunklen Grunde in Gott und über eine Stufenfolge der göttlichen Offenbarung, die alle Religionen umspannt, ist bei aller Größe der Anlage und bei allem Schwung der Gedanken so wunderlich und so unfruchtbar, es unternimmt in dem Streben, auch das Irrationale zu rationalisieren, etwas so Widerspruchsvolles, daß seine Ablehnung durch seine Zeit wohl begründet war. Immer mehr hat sich Schelling der Zeitumgebung und der lebendigen Gegenwart entfremdet, deren Führer er anfänglich war.
Auch in dem Ganzen der Lebensarbeit überwiegt bei ihm das Vermögen der Anregung und Stimmung die Leistung und Gliederung; die Anregung erstreckt sich in alle Gebiete, die seine Arbeit ergreift, aber Schelling verfährt bei aller sprudelnden Genialität zu hastig und summarisch, um völlig ausgereifte Werke zu schaffen. Jedoch hat sein Zug ins Große und Ganze, seine offene, frische und weite Art, die Beweglichkeit seines Geistes, sein Vermögen glänzender Darstellung das Dasein vielfach bereichert und den geistigen Gesichtskreis erweitert. Er hat viel Starres in Fluß gebracht, viel Zerstreutes zusammengeführt, viel Schroffheit sonstiger Gegensätze, wenn nicht aufgehoben, so doch gemildert, namentlich hat er Sinnliches und Geistiges, Anschauung und Gedankenarbeit in engere und fruchtbarere Wechselwirkung gesetzt, als es vor ihm geschehen war. So gehört auch er zu den Führern des deutschen Geisteslebens.
cc. Hegel.
In Arbeit und Geschlossenheit ist Hegel (1770-1831) weit überlegen. Er wirkt mit der vollen Kraft eines durchgebildeten Systems, und er hat sich damit in das Geistesleben des Jahrhunderts so tief eingegraben, daß es sich von ihm nicht befreien kann, auch wo es das eifrig erstrebt. Wie oft ist Hegel für überwunden und abgetan erklärt, und eine wie große Kluft trennt ihn in Wahrheit von uns! Und doch übt er immer noch Macht über die Geister und findet immer neue Verehrer; sein Einfluß steckt, wenn auch oft verkannt, tief in unserer Arbeit, unseren Begriffen, unseren Problemen; selbst der Widerspruch gegen ihn zeigt, daß er noch keineswegs veraltet ist. So werden wir von Hegel zugleich angezogen und abgestoßen, Wir erkennen in ihm sowohl eine bewegende Macht unserer Zeit als ein Zeichen, dem vielfach leidenschaftlich widersprochen wird. Sollte ein solches Rätsel nicht zum Versuch einer Lösung reizen?
So gewaltig und überlegen Hegels System erscheint, es ist eine einfache Tatsache und alte Wahrheit, die es aufnimmt und weiterführt: die Tatsache des in uns wirksamen Denkens. Uns selbst angehörig, übt das Denken zugleich eine Macht über uns, schon beim Individuum entwickelt es seine Konsequenzen auch gegen dessen Willen, verlangt es zwingend eine Lösung von Widersprüchen; es denken weniger wir als es in uns denkt. So hatte schon Sokrates das Denken scharf von der bloßen Vorstellung abgehoben und in ihm einen sicheren Halt für Erkennen und Leben gefunden. Hegel aber verfolgt das Denken von den Individuen in das Leben der Menschheit und die weltgeschichtliche Arbeit. Mit solcher Wendung erscheint es nicht als fertiggegeben, nicht als ein beharrendes »Sein, sondern als ein unablässig weitergehender, durch seine eigene Gesetzlichkeit bewegter Prozeß; auch steht es nicht neben den Dingen, sondern es umfaßt sie und treibt sie aus sich hervor. Demnach wächst in Aneignung der weltgeschichtlichen Arbeit der Denkprozeß zu einem Weltprozeß, er wird der Kern aller Wirklichkeit und übt mit seinem logischen Verfahren eine weltbeherrschende Macht.
Um das durchzuführen, muß Hegel die Denkarbeit von aller Enge menschlicher Art befreien. Diese Befreiung erfolgt, wenn Mut und Kraft gefunden wird, alle eigenen Einfälle und Vorstellungen abzuwerfen, sich ganz in ein sachliches Denken zu versetzen und nur seiner Notwendigkeit zu folgen. Alsdann fallen alle Schranken, und die menschliche Vernunft wird mit der göttlichen eins. Das erst rechtfertigt ein sicheres Vertrauen auf das Vermögen des Denkens; ein solcher Glaube aber ist nach Hegel unerläßlich für das Gelingen der philosophischen Arbeit: »Der Mut der Wahrheit, Glaube an die Macht des Geistes ist die erste Bedingung des philosophischen Studiums; der Mensch soll sich selbst ehren und sich des Höchsten würdig achten. Von der Größe und Macht des Geistes kann er nicht groß genug denken. Das verschlossene Wesen des Universums hat keine Kraft in sich, welche dem Mut des Erkennens Widerstand leisten könnte; es muß sich vor ihm auftun und seinen Reichtum und seine Tiefen ihm vor Augen legen und zum Genusse bringen.«
Die Verwandlung der Wirklichkeit in reines Denken vollzieht sich aber dadurch, daß die Begriffe in sich selbst Widersprüche enthüllen, die zu ihrer Auflösung und zur Schöpfung neuer Begriffe treiben; diese aber erfahren dasselbe Geschick, und so geht diese Bewegung weiter und weiter, bis alles Fremde angeeignet, alles Dunkel in Licht, alle Voraussetzung in begründete Einsicht verwandelt ist. »Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur .das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen.« Die Methode erscheint damit als die eigene Bewegung des Begriffes, es leitet diesen aber namentlich weiter das in ihm enthaltene Negative, das nicht ein bloßes Nein, sondern eine Verneinung der besonderen Behauptung bildet und diese insofern festhält. Denn in Wahrheit ist jeder Begriff eine »Einheit entgegengesetzter Momente«, jedes Wirkliche bildet eine Einheit von Sein und Nichts, daher sind »alle Dinge an sich selbst widersprechend«. Die Entwicklung und Auflösung solcher Widersprüche ergibt einen immer reicheren Gehalt, bis endlich der Geist die ganze Unendlichkeit als sein Eigentum erkennt und zugleich den Gipfel vollen Selbstbewußtseins erreicht.
In dieser Bewegung ist jede Stufe nur ein Durchgangspunkt; was sich absondern und festlegen möchte, das verfällt sofort der Erstarrung und Leere. Gerade in dem Augenblick, wo etwas seine höchste Reife erreicht, beginnt sein Untergang; was soll es noch, nachdem es sein Werk getan hat? So wird hier das Leben ein unablässiges Untergehen. Aber dies Untergehen ist kein völliges Vergehen, das äußere Verschwinden kein gänzliches Erlöschen. Denn was sein besonderes Sein aufgeben muß und »aufgehoben« wird, das bleibt als ein Stück, ein Moment der höheren Stufe erhalten, es wird bei ihr auch in bejahendem Sinne »aufgehoben«; das Einzelne erliegt den Lebensfluten des gewaltigen Prozesses nur, um ein neues, unvergängliches Sein innerhalb des Ganzen zu erlangen. So bleibt der Sieg dem Leben, aber die Vernichtung, welche er fordert, enthält eine gewaltige Tragik.
Die energische Durchführung dieses Verfahrens erzeugt ein höchst eigentümliches Bild unserer Wirklichkeit. Nicht nur gerät das Ganze in Fluß, sondern es wird alles miteinander verkettet und aufeinander angewiesen, es erschließt seinen Sinn erst aus den Beziehungen und Zusammenhängen. Überall ist es der Kampf und Zusammenstoß, der weiterführt, nicht eine ruhige Ansammlung; zu höchster Spannung und Betätigung wird alles Leben aufgerufen. Was immer äußerlich und sinnlich dünkte, erweist sich jetzt als bloße Erscheinung des Geistes für den Geist, dem Materiellen wird nirgends ein selbständiger Wert zuerkannt. Durchgängig wird die geistige Arbeit auf ihre eigenen Kräfte gestellt und über die Zwecke des bloßen Menschen wie das Vermögen des unmittelbaren Seelenlebens weit hinausgehoben; im eigenen Kreise erfährt hier der Mensch das Wirken höherer Mächte. Alles Geistige aber konzentriert sich im Denken mit seinen Begriffen; es gilt daher überall, die Komplexe auf den zusammenhaltenden Begriff zu bringen, mit einer aufhellenden Idee das ganze Gebiet zu durchleuchten. Diese Ideen bilden den Kern und die Triebkraft der Geschichte. Die verschiedenen Gebiete aber gliedern sich wieder einem allumfassenden Zusammenhang ein und werden zu Stufen und Darstellungen einer einzigen Wahrheit. So wird in einer durchgehenden Vergeistigung des Stoffes alles zusammengedrängt und miteinander verkettet, die ganze Weite des Lebens aus Einem Gusse gestaltet. Über aller Hast der Bewegung aber schwebt die Einheit philosophischer Betrachtung und verwandelt den ungestümen Drang in die Ruhe eines Lebens unter der Form der Ewigkeit.
Dieser Prozeß ist in erster Linie ein Erzeugnis intellektueller Kraft, nicht ethischer Tätigkeit. Allerdings fehlt ihm nicht ein ethischer Zug, er liegt in der vollen Hingebung an die objektive Wahrheit, an die Bewegung der Ideen, welche unbekümmert um das Wohl und Wehe der Individuen ihren eigenen Weg verfolgen, sich selbst entwickeln und erweisen. Sie bedienen sich des Menschen auch gegen sein Wissen und Wollen; ihre »List« macht ihn auch da zu ihrem Werkzeug, wo er seinen besonderen Zwecken nachgeht und seinen Leidenschaften fröhnt. »Die Leidenschaften zerstören sich gegenseitig; die Vernunft allein wacht, verfolgt ihren Zweck und macht sich geltend.« Ihre Zwecke aber in den eigenen Willen aufzunehmen, das erhebt zu wahrer Größe, das bedeutet die echte Sittlichkeit. »Dies sind die großen Menschen in der Geschichte, deren eigene partikulare Zwecke das Substantielle enthalten, welches Wille des Weltgeistes ist.« – Eine solche Fassung beläßt aber das ethische Tun in untergeordneter Stellung, für Hegel ist es immer nur eine Zutat des Individuums, etwas Privates und Subjektives, nicht der Quell einer eigentümlichen Lebensordnung, nicht die Grundbedingung alles geistigen Schaffens. So fehlt hier die volle Würdigung des Reiches der praktischen Vernunft, wie Kant und Fichte ein solches vertraten. Überhaupt wird es Hegel schwer, sich in eine fremde Gedankenwelt zu versetzen, er zwängt mit diktatorischer Schroffheit alles in seine eigenen Begriffe und bemißt es nach der dabei empfangenen Fassung. Solche Geschlossenheit hat ihn bisweilen schwer ungerecht werden lassen, so z. B. gegen Fries, zur Wirkung seiner Gedanken aber hat sie nicht wenig beigetragen.
Die nähere Ausführung der Gedanken ist auf den verschiedenen Gebieten von recht ungleicher Art. Die Natur bleibt das Stiefkind, und auch dem individuellen Seelenleben weiß Hegel nicht viel abzugewinnen. Seine Stärke liegt auf dem geschichtlich-gesellschaftlichen Gebiet, das Streben des 19. Jahrhunderts nach dieser Richtung erlangt hier den bedeutendsten philosophischen Ausdruck, vor allen anderen ist Hegel der Philosoph der modernen Kultur, keiner hat mehr als er ihren Intellektualismus, Optimismus, Fortschrittsglauben in eine Gedankenwelt umgesetzt.
Hegels Gesellschaftslehre bringt seine Gedankenrichtung zu besonders klarem Ausdruck. Wie sein Denken alles Einzelne dem Ganzen unterordnet, so steht ihm auch der Staat als Gesamtwerk hoch über dem Individuum. Wohl findet er das Wesen des neueren Staates darin, »daß das Allgemeine verbunden sei mit der vollen Freiheit der Besonderheit und dem Wohlergehen der Individuen«, das Allgemeine bleibt aber unbedingt überlegen, und der Gegensatz zum Rechts- und Freiheitsstaat der Aufklärung ist augenscheinlich. Mag ferner auch Hegel davon überzeugt sein, daß alles Große nicht bloße Massenwirkung, sondern das Werk einzelner hervorragender Individuen ist: diese Individuen erlangen bei ihm keine Selbständigkeit und Eigentümlichkeit gegen die Zeit, sondern sie werden von ihr erzeugt und bringen nur zu voller Bewußtheit, was im Ganzen der Gemeinschaft aufstrebt: »In der öffentlichen Meinung ist alles Falsche und Wahre, aber das Wahre in ihr zu finden, ist Sache des großen Mannes. Wer, was seine Zeit will, ausspricht, ihr sagt und vollbringt, ist der große Mann der Zeit.« So bleibt es doch der Gesamtstand, an dem die Entscheidung liegt, und das Große ist nur ein höherer Grad der Bewußtheit.
Zugleich bekämpft Hegel mit Kraft und Witz die eingewurzelte Neigung, an dem Staat eine bloßsubjektive Kritik zu üben und nur die Mißstände hervorzukehren, die unter menschlichen Verhältnissen unvermeidlich sind. Vielmehr gilt es, sich in das innere Leben und Wesen des Ganzen zu versetzen und aus ihm alles Einzelne zu verstehen. Wie überhaupt die vernünftige Einsicht uns mit der Wirklichkeit versöhnt, so ist auch der Staat als ein in sich Vernünftiges zu begreifen und darzustellen. Hier vornehmlich hat die Philosophie nicht zu belehren, wie die Welt sein soll, sondern das Vernünftige als wirklich und das Wirkliche als vernünftig zu erkennen. Bildet doch die philosophische Betrachtung durchgängig nicht den Anfang, sondern den Abschluß einer Epoche. »Als der Gedanke der Welt erscheint sie erst in der Zeit, nachdem die Wirklichkeit ihren Bildungsprozeß vollendet und sich fertig gemacht hat. – Die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.«
So hat Hegel vom Staate größer zu denken und ihm größere Aufgaben zuzutrauen gelehrt. Aber er trägt auch ein gutes Stück Schuld an der modernen Überspannung der Staatsidee, an jenem Politismus, der die Selbständigkeit und die Ursprünglichkeit des Lebens arg gefährden kann. Wer mit ihm im Staate »die Wirklichkeit der sittlichen Idee«, den »göttlichen Willen als gegenwärtigen, sich zur wirklichen Gestalt und Organisation einer Welt entfaltenden Geist« erblickt, der muß ihn als ein »Irdisch-Göttliches« verehren, der kennt keine Grenzen des Staates, der kann der Persönlichkeit und ihrer Weltaufgabe unmöglich ihr volles Recht gewähren, der denkt mehr antik als modern.
Auch die nähere Ausführung erweist überall die leitenden Grundgedanken. So vornehmlich die Macht und die Fruchtbarkeit des Gegensatzes. Hegel versteht z. B. die Strafe als die Negation der Negation der Rechtsordnung, die der Verbrecher begangen hat; er erkennt in der Liebe zugleich ein Aufgeben des eigenen Seins und ein Wiedergewinnen eines neuen Seins durch die Selbstverneinung, »die Liebe ist der ungeheuerste Widerspruch, den der Verstand nicht lösen kann«, »die Liebe ist das Hervorbringen und die Auflösung des Widerspruchs zugleich«; er verteidigt aber auch – entgegen dem Hauptstrome der Philosophie – den Krieg als ein unentbehrliches Mittel, »damit die sittliche Gesundheit der Völker in ihrer Indifferenz gegen das Festwerden der endlichen Bestimmtheiten erhalten wird«.
Sein Regierungsideal ist die Herrschaft der Intelligenz, wie ein philosophisch geschultes, von geistigen Aufgaben erfülltes Beamtentum sie darstellt; die Volksvertretung greife nicht in die Staatsgeschäfte ein, aber sie halte die Regierung zur Darlegung ihres Verfahrens an und hebe dadurch das Leben des Staates auf eine höhere Stufe der Bewußtheit.
Der einzelne Staat bildet aber für Hegel keinen fertigen Abschluß, er mündet ein in den weltgeschichtlichen Prozeß. Immer ist Ein Volk der Hauptträger der Bewegung, jedes Kulturvolk hat seinen besonderen Welttag. Aber es hat diese Stellung nur eine begrenzte Zeit, um die Fackel dann weiterzugeben. Alle Leistungen der einzelnen Völker und Zeiten dienen einer einzigen Idee: der Entwicklung des Geistes zum Bewußtsein seiner Freiheit; durch alles Aufbauen und Zerstören vollzieht sich ein Sichselbsterfassen des Geistes, ein Zurückkehren zu sich selbst, damit aber die höchste Vollendung. Eine solche Freiheit des vollen Beisichselbstseins liegt weit ab von der bloßnatürlichen und subjektiven Freiheit des Anfangs; jene zu erreichen kostet unsägliche Mühe und Arbeit. Denn »die Entwicklung, die in der Natur ein ruhiges Hervorgehen ist, ist im Geist ein harter unendlicher Kampf gegen sich selbst. Was der Geist will, ist, seinen eigenen Begriff zu erreichen, aber er selbst verdeckt sich denselben, ist stolz und voll von Genuß, in dieser Entfremdung, seiner selbst«. Aber zugleich dürfen wir »überzeugt sein, daß das Wahre die Natur hat, durchzudringen, wenn seine Zeit gekommen, und daß es nur erscheint, wenn diese gekommen, und deswegen nie zu früh erscheint, noch ein unreifes Publikum findet«. So ein starker Optimismus, dem manche trübe Erfahrung der Geschichte schroff widerspricht.
Wie nun die einzelnen Epochen Abschnitte und Stufen dieser weltgeschichtlichen Bewegung bilden, das hat Hegel in straffer Konzentration, aber auch mit starker Gewaltsamkeit durchgeführt und bis zur Gegenwart verfolgt, in der er den siegreichen Abschluß des Ganzen, das volle Selbstbewußtsein des Geistes, erreicht glaubt. Er schließt mit der freudigen Überzeugung: »Die Entwicklung des Prinzips des Geistes ist die wahrhafte Theodizee, denn sie ist die Einsicht, daß der Geist sich nur im Elemente des Geistes befreien kann, und daß das, Was geschehen ist und was alle Tage geschieht, nicht nur von Gott kommt, sondern Gottes Werk selber ist.«
Die Höhe des Lebens findet Hegel im Reich des absoluten Geistes, das sich ihm in die Gebiete der Kunst, Religion und Philosophie zerlegt. Den Inhalt bildet überall dieselbe Wahrheit: das sich selbst durch die eigene Bewegung Finden und Aneignen des Denkens, aber die Kunst gibt diese Wahrheit in der Form der sinnlichen Anschauung, die Religion in der der Vorstellung, die Philosophie in der des reinen Begriffs. Überall wird damit zur Hauptsache der Gedankengehalt, überall wird seine Bewegung von den Zwecken des Menschen scharf abgehoben und ganz auf sich selbst gestellt, überall die Frage nach dem menschlichen Glück als zu niedrig verworfen. Das Kunstwerk ist die Verkörperung einer Idee, und in der Religion wird die Verwandlung in ein unbestimmtes Gefühl nachdrücklich abgewiesen: »Der wahre Nerv ist der wahrhafte Gedanke; nur wenn er wahr ist, ist das Gefühl auch wahrhafter Art.« Alle Gebiete unterliegen dabei der weltgeschichtlichen Betrachtung, welche die Gegenwart als den Höhepunkt und Zusammenschluß der gesamten, durch den Gegensatz fortschreitenden Bewegung versteht. Der Religion gibt einen Inhalt die das ganze System durchwaltende Idee von dem Aufgehen des Einzelnen in das Ganze des Denkprozesses und dem Neuwerden aus seiner Kraft. Das Leben und Wirken der Religion schildert Hegel in glutvoller Sprache: »Als Tätigkeit tut sie nichts anderes als die Ehre Gottes zu manifestieren, die Herrlichkeit desselben zu offenbaren. Die Völker haben dann dies religiöse Bewußtsein als ihre wahrhafte Würde, als den Sonntag des Lebens angesehen; aller Kummer, alle Sorge, diese Sandbank der Zeitlichkeit, verschwebt in diesem Äther, es sei im gegenwärtigen Gefühl der Andacht oder in der Hoffnung. In dieser Region des Geistes strömen die Lethefluten, aus denen Psyche trinkt, Worin sie allen Schmerz versenkt, alle Härten, Dunkelheiten der Zeit zu einem Traumbild gestaltet und zum Lichtglanz des Ewigen verklärt.« Mit starker Hand hebt Hegel die Religion über das Befinden des bloßen Individuums hinaus und bindet er alles Einzelne an das Geschick des Ganzen, aber mit Unrecht sucht er die immanente Religion des absoluten Denkprozesses als die philosophische Erfüllung des Christentums darzutun.
Den höchsten Gipfel bildet die reine Philosophie, die Philosophie des Wissens, als »der sich in Geistesgestalt wissende Geist oder das begreifende Wissen«. Sie ist nicht etwas Besonderes neben ihrer Geschichte, sondern deren Bewegung selbst, ihre in Eins zusammengefaßte und vom Gedanken durchleuchtete Bewegung. Die Lehren der einzelnen Philosophen sind nicht zufällige Ansichten und Einfälle bloßer Individuen, sondern notwendige Stufen des Gedankenprozesses. Alles hat hier seinen festen Platz, alles entspringt aus dem Ganzen und mündet ein in das Ganze. Auch bei den einzelnen Denkern dient alle Mannigfaltigkeit einer Hauptidee und gewinnt damit erst einen Sinn und Wert. Der Fortgang dieser Bewegung gehorcht wieder dem Gesetz des Widerspruches, des Aufsteigens durch Satz und Gegensatz, auch hier ist der Kampf der Vater der Dinge. Von der Gegenwart, als der abschließenden Höhe, gesehen, hellt alles Frühere sich auf und zeigt jedes Besondere sein Recht; das Ganze erscheint jetzt als ein »in sich zurückkehrender Kreis, der seinen Anfang voraussetzt und ihn nur im Ende erreicht«. Damit kann sich der Strom der Bewegung in die Seligkeit einer in sich ruhenden Betrachtung verwandeln.
Die Macht der Philosophie Hegels beruht namentlich auf dem Zusammenwirken eines festen, scheinbar mit ehernen Klammern verbundenen Systems und einer reichen, an vielen Punkten mit ursprünglicher Kraft und auch mit packendem Ausdruck durchbrechenden Intuition; um auch dieser ihr Recht zu geben, haben wir den Denker oft mit seinen eigenen Worten reden lassen. So hängt auch die Beurteilung vor allem davon ab, ob das System und die Intuition eine innere Einheit bilden. Diese Frage aber ist zu verneinen. Die Intuition ist hier nicht eine Ausführung und Ergänzung des Systems, sondern sie enthält eine andersartige, reichere und weitere Grundüberzeugung. Das System, streng auf seine eigentümliche Behauptung zurückgeführt, bietet nicht mehr als ein Denken des Denkens, eine Ausstrahlung der Formen und Kräfte des Denkens ins All, eine Verwandlung der ganzen Wirklichkeit in ein Gewebe logischer Verkettung. Das ist nicht erreichbar ohne alles unmittelbare Leben zu zerstören und alle seelische Innerlichkeit auszutreiben. Es widerspricht diesem Hauptzuge schroff, wenn ein Reich der Gesinnung, eine seelische Tiefe, ein Beisichselbstsein des Lebens anerkannt wird; in Wahrheit müßte alles derartige vor jenem logischen Getriebe verschwinden; so ganz müßte unser Sein in dieses aufgehen, daß für irgendwelches Erleben des Prozesses, für eine Verwandlung in Tat und eigenen Besitz nicht der mindeste Platz verbliebe. Der Fortgang des Denkprozesses müßte also mehr und mehr alles Innenleben verzehren und aus dem Menschen ein seelenloses Werkzeug eines intellektuellen Kulturprozesses machen. Eine solche Bewegung erscheint in Wahrheit bei Hegel; soweit sie durchdringt, siegt die leere Form, die Abstraktion, die Seelenlosigkeit; so nicht nur bei Hegel, sondern auch im Ganzen der modernen Kultur.
Aber es wirkt ihr in jener Philosophie unablässig entgegen eine kräftige Intuition eines großgearteten Mannes, der eine reiche Zeit zusammenfaßt und allen Ertrag der weltgeschichtlichen Erfahrung für seine Welt zu verwerten weiß. Die Begriffsarbeit erscheint hier nicht als ein allverzehrender Moloch, sondern als eine freundliche Macht, die dem Leben zur vollen Herausarbeitung seiner Tiefe verhilft und sich so einer weiteren Aufgabe einfügt. So schöpft z. B. Hegels Kunstphilosophie aus dem unermeßlichen Reichtum der alten und neuen Literatur, so erwärmt und beseelt sich die Religionsphilosophie durch das Christentum, so bereichert die politischen Begriffe die antike Welt wie der moderne Kulturstaat, so ist überall da Hegels Denken fruchtbar und eindringlich, wo eine lebendige Anschauung geistigen Schaffens der bloßen Begriffsbewegung die Wage hält.
Wo hingegen dem Denker die Intuition versagt, wie namentlich gegenüber der Natur, wo also die Begriffskonstruktion allein aus sich selbst zu schöpfen hat, da wird Hegel formal, leer, unerträglich; die trotzdem aufrecht erhaltenen Ansprüche reizen zu schroffer Abweisung. Denn hier erscheint mit einleuchtender Klarheit, wie wenig die Schraube des Begriffes zu leisten vermag, wenn sie keinen Widerhalt findet, sondern in leerer Luft zu arbeiten hat.
So erscheint bei Hegel ein harter Widerspruch: der Fortgang der Arbeit zerstört eben das, dessen Bestehen zu ihrer eigenen Größe gehört. Der Widerspruch kommt bei dem Denker selbst nicht zum Ausbruch, weil seine Persönlichkeit immer wieder Methode und Intuition in ein leidliches Gleichgewicht brachte. Aber jenseits der Person und ihres Werkes mußte der Konflikt alsbald entbrennen und dann das Ganze zersprengen.
Mag jedoch bei Hegel noch so vieles verfehlt und angreifbar sein, seine überragende Größe ist unbestreitbar; inmitten alles Problematischen hat er allgemeinere Wahrheiten zur Geltung gebracht, deren Anerkennung auch die Gegner sich nicht entziehen können. Mit hinreißender Kraft wirkt aus ihm ein Selbständigwerden und Sichselbstbewegen der geistigen Arbeit mit ihren Gedankenmassen gegenüber allen menschlichen Maßen und Zwecken, allem subjektiven Meinen und Mögen, eine Emanzipation des. Denkens von der Kleinheit des bloßen Menschen; es wirkt hier die Idee eines allumfassenden, alle Gebiete gleichartig gestaltenden Systems und ein Sehen aller Dinge im Großen und Ganzen; es wirkt der Gedanke einer unaufhörlichen Bewegung des Lebens, der Flüssigkeit aller einzelnen Gebilde und ihrer Abhängigkeit von Lauf und Lage des Ganzen, auch der einer ungeheuren Macht der Verneinung in unserem Leben, der aufrüttelnden und forttreibenden Kraft des Widerspruchs, des Hindurchgehens aller geistigen Bewegung durch schroffe Gegensätze. Alle diese Ideen sind bewegend und folgenreich, eine Gedankenwelt, die sie ablehnt, müßte kläglich verarmen. Hegel aber hält sie uns vor nicht durch ein bloßes Programm, sondern durch das Riesenwerk einer streng gegliederten und fest geschlossenen Arbeit. Dieses Werk ist ein unversöhnlicher Gegner alles Utilitarismus und Psychologismus. Müssen wir aber bei aller Anerkennung dessen die Gleichsetzung von Geist und Denken und die Verwandlung der Welt in bloßes Denken als eine Irrung verwerfen, so wird der Widerspruch des Gesamteindruckes verständlich; es erhellt, wie die Verquickung großer Ideen und starker Einseitigkeit uns zugleich anziehen und abstoßen muß.
Hegel hat den Widerspruch, die innere Dialektik der Begriffe, in den Mittelpunkt der Denkarbeit gestellt; die Macht dieser Dialektik hat auch sein eigenes Werk erfahren. Seine Absicht war, durch die Aufhellung und Zusammenfassung der weltgeschichtlichen Bewegung zur Befestigung, Beruhigung, Versöhnung zu wirken; wie das System sich unmittelbar gibt, mit seinem Streben, das Wirkliche, als vernünftig und das Vernünftige als wirklich zu erweisen, trägt es ein konservatives Gepräge. In Wahrheit hat es stürmische Leidenschaften entzündet und, zerstörende Bewegungen eingeleitet, vornehmlich in religiösen, politischen und sozialen Dingen; es bildet die stärkste Triebkraft des Radikalismus der Neuzeit. Wie konnten Wollen und Wirken einander hier so widersprechen?
Vor allem deshalb, weil ein Widerspruch im eigenen Wesen steckt, ein Widerspruch, den mit besonderer Stärke die Geschichtsphilosophie empfinden läßt. Denn indem sie die ganze Wirklichkeit in einen rastlosen Fortgang verwandelt, will sie zugleich diesen Fortgang überschauen; so enthält sie gleichzeitig einen Zug zum Stabilismus eines letzten Abschlusses und zum Relativismus eines unbegrenzten Weiterstrebens, Die Unermeßlichkeit des Denkprozesses verlangt einen solchen Fortgang in der Zeit, unmöglich kann ein besonderer Zeitpunkt der Bewegung Stillstand gebieten. So müßte sich auch die Gegenwart als ein bloßes Glied der endlosen Kette verstehen und gemäß dem Gesetz des Widerspruches ein Umschlagen ihres Strebens in das gerade Gegenteil erwarten. Aber diese Folgerung kann Hegel unmöglich dulden, er würde damit auf den Kern seines Systems und auf das Recht einer spekulativen Betrachtung verzichten. Denn diese fordert ein Überblicken des Ganzen der Bewegung, da nur vom Ganzen her die Gegensätze sich überwinden und zusammenhalten lassen; jener Überblick aber ist unmöglich ohne eine Erhebung aus dem Werden in ein ewiges Sein, ohne eine Versetzung in ein Reich letztgültiger Wahrheit. Einen solchen Abschluß kann Hegel daher nicht entbehren, wenn seine Philosophie nicht bloß der Ausdruck einer besonderen Zeitlage, ein kulturgeschichtlicher Durchblick vergänglicher Art werden soll. So wirken beide Bestrebungen direkt gegeneinander, in diesen Zusammenhängen sind sie unmöglich vereinbar. In der Gesinnung des Urhebers siegte die konservative Richtung und bewirkte eine ruhige Betrachtung der Dinge, bei den Nachfolgern dagegen, dem Hauptzuge der Zeit gemäß, die radikale, sie trieb zu stürmischer Bewegung und schrankenlosem Relativismus. Hier wird die Wahrheit ein bloßer Ausdruck der Zeit, ein Mittel für die Notwendigkeiten des Lebens und seine wechselnden Forderungen.
Aber mochte der Radikalismus und Relativismus im Systeme, selbst angelegt sein, sein rasches Hervorbrechen war die Folge einer wesentlich veränderten Lage. Eben die Zeit, wo Hegel starb, vollzog eine Wendung des gemeinsamen Lebens zu den Problemen des sichtbaren Daseins und demgemäß eine Wendung der Philosophie vom Idealismus zum Realismus. Bis zu Hegel überwogen die Fragen der inneren Bildung, und dem Menschen gab allen Wert ein Teilhaben an geistigem Schaffen. Nunmehr dagegen wird zur Hauptsache der Mensch des unmittelbaren Daseins, der Mensch wie er leibt und lebt; sein Verhältnis zur Natur und Gesellschaft zeigt sowohl fruchtbarste Aufgaben als schwere Verwicklungen; so sehr bemächtigen diese sich alles Sinnens und Strebens, daß die Welt der Dichtung und Spekulation dagegen verblaßt und, wenn nicht verschwindet, so doch zu einer bloßen Umsäumung des Lebens wird. Erhält sich in solchen Zusammenhängen die Denkweise Hegels, so wird der bloße Mensch – sei es als Individuum, sei es als Masse – jene gewaltige intellektuelle Bewegung an sich reißen und ihre Steigerung des logischen Vermögens, ihre Beweglichkeit der Begriffe, ihre Verflüchtigung alles Stoffes, ihr Fortschreiten durch den Widerspruch zur Erhöhung der eigenen Macht benutzen; alsdann kann er sich getrauen, die Dinge nach seinem Belieben so oder so zu wenden, nun weist die Reflexion alle sachliche Bindung ab, nun erfolgt ein Umschlag zur Denkweise der gleichberechtigten »Standpunkte« und »Gesichtspunkte«, ein Umschlag zu einer modernen Sophistik, wie auch die alte Sophistik aus dem Hegel verwandten System Heraklits hervorgegangen ist.
Wenn ferner mit jener Umwälzung die bis dahin verkümmerten und verachteten materiellen Aufgaben sich um so stärker regen, so können sie die reichen Mittel jener Gedankenarbeit, das ganze Rüstzeug logisch-dialektischen Verfahrens sich aneignen und ihren Zwecken dienstbar machen; so wendet z. B. eine sozialdemokratische Lehre die Geschichtsphilosophie ins ausschließlich Wirtschaftliche und verfällt damit dem Materialismus. Ohne die von Hegel entlehnten Waffen wäre der wirtschaftliche Radikalismus nun und nimmer so mächtig geworden.
So hat Hegel die zerstörende Macht der dialektischen Methode mit besonderer Stärke an sich selbst erfahren. Von Anfang an wirkten in seiner Gedankenwelt dämonische Mächte, aber einstweilen bändigte sie die geistige Kraft, und beschwichtigte sie die geschlossene, fast spießbürgerliche Persönlichkeit des Mannes; auch lag das Reich ihres Wirkens jenseits der Forderungen und Leidenschaften des sinnlichen Daseins, es war ein Kampf der Geister im reinen Äther der Gedanken. Aber mit Hegel selbst entfiel jene Bindung, die dämonischen Mächte zerrissen das bisherige Gefüge und verfolgten rücksichtslos ihre eigene Bahn. Zugleich stiegen sie von jener Höhe in das unmittelbare Dasein herab, verschmolzen mit seinen Zwecken und ergossen in seine Bewegungen ihre Leidenschaft, ihren grenzenlosen Lebensdrang. Unter den dadurch erweckten Problemen steht unsere eigene Zeit. Wird sie jene dämonischen Mächte zu bändigen und ihren Wahrheitsgehalt zur Vernunft zu leiten vermögen?
β. Schleiermacher.
Zu den Führern des deutschen Idealismus gehört auch Schleiermacher (1768-1834). Er hat nicht die durchdringende und umwandelnde Kraft der eben behandelten Denker, nicht ihre charakteristische Gestaltung und starke Färbung des Bildes der Welt. Aber er ist auch minder gewaltsam, mit mehr Frische und Unbefangenheit läßt er den Reichtum der Welt seine feine und bewegliche Individualität ergreifen, im Austausch von Seele und Welt entsteht ein künstlerischer Lebensprozeß, der alles Starre in Fluß bringt, alle Mannigfaltigkeit einander verwebt, alles Empfangene veredelt. Vor allem bewunderungswürdig ist das Vermögen, die Glieder der Gegensätze, die sich sonst zu einem schroffen Entweder-oder entzweien, einander zu verketten und sich gegenseitig ergänzen zu lassen. Aus solcher Art entwirft Schleiermacher in seiner »Dialektik« eine Kunstlehre des Denkens; wie diese so ist seine ganze Philosophie weniger groß im fertigen Ergebnis als in der Belebung und Durchbildung der Gedankenarbeit, im Überschauen, Gliedern, Verbinden, sie ist vornehmlich die Philosophie einer feingestimmten, dabei allseitigen künstlerischen Individualität. Fehlt hier die gewaltige Wucht und die umwandelnde Kraft der konstruktiven Systeme, so ist die platonische Frische und Anmut des Geistes in keinem anderen deutschen Denker so anschaulich wiedererstanden.
Schleiermacher hat zunächst, namentlich in seinen Jugendschriften, die Selbständigkeit und Innerlichkeit des Seelenlebens in glänzender Weise verfochten und durch seine Behandlung verstärkt. Das Leben wird hier ganz auf sich selbst gestellt und in sich selbst vertieft, seinen Wert empfängt es nicht durch irgendwelche Leistung nach außen, es trägt ihn in seiner eigenen Gestaltung, indem es bei sich selbst vom Endlichen zum Unendlichen, von der Notwendigkeit zur Freiheit, vom Wandel der Zeit zur Ewigkeit aufsteigen kann. Die Aufgabe wird dahin gestellt, »die Menschheit in mir zu bestimmen, in irgendeiner endlichen Gestalt und festen Zügen sie darzustellen und so selbstwerdend Welt zugleich zu bilden.« Jeder soll das in eigener Art, in einer eigentümlichen Mischung der Elemente der Menschheit tun. Dies aber kann er nicht ohne einen offenen Sinn für alles ihn umgebende Menschenleben; »keine Bildung ohne Liebe, und ohne eigene Bildung keine Vollendung in der Liebe: eins das andere ergänzend, wächst beides unzertrennlich fort.« So wird zur allesüberragenden Forderung ein solches in sich selbst gegründetes und mit sich selbst befaßtes Leben: »Beginne schon jetzt dein ewiges Leben in steter Selbstbetrachtung; sorge nicht um das, was kommen wird, weine nicht um das; was vergeht, aber sorge, dich selbst nicht zu verlieren, und weine, wenn du treibst im Strome der .Zeit, ohne den Himmel in dir zu tragen.« Bei solcher Fassung des Lebens kann der Mensch stets in der »sorglosen Heiterkeit der Jugend« wandeln, denn »ein selbstgeschaffenes Übel ist das Verschwinden des Mutes und der Kraft; ein leeres Vorurteil ist das Alter«. »Nie werd' ich mich alt dünken, bis ich fertig bin; und nie werd', ich fertig sein, weil ich weiß und will, was ich soll.«
Unter den einzelnen Gebieten empfangen von Schleiermacher wesentliche Förderung namentlich die Religion und die Moral. Erst er gibt der Religion auf dem Boden der neueren Wissenschaft eine volle Selbständigkeit, während sie sonst entweder als eine bloße Art der Erkenntnis oder als eine bloße Hilfe moralischer Bildung galt. Jene Selbständigkeit aber wird gewonnen, indem Schleiermacher der Religion eine eigene geistige Wurzel im Gefühle und zugleich eine hohe Aufgabe im Ganzen des Lebens zuerkennt. Das Gefühl bedeutet ihm dabei nicht ein besonderes Seelenvermögen neben anderen, sondern es ist ihm als die »ursprüngliche Einheit oder Indifferenz des Denkens und Wollens« die beseelende Wurzel alles Lebens, es löst den Menschen nicht ab von der Welt, sondern es bildet die Stätte, die ihn mit der Tiefe der Wirklichkeit verbindet und ihre Unendlichkeit ihm zuführt. Die Religion wolle nicht die anderen Lebensgebiete beherrschen, aber sie soll das ganze Leben vergeistigen und veredeln, indem sie ihm stets die Beziehung zum Unendlichen gegenwärtig hält. »Die religiösen Gefühle sollen wie eine heilige Musik alles Tun des Menschen begleiten, er soll alles mit Religion tun, nichts aus Religion.« Wenn jene Beziehung vor allem ein Abhängigkeitsgefühl erweckt, so versteht Schleiermacher das nicht im mindesten als eine Gedrücktheit des Gemütes, vielmehr hat er aus jenem Gefühl festen Mut und unbeugsame Kraft geschöpft. Die Gestaltung einer derartigen Religion stößt mit der Wissenschaft nirgends feindlich zusammen, weil sie nichts vom Weltstand draußen behauptet, sondern lediglich dem religiösen Gefühl zu seiner Darstellung verhilft; diese Darstellung kann im geschichtlichen Lauf sehr wohl sich verändern müssen, ohne daß darüber die Religion selbst, das religiöse Grundgefühl, eine bloße Zeiterscheinung wird. So erlangt innerhalb der Religion selbst eine geschichtliche Ansicht ein Recht, und es bahnt sich eine Versöhnung der Religion mit der Kulturarbeit an. Mit dem allen hat Schleiermacher zu ihrer Belebung im 19. Jahrhundert mehr gewirkt als irgend ein anderer Denker.
Auch das Gebiet der Moral verdankt ihm viel. Kant und Fichte hatten hier starke Antriebe gegeben und eine epikureisch gesinnte Zeit aus der Verweichlichung aufgerüttelt. Aber mit der Größe ihrer Leistung verband, sich viel Härte, und Einseitigkeit; der Pflichtgedanke drängte alle andere Erwägung zurück, und die Individualität des Handelnden blieb im Hintergrunde. Schleiermacher hat demgegenüber eifrig für ein Gleichmaß der Behandlung gewirkt. Diese ist universal, sofern sie die verschiedenen Seiten des ethischen Lebens in Gütern, Tugenden, Pflichten miteinander zur Geltung bringt – Schleiermacher hat diese Einteilung erst aufgebracht –, universal, sofern sie das ganze Leben in die ethische Schätzung hineinzieht und seine ganze Verzweigung, z. B. die Ehe, das häusliche Leben, die Kindererziehung, auch die geselligen Umgangsformen, damit zu durchdringen und zu Veredeln sucht, universal auch insofern, als sie mit der Anerkennung einer gemeinsamen Vernunft die des Rechtes und Wertes der Individualität, als des Gesetztseins der an sich selbst gleichen und selbigen Vernunft zu einer Besonderheit des Daseins«, verbindet. Es läßt sich nicht leugnen, daß bei dem allen der Begriff des Moralischen nicht scharf abgegrenzt und zu sehr der Natur angenähert wird, aber jenes Wirken zum Ganzen bleibt ein bedeutendes Verdienst und hat viel Anregung gebracht. Auch das bleibe nicht unerwähnt, daß Schleiermacher den wärmsten Sinn für Volk und Vaterland hat, er ist nicht erst wie Fichte durch die gewaltige Katastrophe dazu geweckt, er hat ihn schon vorher offen bekannt und mutig verfochten. Er tadelt hart einen Kosmopolitismus, der, »anstatt auf sein Volk und mit seinem Vaterlande zu wirken, sich weiter ausstreckt und auf das Ganze des menschlichen Geschlechtes anlegt«, er setzt dem die Wahrnehmung entgegen: »Alle, die Gott zu etwas Großem berufen, hat in dem Gebiet der Wissenschaften, in den Angelegenheiten der Religion, sind immer solche gewesen, die von ganzem Herzen ihrem Vaterlande und ihrem Volke anhingen und dieses fördern, heilen, stärken wollten.« So hat er selbst es eifrig und unerschrocken vor und bei der nationalen Erhebung unseres Volkes getan. Mit allen solchen Leistungen hat Schleiermacher zum Aufbau des neueren deutschen Lebens erheblich beigetragen, einem weiten und reichen Bildungskreise angehörig hat er einen eigenen Weg verfolgt und mit seinem Wirken eine größere Beweglichkeit und Innerlichkeit des Lebens, eine Ausgleichung seiner Gegensätze, eine durchgängige Erfrischung und Veredlung des menschlichen Daseins herbeiführen helfen.
γ. Schopenhauer und der Rückschlag gegen die Vernunftsysteme.
Mit Schopenhauer (1788-1860) beginnt ein starker Rückschlag gegen die Überzeugung von der Vernunft der Wirklichkeit, die das Schaffen des deutschen Humanismus erfüllte und eigentümlich gestaltete. Wie jene Überzeugung nirgends mehr zu philosophischem Ausdruck kommt als bei Hegel, so bildet Schopenhauer zu diesem den schroffsten Gegensatz. Hegel macht das Denken, Schopenhauer das Empfinden zur Grundkraft des Seelenlebens; dort wird der erste Eindruck wesentlich umgebildet und weit zurückgedrängt, hier dagegen wird er vollauf anerkannt und zähe festgehalten; statt der logischen Verkettung dort ist es hier ein Zusammenschießen starker Gefühle, das die Welt zur Einheit verbindet. Aber wenn die Erfahrung bei Schopenhauer weit mehr Recht erlangt, so bleibt auch er ein Metaphysiker, er gewinnt einen Standort, von dem er die Erfahrung überschaut und zurechtlegt, ja für den sich ihm die nächste Welt in eine bloße Erscheinung verwandelt. Kräftige Grundanschauungen, seelische Stimmungen tragen hier alle Arbeit, sie stellen weit mehr die vorhandene Welt von vornherein unter einen eigentümlichen Anblick, als sie durch Einzelerfahrung aus ihr entspringen. Die Philosophie scheint hier der Kunst aufs nächste verwandt, und das Gesamtergebnis ist weniger eine Welterklärung als ein Weltgemälde größten Stiles. Daher hat diese Gedankenwelt vornehmlich künstlerisch angelegte Naturen gefesselt. Auch die klare Anschaulichkeit der Sprache, sowie das Treffende und Packende der Bilder hat zu solcher Wirkung nicht wenig beigetragen.
Den Kern des Menschenwesens, dann aber der ganzen Wirklichkeit findet Schopenhauer in einem dunklen Lebenstriebe, einem blinden, rastlos fortstrebenden, durch keine Vernunft gelenkten Wollen. Dies Wollen, nicht das Erkennen, zeigen tausendfache Erfahrungen des menschlichen Kreises wie der großen Natur als die allbewegende Kraft. Was das tierische Leben an Intelligenz entwickelt, dient lediglich der Selbsterhaltung der Wesen. Beim Menschen ringt der Intellekt sich zu größerer Freiheit auf, aber auch hier bleibt das Wollen im Obergewicht und reißt das Erkennen oft übermächtig mit sich fort; selbst auf der Höhe wissenschaftlicher Arbeit wird es leicht aus seiner Bahn gelenkt, sobald in es selbstische Zwecke des Forschers, sobald Liebe und Haß einfließen.
Solche Überzeugungen ergeben ein scharfbeleuchtetes und eindrucksvolles Bild der Natur. Sah die klassische Zeit in ihr eine Welt künstlerischer Gestaltung und aufstrebender Bildung, und hatte eine romantische Beleuchtung sie zu einem Reiche stiller Größe und seligen Friedens verklärt, so erscheint sie nun als ein Schauplatz dunklen Lebensdranges und wilden Kampfes. Durch die ganze Natur geht eine rücksichtslose Selbstbehauptung der Wesen, ein unbedingter Wille zum Leben; so wenig dies Leben bietet, die Wesen umklammern es mit zäher Gier. Dabei treibt und hetzt die Enge des Daseins sie unaufhörlich gegeneinander, ein Wesen wie das fleischfressende Tier kann nicht bestehen ohne ein stetes Vernichten anderer Lebewesen; den Sieger aber bezwingt alsbald ein noch Stärkerer; so steht jedes Wesen immerfort in Aufregung und Gefahr, und das rast- und sinnlose Getriebe des Ganzen ergibt ein Schauspiel trübster Art.
Steht es beim Menschen besser? Gewiß erscheint hier etwas Neues, der Wille zündet bei ihm im Intellekt sich ein Licht an, das Leben gelangt zur Bewußtheit, der Ausblick wird freier, das Empfinden feiner. Aber solche Weiterbildung steigert erst recht das Leid; was immer das Leben an Hemmung und Elend enthält, das wird nun erst vollauf empfunden. Der Mensch mit der Feinheit seiner Nerven, der Beweglichkeit seines Denkens, der Erregbarkeit seiner Phantasie erlebt nicht nur was ihn direkt trifft, sondern er muß alle Möglichkeiten sich ausmalen, alles Leid tausendfach im voraus erleben. Wie Gespenster umschweben ihn Sorgen und Ängste auch inmitten augenblicklichen Wohlseins. Wie viel stärker, wie viel quälender beschäftigt der Tod den Menschen als das Tier! ja, genauer betrachtet, überwiegt das Unglück nicht nur, sondern gibt es überhaupt kein rechtes Glück. Positiv gefühlt wird nämlich nur der Schmerz; was Freude heißt, ist nur eine Aufhebung oder doch Linderung eines Schmerzes. Die Gesundheit fühlen wir nicht, wohl aber die Krankheit, den Besitz nicht, wohl aber den Verlust. Es sind nur kurze Übergangszustände, wie das Gesunden, das zum Wohlstand Gelangen, welche Freude bereiten; sehr bald entsteht eine Gleichgültigkeit, eine Leere und Langeweile; der unersättliche Lebensdrang, der immer beschäftigt sein will, sucht gierig Neues und anderes und verfällt dadurch neuen Schmerzen. So schwingt das Leben unablässig gleich einem Pendel zwischen Schmerz und Langeweile hin und her; über die Langeweile, die innere Leere des landläufigen Daseins leidlich hinwegzutäuschen, das ist der Hauptzweck aller Unterhaltungen und Zerstreuungen des gesellschaftlichen Lebens. Daß der Schmerz das Positive ist, das bezeugen auch die Dichter, indem sie die Höllenqualen in glühendsten Farben malten, den Freuden des Himmels aber keine Anschaulichkeit zu geben vermochten.
Das alles wäre erträglich, könnte der Mensch am eigenen Bilde Gefallen finden und den Wirren und Nöten des Lebens eine innere Größe und Würde entgegensetzen. Das aber kann er nicht, denn er findet sich selber klein und weit mehr von unedlen Beweggründen als von edlen beherrscht. Die natürliche Selbstsucht aller Wesen wächst bei ihm zu raffiniertem Egoismus und zu ausgesprochener Bosheit; in allen Erlebnissen seiner Umgebung, seiner Freunde und Angehörigen sieht er an erster Stelle, was ihm selbst zu Nutzen oder Schaden gereicht. Dabei eine stete Heuchelei, die ihren Träger nach außen hin als edel und selbstlos darstellen möchte; auch eine durchgängige Eitelkeit und Torheit, die das Streben auf die nichtigsten Dinge richtet und sich am meisten darum müht, das Individuum in der Meinung der anderen emporzuheben. Das alles aber hält den Menschen, auch wenn er es in tiefster Seele verwirft, unbarmherzig fest, gibt es doch keine Möglichkeit einer inneren Wandlung, einer moralischen Läuterung. Denn alles Streben entfließt einem unwandelbaren Charakter, alle Einwirkung vermag nur die Erkenntnis, nicht den Willen zu ändern, »wollen läßt sich nicht lernen ( velle non discitur)«. Die bösen Neigungen mögen durch wachsende Bildung sich minder roh Und minder gefährlich gestalten, ihren Kern verändern sie nicht. Auch verspricht weder die Arbeit der Geschichte noch der Zusammenhang des gesellschaftlichen Lebens eine Wendung zum Besseren; die Weltgeschichte mit der Sinnlosigkeit ihres Treibens und der Fülle ihres Leidens muß einem unbefangenen Beobachter wie ein wüster Traum der Menschheit erscheinen; im gesellschaftlichen Zusammensein summiert sich weniger die Vernunft als die Unvernunft, namentlich entfesselt die politische Freiheit weit mehr Selbstsucht und Parteiwut als sie das Leben erhöht. So eine schroffe Abweisung der geschichtlich-gesellschaftlichen Ideale und Hoffnungen des 19. Jahrhunderts, ein entschiedener Rückschlag gegen den demokratischen Zug des Jahrhunderts, ein deutliches Beispiel; wie sehr die moralische Bewertung des Menschen die politischen Lehren beherrscht. Damit verschwindet alle Aussicht auf Rettung in der Erfahrungswelt. Aber inmitten aller Verkettung und Verstrickung in das Weltgetriebe verbleibt ein Gefühl der Verantwortlichkeit und läßt sich nicht vertreiben; das Elend erreicht seinen Gipfel, indem wir nicht ablehnen können, es auf unsere Freiheit zu nehmen und als unsere Schuld zu betrachten.
Dieser Widerspruch von Freiheit und Notwendigkeit verrät eine schwere Verwicklung, aber auch eine größere Tiefe unseres Wesens. Wie das Leben, in dem wir uns finden, nicht aus sich selbst verständlich ist, so kann es nicht das Letzte sein, es muß seinen Ursprung in einem freien Handeln haben, in einer Selbstbejahung des Willens, welche dieses Leben in Zeit und Raum hervorrief; zugleich ist die Spaltung des Willens in zahllose einander feindliche Wesen erfolgt, deren Zusammenstoß jenes Leid erzeugt; damit entstand das unermeßliche Elend, das wir so schmerzlich empfinden, und das uns so strenge festhält.
Indes verzweifelt der Denker nicht an aller Möglichkeit einer Wendung. Zunächst vermag die Ausbildung eines beschaulichen Verhaltens zur Welt das Elend zu mildern. Ein solches Verhalten erzeugen richtig verstanden Kunst und Wissenschaft. Beide eröffnen einen objektiven Gehalt der Dinge und erfüllen uns mit seiner Anschauung. Je mehr wir uns aber rein anschauend verhalten, desto mehr legt das Wollen seine Unruhe ab, es schweigen die Leidenschaften, es verfliegt das selbstische Interesse mit seinen Aufregungen, Sorgen und Schmerzen. Das um so mehr, als Schopenhauer, unvermittelt genug, in den Grundformen der Natur, schöne Gestalten nach Art der platonischen Ideen findet und damit die bloße Betrachtung zu einem künstlerischen Schauen steigert.
Am sichtbarsten ist die befreiende Kraft solcher künstlerischen Kontemplation beim Genie, das im Schaffen und Schauen zu vollkommener Objektivität gelangt und darüber die Angelegenheiten des Weltgetriebes ganz vergißt. Augenblicke der Kontemplation haben aber auch die übrigen Menschen, als eine Oase in der sonstigen Wüste des Daseins. Wissenschaft und Kunst erhalten mit solcher Zurückführung auf die reine Anschauung einen völlig anderen Charakter als bei Hegel. Suchte dieser in allen Geisteswerken eine aufhellende Idee, so liegt nun alles an der bewältigenden Kraft des unmittelbaren Eindrucks, der Erregung willenloser Stimmung. Zugleich nähert sich die Wissenschaft der Kunst; zur Kunst der Künste wird die Musik, indem sie alle Regungen unseres innersten Wesens wiedergibt, jedoch ohne die Wirklichkeit und frei von ihrer Qual. Das Drama aber läßt in seinem tragischen Abschluß das ganze Leben wie einen schweren Traum erscheinen und stärkt die Überzeugung, daß noch ein ganz anderes Sein bestehen muß als das, was uns hier umfängt.
Auf diesem Wege wird jedoch das Problem mehr zurückgeschoben als gelöst, das Elend mehr gemildert als aufgehoben; auch steht er nicht immerfort und nicht allen Menschen offen. Eine gründliche Befreiung bewirken kann nur eine völlige Brechung des Willens zum Leben, und zu dieser führt lediglich das echte und starke Mitleid mit allem, was da lebt und leidet, nicht nur den Menschen, sondern allen empfindenden Wesen; insofern ist die Hilfe nicht wissenschaftlich-künstlerischer, sondern moralischer Art. Indem nämlich solches Mitleid uns das Leid der anderen ganz und gar als ein eigenes empfinden und damit die ganze Schwere des Weltelendes auf den einzelnen Punkt fallen läßt, wächst die Größe des Leides bis zur Unerträglichkeit; alle Hoffnung eines Entrinnens muß schwinden, alle Lust am Leben vergehen. Gleicht das Leben einer von glühenden Kohlen bedeckten Kreisbahn mit einigen kühlen Stellen, so mag zunächst der Einzelne gerade diese Stellen zu erwischen hoffen. Sobald er aber alle anderen Wesen in sein Empfinden einschließt und in allen sich selber erkennt, muß solche Hoffnung verschwinden. Alsdann wird der Wille in sich gehen, die Bejahung des Lebens zurücknehmen und seine Verneinung vollziehen. Was aber im Menschen, dem Höhepunkt der Welt, geschieht, das läßt eine Umwälzung im Ganzen des Alls erwarten: dies ganze Dasein wird zusammenbrechen, das ja nur der ungestüme Lebensdrang des Willens hervorgebracht hat. So winkt hier eine große Erlösung, eine volle Stille und Ruhe, die aber ein leeres Nichts nur dem scheinen kann, dem die nächste Welt des Scheines als die wahre und letzte Wirklichkeit gilt.
Die Schätzung Schopenhauers wird auseinandergehen, je nachdem sein Werk als ein Stück der weltgeschichtlichen Bewegung betrachtet oder als letzter Abschluß behandelt wird. Dort erscheint seine Gedankenwelt als ein berechtigter, ja notwendiger Rückschlag gegen den überwiegenden Optimismus und Kulturenthusiasmus nicht nur der Aufklärung, sondern auch des deutschen Humanismus, ja der gesamten Neuzeit. Ein starkes Lebensgefühl ließ den Menschen die Wirklichkeit als ein Reich der Vernunft betrachten, die freundlichen Seiten der Dinge hervorkehren, den Widerspruch des ersten Eindrucks durch Einfügung aller Mannigfaltigkeit in künstlerische oder logische Zusammenhänge beschwichtigen. Das mußte sich durch sein eigenes Fortschreiten überspannen und zum Widerspruch reizen; Schopenhauer hat diesen mit souveräner Selbständigkeit und in klassischer Form zum Ausdruck gebracht; er hat für sich den schlichten Wahrheitssinn, wenn er das Dunkle und Böse unserer Welt auf der ganzen Linie zur Geltung bringt; er rückt andere Seiten des Geschehens, andere Gruppen von Tatsachen in den Vordergrund; indem er Fehler berichtigt, entwirft er zugleich neue Ziele; so vollzieht er eine gründliche Sichtung des überkommenen Besitzes. Allem bequemen Optimismus und Rationalismus wird hier auf dem eigenen Boden der Philosophie eine tödliche Wunde geschlagen; mit der Zurückverfolgung des Problems bis auf seine tiefste Wurzel, bis ins Metaphysische hinein, treibt der Denker jener energisch die Neigung aus, dem Menschen die Welt und das Leben möglichst glatt und annehmbar darzustellen.
Aber es ist ein anderes, Schopenhauers Bedeutung in dieser Weise anzuerkennen, ein anderes mit ihm abzuschließen. Dagegen spricht schon dieses, daß seine Behandlung und Schätzung der Dinge mindestens ebenso einseitig und eher noch subjektiver ist als die von ihm abgelehnte; hatte man früher zu ausschließlich bei dem Licht verweilt, so wird jetzt geflissentlich das Dunkel aufgesucht, und es schwelgt der Denker mit sichtlichem Behagen in der Kraßheit seiner Schilderung. Wie der Mensch überhaupt die Wirklichkeit entsprechend der Art zu sehen pflegt, die er selbst an sie heranbringt, so verrät jener Zwist der Beurteilung ein grundverschiedenes seelisches Verhalten: die Früheren verliehen aus freudigem Tätigkeitsdrange der Welt einen Wert, indem sie ihre Kraft an ihr stählten und sie möglichst ganz in eigenen Besitz verwandelten, Schopenhauer dagegen bezieht alles Geschehen auf den subjektiven Zustand, die weiche Empfindung und Stimmung, er verhält sich zur Wirklichkeit weit mehr empfangend und leidend. Indem sich dazu ein argwöhnisches und schreckhaftes Temperament gesellt, ergibt sich allerdings ein eigentümlicher, an Enthüllungen reicher Durchblick der Welt, nicht aber eine gleichmäßige Aneignung und gerechte Würdigung; das grelle Schräglicht, in das der Denker jene rückt, mag mit seinen schroffen Kontrasten die Empfindung stark erregen, das dabei gewonnene Bild nähert sich oft einer argen Verzerrung.
Der Mensch Schopenhauers ist eine bloße Zusammensetzung von dunklem Naturtrieb und feiner, aber machtloser Geistigkeit; er gleicht mit seiner Schwäche nicht nur nach außen hin, sondern auch gegen sich selbst, einem angeschmiedeten Prometheus; der Denker kennt nur ein blindes Begehren, kein vernünftiges Wollen, keine ethische Persönlichkeit, er hat keinen Platz für eine innere Bewegung und gründliche Erneuerung des Menschen durch Liebe und Leid, durch Arbeit und Glauben. So ist er bei aller Fülle des Geistes an der entscheidenden Stelle arm, und läßt er die Seele unter der Herrschaft eines unersättlichen Durstes nach Glück, der schließlich wohl oder übel entsagen muß.
Aber nun und nimmer hätte Schopenhauer gewirkt, was er gewirkt hat, enthielte er nicht auch noch viel anderes von größerer Tiefe und größerem Wahrheitsgehalt. Er hat eine gewaltige Kraft metaphysischer Überzeugung, die das Geheimnisvolle des menschlichen Daseins zu deutlichster Wahrnehmung bringt und mit zwingender Kraft die ganze nächste Welt zu einem Reich der Erscheinung herabsetzt, er hat ethische Grundstimmungen wunderbar verkörpert, er ist ein großer Künstler keineswegs bloß in der Frische, Durchsichtigkeit und Eindringlichkeit seiner Darstellung, sondern vor allem in der Verwandlung dieses ganzen dunklen Weltgetriebes in ein künstlerisches Gedankenbild; solche Kontemplation bewirkt eine Veredlung des Ganzen und befreit von der Schwere der Wirklichkeit, die den Menschen sonst gänzlich erdrücken müßte. Erreicht nicht in solcher metaphysischen, ethischen, künstlerischen Leistung das Geistesleben weit mehr Selbsttätigkeit, als Schopenhauers Begriffe folgerichtig erlauben? Erweist sich damit nicht auch hier die Gedankenwelt weiter und reicher als das System?
Das Überwiegen der Verneinung in Schopenhauer erklärt vollauf, weshalb er so spät Anerkennung und Wirkung erreichte. So lange ein freudiger Lebensmut der Zeit sich allem Widerstand gewachsen fühlte, konnte sein System nur ein wunderlicher Einfall dünken; erst als der Idealismus dem Realismus unterlag, bald aber auch dieser seine Schranken empfinden ließ, und damit Ermüdung und Zweifel um sich griffen, begann seine Zeit und konnte der Pessimismus das Feld gewinnen. Als ein Widerspruch aber gegen den Hauptzug der modernen Kultur wird Schopenhauer nicht so bald veralten; mögen seine Antworten abgelehnt werden, seine Fragen bleiben und werden uns noch viel zu schaffen machen.
Unsere Betrachtung der deutschen Idealisten können wir nicht schließen ohne auszusprechen, daß wir nur eine begrenzte Auswahl geboten haben, daß neben den erwähnten Männern manche andere treffliche Denker standen, die nur nicht eine so ausgeprägte Lebensanschauung brachten und nicht eine so starke Wirkung auf weitere Kreise übten. Aber in aller Kürze sei doch des energischen, besonnenen und scharfsinnigen Herbart gedacht, der in unermüdlicher Arbeit eine selbständige Gedankenwelt schuf, der Psychologie wie der Moral wertvolle, ja eingreifende Förderung brachte und der Erziehungslehre zuerst eine durchgebildete Begriffswelt gab. Ebenso sei auch der edle Fries erwähnt, der mit strenger Wissenschaft eine Innigkeit religiöser und ethischer Überzeugung verband, in der Erkenntnislehre die psychologische Seite selbständiger werden ließ, Religion und Kunst einander näher rückte, dabei tapfer und treu für nationale Einheit und politische Freiheit seines Volkes wirkte. Daß diese und noch manche andere eigentümliche Gestalten dem Boden des deutschen Idealismus weiteren Sinnes entwuchsen, das ist auch ein Zeugnis der Kraft, mit der er die Zeit ergriff und die Gemüter bewegte.