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Die deutsche Spekulation und überhaupt der deutsche Idealismus bildet den Höhepunkt und zugleich den Abschluß einer Bewegung, die alle Kulturvölker teilten, die aber in Deutschland zu besonderer Kraft und Leistung kam. Es war ein immanenter Idealismus, der die seelische Tiefe der überkommenen religiösen Lebensordnung festzuhalten, aber sie zugleich unter Befreiung von bisheriger Enge über das Ganze des menschlichen Daseins auszubreiten und dies dadurch zu veredeln suchte. Aber schon seit dem Beginn der Neuzeit bestand auch eine Gegenströmung in der Richtung, das Tun vornehmlich mit dem sinnlichen Dasein zu befassen und von diesem aus das Leben zu gestalten; diese realistische Bewegung hatte in England und Frankreich schon im 18. Jahrhundert viel geleistet und vieles in Fluß gebracht, während die eigentümlichen Schicksale Deutschlands ihr dort eine volle Entfaltung verwehrten und einer literarischen und intellektuellen Kultur die Oberhand gaben. So war denn auch, als im 19. Jahrhundert der Realismus mehr und mehr die Führung des Lebens übernahm, der Umschwung in Deutschland besonders schroff; es wäre kaum zu verstehen, wie das Volk der Dichter und Denker sich so rasch in ein Volk welterobernder Technik und Industrie verwandeln konnte, erinnerte man sich nicht, daß in früheren Zeiten die Deutschen hervorragende Kraft und Tüchtigkeit auch in der sichtbaren Welt erwiesen, und daß erst spätere Geschicke sie vornehmlich dem Befinden des Inneren zugewandt haben.
Namentlich greifbar erscheint die Verschiebung in den Jahren vor und nach 1830. Die Naturwissenschaften, bis dahin keine Stärke der Deutschen, dringen auch bei ihnen vor und wirken auf das Ganze der Weltanschauung; 1826 errichtet Liebig in Gießen ein chemisches Laboratorium neuer Art und Wirkung, und im Winter 1827/28 hält Alexander von Humboldt an der Universität und in der Singakademie zu Berlin Vorlesungen über physische Weltbeschreibung, welche die bildende Kraft der Naturwissenschaften auch weiteren Kreisen zuführen wollten. Dieselbe Zeit bringt technische Erfindungen, die den Verkehr unermeßlich erleichtern, die wirtschaftliche Arbeit beleben, die bisherige Produktionsart verändern: 1827 die Erfindung der Schiffsschraube, welche die Dampfschiffahrt erst recht zum Mittel des Weltverkehrs macht, 1830 die Lokomotiveisenbahn. England geht hier voran, aber andere Völker folgen ihm bald. Zugleich verpflanzen sich von der Pariser Julirevolution Bewegungen auch nach Deutschland hin; das Verlangen nach größerer politischer Freiheit, nach mehr Beteiligung der Bürger an den öffentlichen Angelegenheiten, schläft auch hier nicht wieder ein. Wirtschaftlich blüht Deutschland rasch auf, seit am 1. Januar 1834 der »Deutsche Zoll- und Handelsverein« ins Leben getreten war. Gleichzeitig scheiden die Größen der älteren Epoche: 1827 stirbt Pestalozzi, 1831 Hegel, 1832 Goethe, 1834 Schleiermacher; offenbar versinkt eine alte Zeit und eine neue steigt dafür auf; da in Deutschland die Wendung besonders schroff ist, so hat es besonders viel zu tun, um ein inneres Gleichgewicht des Lebens wiederzufinden. Aber was hier vornehmlich zur Aufgabe wird, das ist ein allen Kulturvölkern gemeinsames Geschick und Problem.
Die neue Woge des Lebens treibt den Menschen ganz und gar zur sichtbaren Welt, um aus dem Verhältnis zu ihr alles Denken und Leben zu gestalten. Beim Weltbild weicht die spekulative Philosophie den Naturwissenschaften und das Wirken findet sein Hauptziel nicht mehr in der inneren Bildung der Individuen durch Kunst und Literatur, sondern in der Hebung des politischen und sozialen Zusammenseins. Das verändert auch die Art der Tätigkeit: nicht mehr hebt eine kühne Phantasie den Menschen über alles sinnliche Dasein hinaus in neue Welten, sondern das Wirken bindet sich eng und streng an den sichtbaren Vorwurf und gestaltet sich jetzt in ausgeprägterem Sinne zur Arbeit. Kaum ist dem 19. Jahrhundert etwas so eigentümlich als das Groß- und Mächtigwerden der Arbeit. Auch den früheren Jahrhunderten fehlte es wahrlich nicht an emsigem Fleiß und an bewunderungswürdigen Vorbildern dessen. Aber im 19. Jahrhundert hat die Arbeit sich selbst verändert, sie hat sich weit mehr von der Seelenlage und den Zwecken des Individuums abgelöst und den Gegenständen enger verschlungen, sie bildet ein eignes Gefüge und entwickelt eigne Gesetze und Forderungen; sie vollzieht – vielleicht die folgenreichste Emanzipation des 19. Jahrhunderts – eine Emanzipation vom Menschen und macht ihn zum Diener und Werkzeug ihres rastlosen Fortschritts. Bei solchem Selbständigwerden erzeugt sie feste Zusammenhänge, die ins Riesenhafte wachsen; so in der Industrie mit ihren gewaltigen Fabrikbetrieben, so im Handel mit seiner weltumspannenden Organisation, so auch in der Wissenschaft mit ihrer unablässig wachsenden Verzweigung. Innerhalb solcher Zusammenhänge hat das Individuum seinen Platz zu suchen, es bedeutet nichts, und es vermag nichts, wenn es Sonderwege einschlägt. Aber die Einschränkung der Individuen hebt das Vermögen der Menschheit. Vereintes Erkennen entringt der Natur ungeahnte Kräfte, und die Technik zieht diese mit der Herstellung neuer Verbindungen in den menschlichen Dienst; auch im Zusammensein der Menschen wird mehr Vernunft erreicht und Unvernunft ausgetrieben, die Organisation der Arbeit macht politische und soziale Aufgaben lösbar, die bis dahin völlig unangreifbar dünkten.
Um so viel zu werden und zu leisten, bedurfte die Arbeit fester Stützen, solche gab ihr eine Verstärkung des Nebeneinander und des Nacheinander der Elemente, ein Wachstum von Gesellschaft und Geschichte. An dieser Stelle besonders entwickelt das 19. Jahrhundert einen völligen Gegensatz zum 18. Denn dieses erstrebte vornehmlich eine Befreiung des Individuums von Gesamtordnungen, die der Verlauf der Zeit zu drückenden Fesseln hatte werden lassen; nicht minder setzte es aller Autorität und Tradition das Recht der lebendigen Gegenwart entgegen und berief sich dabei auf eine zeitlose Vernunft. Schon innerhalb des Idealismus hatte das Widerspruch gefunden und einen Umschlag erfahren: die Romantik wie die Spekulation hatten die Geschichte zu Ehren gebracht, und ein völliger Umschwung der Stimmung hat Hegel die Schätzung des Staates zu gefährlicher Überschätzung steigern lassen. Aber dabei stand hinter der Geschichte und der Gesellschaft eine geistige Welt und verlieh ihnen als ihrer Entfaltung einen inneren Gehalt und Wert. Der Realismus aber verwirft alle unsichtbaren Zusammenhänge, er läßt die Geschichte und die Gesellschaft auf dem Boden der Erfahrung alles geistige Leben erzeugen und macht sie damit zum ausschließlichen Lebenskreise des Menschen; zugleich wächst ihm die nächste Welt unermeßlich an Fülle und Kraft. Nur mit der Ausbildung solcher geschichtlich-gesellschaftlicher Zusammenhänge kann der Realismus das Leben zu führen und nach seinen Maßen zu gestalten wagen.
Dies Streben nach voller Herrschaft und nach selbständigem Aufbau unterscheidet den modernen Realismus von allem, was bis dahin die Geschichte an verwandter Bewegung aufwies. Denn dies Frühere war weit mehr eine Kritik und ein Widerspruch, ein Rückschlag gegen dargebotene und wohl auch aufgedrängte Lebensgestaltungen als ein eigenes Wirken und Schaffen; der moderne Realismus dagegen unternimmt es, den ganzen Umfang unseres Daseins selbst zu tragen und durchzubilden; auch ideale Bedürfnisse der Menschheit leugnet er nicht, aber er gibt ihnen einen neuen Sinn und getraut sich, in diesem sie voll zu befriedigen.
Sein Streben und Hoffen geht dahin, das Leben durchweg wahrhafter, gehaltvoller, kräftiger zu machen, indem er den Menschen von erträumten Höhen abruft und auf den sicheren Boden des sinnlichen Daseins stellt; das scheint das Leben aus tändelndem Spiel zu voller Wahrheit zu führen und ihm in Überwindung der Widerstände mehr Kraft und Fülle zu geben. Solche Wandlung ergreift alle einzelnen Lebensgebiete. Bei der Wissenschaft liegt das vor Augen, nicht minder aber trifft es Religion, Moral und Kunst. Ein inneres Verhältnis zur Religion kann der Realismus bei seiner Bindung des Lebens an die sichtbare Welt nicht haben, aber er sucht die Religion zu verstehen, und er ist bereit, in ihr eine notwendige Durchgangsstufe der menschlichen Entwicklung anzuerkennen. Dagegen erzeugt das neue Leben aus eigenem Vermögen moralische Aufgaben und Antriebe neuer Art. Wie es die Arbeit, diese Bildnerin des Lebens, auf das Ganze des geschichtlich-gesellschaftlichen Zusammenseins gründet, so verlangt es von den Individuen eine willige Unterordnung, ja freudige Aufopferung für die Zwecke des Ganzen, ein unverdrossenes Wirken in Reih und Glied; das Handeln findet nun sein Hauptziel in der Hebung des gemeinsamen Lebensstandes, die Moral wird hier aus einer Bildung und Erhöhung der Persönlichkeit zu einem Handeln für die anderen, zum »Altruismus«. Auch darin liegt ein ethisches Element, daß der Mensch hier strenger an den von der Kulturbewegung erreichten Stand gebunden wird; er muß die Schranken der jeweiligen Lage anerkennen und inmitten vielfacher Entsagung sich Lust und Kraft zur Arbeit bewahren. – Auch die Kunst paßt sich der realistischen Denkweise an, indem sie nicht neue Welten entwirft, sondern sich damit bescheidet, das Dasein selbst genauer sehen zu lehren.
Ein solches neues Leben wird auch neue Lebensanschauungen erzeugen; an Mannigfaltigkeit braucht es dabei nicht zu fehlen, da die sichtbare Welt verschiedene Seiten hat, und sich danach ihr Mittelpunkt an verschiedenen Stellen suchen läßt; namentlich tritt bald die Natur, bald die menschliche Gesellschaft im Bild des Ganzen voran. Danach ergeben sich für uns drei Hauptbewegungen: der Positivismus, der Natur und Gesellschaft miteinander ausgleichen möchte, die Entwicklungslehre mit einem neuen Bilde der Natur, die sozialen, namentlich die sozialdemokratischen Theorien, mit der Forderung einer neuen Gesellschaftsordnung.
Diesen Lebensanschauungen gibt einen festen Halt ihre enge Verkettung mit der Arbeit der Zeit; sie haben den weiteren Vorteil, dem ersten Eindruck der Dinge näher zu bleiben, sie können das Leben unmittelbar bewegen und leichter auf große Kreise wirken. Daß sie vieles bringen und fordern, was auch das Ganze des Lebens fördert, wird kaum einem Zweifel begegnen. Das aber bleibt zu fragen, ob sie mit eigenen Mitteln das Leben ausfüllen und alle Bedürfnisse des Menschen befriedigen können, wie es ihre Absicht ist, ob sie nicht bei solchem Unternehmen entweder jenes unerträglich herabdrücken und verengen oder aber für die eigene Leistung viel demselben Idealismus entlehnen, als dessen Gegner sie sich bekennen. Suchen wir zunächst jene Lebensanschauungen in ihren eigenen Zusammenhängen zu würdigen und namentlich herauszustellen, was sie an neuem Tatbestand und an neuer Anregung bringen.
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a. Der Positivismus.
Den Positivismus verstehen wir hier in dem weiteren Sinne, daß er alle die Denker umfaßt, welche auf dem Boden der Erfahrung Natur und Gesellschaft zusammenhalten und zueinander stimmen möchten. Dann können auch Männer wie Mill und Spencer hier eine Aufnahme finden, ohne dem französischen Positivismus zu nahe gerückt zu werden. Bei der französischen Philosophie des 19. Jahrhunderts haftet das Auge der anderen Völker oft zu ausschließlich am Positivismus und übersieht andersartige Bewegungen, die keineswegs unerheblich sind. Zunächst findet der aus dem 18. Jahrhundert überkommene Sensualismus und Materialismus den schroffsten Widerspruch in einer unter den Eindrücken der Revolution und Restauration erwachsenen kirchlichreligiösen Philosophie, einerseits in der strengen, düsteren, aller freien Bewegung abholden Denkweise eines de Maistre, andererseits in der Wendung zu einer demokratischen, frischeren und lebensfroheren Gestaltung bei Lamennais. Eine weitere Bewegung erscheint in der eklektisch-spiritualistischen Schule, welche, der kirchlichen Lehre gegenüber ihre Unabhängigkeit vollauf wahrend, auf den cartesianischen Idealismus zurückgreift, die Psychologie als Ausgang nimmt und die historisch-philosophische Forschung in Frankreich zu reicher Entwicklung bringt. Wohl bleibt diese Philosophie überwiegend Gelehrtenphilosophie und wirkt nicht stark auf das allgemeine Leben, aber sie regt vieles an, und sie arbeitet eifrig zur Ausgleichung der Gegensätze der modernen Welt; die hier gebildete Atmosphäre umfaßt nicht wenige tüchtige, universalgesinnte, geistvolle Persönlichkeiten; auch sei erwähnt, daß hier zuerst die französische Philosophie zum deutschen Geistesleben ein engeres Verhältnis gewonnen hat. Aber unleugbar bleibt das Ganze an bewegender Kraft und weltgeschichtlicher Bedeutung weit hinter dem Positivismus zurück, mit ihm vornehmlich hat Frankreich im Verlauf des 19. Jahrhunderts auf das Ganze der Kultur gewirkt; so muß er uns näher beschäftigen.
α. Der französische Positivismus. Comte.
Die Hauptgedanken des Positivismus entstammen schon dem 17. und mehr noch dem 18. Jahrhundert, aber Comte erst hat sie zu einem System verbunden und zu voller Wirkung auf das Ganze des Lebens gebracht.
Den Kern des Positivismus bezeichnet sein Name: es ist die strenge Einschränkung des Denkens und zugleich des Lebens auf das »Positive«, d. h. auf die Welt der unmittelbaren Wahrnehmung und Erfahrung. Gänzlich verfehlt scheint alles Unternehmen, hinter dies Gebiet zurückzugehen und seinen Befund anderswoher zu erklären, nicht minder verfehlt ist alle Richtung des Handelns darüber hinaus. Solche Abgrenzung enthält nach verschiedenen Seiten hin ein folgenreiches Nein. Hier ist kein Platz für eine Religion mit ihrem Glauben an eine Gottheit und an ein Weiterleben des Menschen. Gewiß kann unser Erfahrungskreis als ein Reich von bloßen Beziehungen nicht das Ganze der Wirklichkeit bilden, er muß irgend etwas hinter sich haben, aber die Beschaffenheit dieser Tiefe bleibt völlig dunkel und wird sich nimmer aufhellen lassen. So muß alle Religion im alten Sinn verschwinden. Nicht minder die philosophische Spekulation. Denn auch sie überschreitet mit ihren Ideen und Prinzipien den Erfahrungskreis, auch sie führt das Leben ins Irre, indem ihre Vorspieglung absoluter, sofort erreichbarer Ziele eitle Hoffnungen weckt, unnütze Aufregungen, herbe Enttäuschungen bereitet. So verzichte das Wissen auf alles letzte Woher und Wohin, und das Handeln suche alle Ziele und Wege innerhalb der nächsten Welt.
Dieser Welt aber gibt die Austreibung aller Trugbilder weit mehr Bedeutung für Wissen und Handeln. Das unermeßliche Gewebe von Beziehungen, als welches sie nunmehr sich darstellt, bildet kein wirres Durcheinander, sondern alle Mannigfaltigkeit des Geschehens zeigt eine Gleichartigkeit der Verkettung, d. h. eine Gesetzlichkeit, jeder einzelne Vorgang ist nur ein Fall eines durchgehenden Geschehens. Die Ermittlung dieser Gleichartigkeiten, dieser Gesetze, wird zur Hauptaufgabe der Wissenschaft; wohl erreicht sie damit keine Erklärung, sondern nur eine Beschreibung des Geschehens, aber solches Erfassen seiner einfachen Grundzüge ist nicht nur ein großer intellektueller Gewinn, es eröffnet die sichere Aussicht auf ein fruchtbares Handeln und ein durchgängiges Erstarken des Lebens. Denn das Erkennen der Verkettungen der Dinge gestattet, von einem Punkt auf den anderen zu schließen und die Folgen vorherzusehen; wer aber voraussieht, der kann berechnen und für seine Zwecke gestalten, die Voraussicht ist der Hebel der Macht. So bilden Theorie und Praxis eine einzige Kette, echtes Wissen will sehen, um vorauszusehen ( voir pour prévoir). Demnach läßt die Beschränkung des Lebens auf die Erfahrung einen unablässigen Zuwachs an Macht und an Glück erwarten; wir gewinnen an echtem Besitz, indem wir erträumtem entsagen.
Solche Absteckung des Lebenskreises weist zugleich dem Menschen seine richtige Stellung im All. Denn nur, indem wir das All nach unseren Vorstellungen und Wünschen gestalteten, uns als Mittelpunkt der Wirklichkeit behandelten, konnten wir die Erfahrung überschreiten. Solche Überspannung muß nunmehr verschwinden, wir haben uns willig dem All einzufügen und stets gegenwärtig zu halten, daß nur die Entwicklung der Beziehungen zur Umgebung eine volle Betätigung unserer Kraft und ein echtes Glück verspricht.
Ist aber diese Klärung samt der Erkenntnis unserer Schranken neu und fruchtbar genug, um eine neue Lebensordnung zu erzeugen? Daß sie es ist, lehrt nach Comte die Betrachtung der Vergangenheit, lehrt eine philosophische Durchleuchtung der Geschichte. Denn eine solche zeigt deutlich, daß jene Aufklärung den Abschluß einer langen Bewegung bildet, daß die Menschheit sich sehr allmählich vom Irrtum zur Wahrheit gefunden hat. In drei Hauptstufen: der religiösen, der metaphysischen, der positiven, vollzog sich jene Bewegung. Als der Mensch zuerst vom Druck der physischen Not zu selbständigem Denken erwachte und ein Gesamtbild der Wirklichkeit wagte, da konnte er gar nicht anders als menschliche Züge und Zustände in das All versetzen, die Dinge nach Art des Kindes mit menschenähnlichem Leben erfüllen, die Umgebung personifizieren. Das ist die Stufe des religiösen Glaubens, der das Weltall mit menschenartigen Gottheiten erfüllt und ihre Gunst zu gewinnen sucht. Diese religiöse Stufe durchläuft verschiedene Phasen vom rohen Fetischismus bis zu einem künstlerisch veredelten Polytheismus, nach Comte der Höhe des religiösen Lebens, und dann zum Theismus, in dem schon das Sinnliche und Menschliche verblaßt und der Übergang zur Stufe der Metaphysik beginnt. Auf dieser gelangt die Herrschaft mehr und mehr an abstrakte Prinzipien, an Begriffe wie Vernunft, Natur, Zwecke, Kräfte usw.; die gröbere Form des Anthropomorphismus ist überwunden, aber nur zugunsten einer feineren, die vielleicht noch gefährlicher ist. Nun entsteht der Kampf um Prinzipien, nun soll eine radikale Verwirklichung abstrakter Ideen der Menschheit mit Einem Schlage zu vollem Glück verhelfen. Endlich muß diese metaphysische Stufe mit ihrer revolutionären Art der positiven weichen, die, schon lange angebahnt, im 19. Jahrhundert mit voller Klarheit hervortritt und die Herrschaft an sich nimmt. Die Leitung des Lebens kommt nun an die Naturwissenschaft, die mit der Forschung unsere Begriffe und mit der Technik unsere Arbeit gestaltet, ja eine richtige Arbeit, ein zielbewußtes Wirken zur Umgebung überhaupt erst möglich macht. Die Philosophie soll dabei nicht verschwinden, ihre Aufgabe aber lediglich darin finden, die Ergebnisse der Naturwissenschaft auf den allgemeinsten Ausdruck zu bringen, sie zu »systematisieren«, und zugleich die rechte Methode aller Forschung deutlich herauszuarbeiten.
Der Durchblick der Weltgeschichte, der von hier aus entsteht, ist einseitig und angreifbar. Aber wie er aus einer eigentümlichen Grundüberzeugung entspringt, an deren Durchbildung unermüdliche Arbeit gewandt wird, so stellt er die Dinge in ein eigentümliches, oft überraschendes Licht. Das Gesamtbild der Geschichte steht dem Leibnizens nahe. Aller Fortgang vollzieht sich langsam und stetig, alles Spätere ward im Früheren schon vorbereitet, auch scheinbare Umwälzungen gingen aus einem schrittweisen Aufstieg hervor. So ist das Vermögen des Augenblicks eng begrenzt, kein Ungestüm kann Leistungen erzwingen, die der Zukunft vorbehalten sind. Aber zugleich ist keine Arbeit vergeblich, auch die unscheinbarste Leistung liefert einen unentbehrlichen Stein für den Bau der Zeiten. Die treibende Kraft des Ganzen ist die Intelligenz, ihrer jeweiligen Entwicklungsstufe entspricht eine eigentümliche Art der Arbeit, entspricht die Ordnung des gemeinsamen Lebens. War aber bei Leibniz das Erkennen ein Klären von innen heraus, so wird es bei Comte ein Richtigstellen unseres Verhältnisses zur Umgebung. Damit gewinnt der Relativismus breiteren Raum, er heißt den jeweiligen Augenblick zu erfassen und seine Forderungen gewissenhaft zu erfüllen; auf die Zeit erfolgreich wirken kann nur, wer ihre Besonderheit kennt und ihr gemäß sein Handeln gestaltet. Das wird zur Aufgabe auch gegenüber der Gegenwart.
Es besteht aber das Hauptwerk dieser darin, die positivistische Bewegung, die in den letzten Jahrhunderten unablässig anschwoll, zu voller Bewußtheit und gleichmäßiger Durchbildung zu bringen. Was immer von früheren Stufen her an abstrakten Begriffen und absoluten Theorien noch fortbesteht, das werde ausgetrieben, und es werde die neue Denkart auch den Gebieten zugeführt, die sich ihr bis dahin verschlossen. So gilt es, die verschiedenen Gebiete der Wissenschaft prüfend zu durchwandern und sorgfältig zu ermitteln, wieviel ein jedes erreichte, und was ihm heute noch fehlt. Es unterscheidet aber Comte fünf Hauptdisziplinen: Astronomie, Physik, Chemie, Biologie, Soziologie (mit einem neugeprägten Worte); je höher wir dabei steigen, desto mehr bleibt noch zu klären. Die Astronomie und die Physik sind, unter der Leitung der Mathematik, so gut wie ganz dem neuen Geist gewonnen, die Chemie steckt noch voll vager Begriffe und subjektiver Deutungen, auch die Biologie, deren Schöpfung die wissenschaftliche Haupttat des 19. Jahrhunderts bildet, befindet sich noch mitten im Fluß, vor allem aber entbehrt das gesellschaftliche Leben, dieser Gipfel und Abschluß unserer Erfahrung, einer wissenschaftlichen Durchleuchtung. Zu einer solchen aber drängen zwingend die Probleme und Verwicklungen der Gegenwart.
Diese Lage – Comtes Schilderung trifft zunächst die französischen Zustände zur Zeit des Bürgerkönigtums, darüber hinaus aber gemeinsame Züge des modernen Lebens – wird anschaulich und eindringlich vorgeführt. Als der Hauptquell aller Mißstände gilt die intellektuelle Zerrüttung ( désordre intellectuel). Das Leben zerfällt in lauter individuelle Meinungen und Strebungen; so fehlt eine genügende Gegenwirkung gegen die Selbstsucht der Individuen, gegen die Übermacht materieller Interessen, gegen die politische Korruption, es fehlen zusammenhaltende Ideen, es ist ein Stand halber Überzeugung und halben Wollens. Zugleich verflacht das Leben, indem es unter die Macht des flüchtigen Augenblicks und zufälligen Eindrucks gerät, auch bloß rednerische und literarische Gewandtheit gediegenen Leistungen weit voranstellt. Während in Frankreich früher die Richter und die Gelehrten herrschten, tun es jetzt die Advokaten und die Literaten. Wohl wächst unablässig die technische Arbeit, aber ihrer Größe entspricht bei weitem nicht der seelische Stand der Menschen, bei der zunehmenden Spezialisierung bleiben die Lehrer hinter der Lehre, die Baumeister hinter den Bauwerken immer weiter zurück. Bei solcher intellektuellen Zersplitterung kann die Kunst unmöglich gedeihen, denn Großes vermag sie nur, wo gemeinsame Überzeugungen Schaffende und Empfangende eng miteinander verbinden. Die Religion aber wirkt hier vornehmlich dahin, ihren Anhängern einen blinden und unüberwindlichen Haß gegen Andersdenkende einzuflößen; auch pflegt der heutige Mensch die Religion als unerläßlich nur für die anderen, für sich selbst dagegen als überflüssig zu betrachten. Das politische Leben endlich leidet schwer unter einer Entzweiung der Ideen von Ordnung und Fortschritt: die Ordnung stützt sich heute vornehmlich auf die überkommenen religiösen und metaphysischen Gedankenmassen, die der Wissenschaft als rückständig gelten müssen; die neueren Überzeugungen dagegen, die den Gedanken des Fortschritts tragen, entwickeln leicht einen revolutionären Charakter. So ruft alles nach einer neuen Gestaltung des Daseins.
Wie hofft Comte eine solche zu erreichen? Gemäß seiner Überzeugung, daß aller echte Fortschritt an der »intellektuellen Evolution« hängt, kann nur die Wissenschaft Hilfe bringen; sie tut es, indem sie den ganzen Umfang des menschlichen Lebens den positivistischen Überzeugungen unterwirft, es damit bei sich selber klärt, zugleich aber seiner Umgebung enger verbindet. Vor allem ist die Vereinzelung und gegenseitige Verfeindung der Menschen zu überwinden. Das Hauptmittel dazu bietet der Begriff des Organismus, nicht in der vom Griechentum überkommenen künstlerischen, sondern in der modernen naturwissenschaftlichen Fassung verstanden. Ein organischer Komplex ist eine Zusammensetzung, ein Gewebe von lauter einzelnen Elementen, das sie untrennbar miteinander verschlingt und in Wohl und Wehe, in Tun und Lassen ganz und gar aneinander bindet. Diesen Begriff bringt uns die Biologie namentlich mit ihrer Histologie entgegen, die höchste Form des Organismus aber bildet die menschliche Gesellschaft. Denn der einzelne Mensch ist so sehr auf die anderen angewiesen, daß er ohne sie nicht zu bestehen vermag; alles menschliche Leben entwickelt sich nur im Zusammensein, nur innerhalb der Gesellschaft; nach ihrem Stande bemißt sich auch die Art und das Wohl des individuellen Daseins, bis in seine Wünsche und Träume hinein hängt jeder an seiner Umgebung, am sozialen » milieu«. Es gilt nun, diesen Gedanken des Organismus der Gesellschaft mit Hilfe der modernen Naturwissenschaft genauer zu fassen und kräftiger durchzusetzen. Das Bewußtsein, an erster Stelle ein Glied des Ganzen zu sein, muß mehr Eindringlichkeit erlangen, es muß die »altruistischen« Triebe gegenüber den egoistischen stärken, die nicht schlechthin verwerflich, die aber gewöhnlich zu stark sind. Niemand fühle sich als bloßer Privatmann, jeder vielmehr als ein öffentlicher Beamter, der Reiche aber als »Depositär des gemeinsamen Besitzes«. Die moderne Industrie, welche eine »systematische Tätigkeit der Menschheit auf die Außenwelt« herstellt und darin einen philosophischen Charakter trägt, fordert eine größere Teilung der Arbeit, eben damit verbindet sie die Menschen enger miteinander und verstärkt das Gefühl einer durchgängigen Solidarität. Eine Hauptaufgabe der Regierung ist es, die Gefahren der Arbeitsteilung zu überwinden, diese namentlich dadurch ins Gute zu lenken, daß jeder eine Stellung und Tätigkeit erhält, die seinen besonderen Anlagen entspricht. Um aber das gesellschaftliche Leben den Schwankungen des Augenblicks und der Selbstsucht der Parteien zu entziehen, wird nach dem Vorgange St. Simons eine Scheidung in der Art des mittelalterlich-katholischen Systems, dieses »politischen Meisterwerks menschlicher Weisheit«, gefordert, eine Scheidung zwischen weltlicher und geistlicher Gewalt ( pouvoir temporel et spirituel). Die geistliche Gewalt leite unmittelbar nur das Erziehungswesen und behüte es durch die Richtung auf das Wesentliche vor den wechselnden Strömungen des politischen Lebens; im übrigen wirke sie nur durch Beratung und moralische Autorität. Die Ausübung dieser geistlichen Gewalt denkt sich Comte durch ein ständiges Konzil der positiven Kirche zu Paris geleitet, wohin alle Kulturvölker Abgeordnete senden sollen. Augenscheinlich gestaltet sich damit der Positivismus zu einer Art Religion, zu einem neuen Glauben ( foi nouvelle), der die Gottesidee durch die der Menschheit ersetzt. Auch über die Religion hinaus bildet diese Idee den Mittelpunkt aller Bestrebungen; so wird zur Hauptaufgabe der Kunst, die Gefühle darzustellen, welche den Menschen auszeichnen, sowie die bessere Zukunft der Menschheit in lebensvollen Schilderungen vorauszunehmen und dadurch das Bedürfnis nach Idealität ( besoin d'idéalité) zu befriedigen. Die Idee einer endlosen Weiterentwicklung der Menschheit gewährt auch dem Einzelnen eine Ewigkeit, da sein Wirken im Gesamtwerk der Kultur fortbesteht. Hoffnungsfreudig klingt das Ganze aus: wachsende Eintracht der Gesellschaft, Verbesserung der Verhältnisse, Beherrschung der Natur wird die Menschheit immer größer und der Verehrung immer würdiger machen.
So eine umfassende, mit bewunderungswürdiger Energie durchgebildete, bis in die Sprache hinein eigentümlich gestaltete Gedankenwelt des Realismus. Die Größe ihrer Wirkung beruht zum guten Teil auf ihrer Geschlossenheit. Eigentümlich ist hier vor allem das Unternehmen, mit den Mitteln der richtig verstandenen Erfahrung allen Idealen des Menschen zu genügen und die Gesamtlage gründlich umzugestalten; dieser Aufgabe hat Comte seine beste Kraft gewidmet. Gelöst aber hat er sie nur scheinbar. Denn jede genauere Prüfung seines Gedankenbaus zeigt, daß die leitenden Begriffe im Verlauf der Untersuchung sich gegen die Anfangsgestalt erheblich verschieben und heben, daß sie unvermerkt in eben die idealistischen Fassungen und Schätzungen einlenken, die der Hauptzug des Ganzen als eine verderbliche Irrung verwarf. Läßt sich in der Gedankenwelt eines reinen Realismus folgerichtig die Menschheit, das »große Wesen« ( le grand être), zu göttlicher Verehrung erheben, läßt sie sich auch nur zu einem inneren Ganzen verbinden, das dem Einzelnen schwere Pflichten auflegt, ist hier ein Bedürfnis nach Idealität, ein Bedürfnis nach Ewigkeit begreiflich? Auch das bekundet eine innere Verschiebung, ja Umwälzung, daß die Schilderung des reinen Tatbestandes der Erfahrung beim Menschenleben in eine scharfe Kritik, ja den Versuch einer Reformation umschlägt; beim kritischen Punkt des Überganges vom Erkennen zum Handeln versagt die eigene Kraft des Realismus, nur die Hilfe des Idealismus läßt ihn diesen Punkt überwinden und das Sein in ein Sollen verwandeln.
Unverkennbar ist ferner ein starkes Mißverhältnis zwischen den aufgewiesenen Schäden und den dargebotenen Hilfen. Die Schäden des modernen Lebens hat Comte klar und überzeugend geschildert; ihnen entgegenzusetzen hat er aber nicht mehr als eine intellektuelle Klärung und eine Organisation, die nicht sowohl neu als alt ist; denn nichts anderes empfangen wir hier als das mittelalterlich-katholische System ohne seinen religiösen Gehalt, als ließe sich die Form unter Ablehnung des Inhalts bewahren. Schwere Verwicklungen im Innern des modernen Lebens hat Comte vor Augen gestellt, ein bloßes Ordnen von außen her soll sie ihm völlig lösen; so zeigt auch er die Überschätzung der Organisation, die sich in Frankreich nicht selten findet.
Auch das Hauptstreben Comtes, eine naturwissenschaftliche und eine gesellschaftliche Denkweise eng miteinander zu verbinden, enthält einen Widerspruch, der zum guten Teil die oben erwähnte Verschiebung der Begriffe verschuldet. Je strenger die naturwissenschaftliche Denkweise durchgeführt wird, desto mehr gestaltet sich die Forschung zur bloßen Schilderung, zur Feststellung eines reinen Tatbestandes; auf dem Gebiete der Gesellschaft dagegen findet der Denker den Stand der Dinge höchst unvollkommen und fordert er eingreifende Wandlungen; so bildet hier die Schilderung nicht das Ende, sondern nur den Anfang der Arbeit. Ein Positivismus, der zugleich eine Reformbewegung sein will, ist ein Widerspruch in sich selbst. Diesen Widerspruch teilt freilich die gesamte Soziologie, sofern sie das gesellschaftliche Leben unter Naturgesetze stellt und es zugleich zu einem höheren Stande emporheben möchte.
Aber alle Kritik an Comte kann ihm nicht den Ruhm eines großen und fruchtbaren Denkers rauben. Mit unermüdlicher Energie hat er alle Hauptfäden des Realismus zu einem Gewebe verschlungen, hat er die Grundgedanken in alle Breite des Stoffes hineingearbeitet. Mit solcher Unterwerfung des gesamten Bestandes der Wirklichkeit unter ein eigentümliches Denkverfahren und mit seiner sicheren Gliederung bildet das Ganze seiner Arbeit ein realistisches Gegenstück zum Systeme Hegels; wie dieser, so hat auch Comte weit über die Schule hinaus auf das Ganze des Lebens gewirkt. Bei Comte erscheint vieles als wunderlich; auch das hochgespannte, bis zu unangenehmer Eitelkeit gesteigerte Selbstgefühl, das den Vortrag der Lehren begleitet, kann leicht zur Abstoßung wirken. Aber eine versöhnende Kraft liegt in der Glut des Verlangens, in dem leidenschaftlichen Streben nach Wahrheit und Glück, das alle Lehren trägt und beseelt; mag es das System in arge Widersprüche verwickeln und den Denker schließlich die eingeschlagene Bahn zu verlassen zwingen, es läßt deutlich in ihm einen ganzen, bei allen Widersprüchen bedeutenden Menschen erkennen, der eine seelische Tiefe hat, und dem nichts Menschliches fremd ist. Namentlich sein späteres Leben, seine »subjektive« Epoche, zeigt in aller Wunderlichkeit viel Zartheit des Gefühls und viel Wärme idealer Gesinnung; sie ist mehr als ein bloßer Abfall.
Comtes Lehre von der Gesellschaft und dem gesellschaftlichen Milieu hätte nicht so rasch Eingang gefunden und so viel Wirkung geübt, wäre nicht gleichzeitig eine genauere wissenschaftliche Durchbildung der modernen Gesellschaftslehre erfolgt, wie sie namentlich Quetelet anregt. Die Gesellschaft erscheint hier nicht, wie in der antiken Staatstheorie, als von vornherein durch eine überlegene Einheit beherrscht, aber sie wird auch nicht mit der Aufklärungslehre von den bloßen Individuen zusammengesetzt, sondern die Individuen befinden sich von vornherein in gegenseitigen Beziehungen und Verflechtungen, sie bilden ein Gewebe, das der Fortschritt der Kultur und namentlich die moderne Art der Arbeit immer fester und feiner macht. Quetelets Untersuchungen stellen nun deutlich vor Augen, daß das Individuum in dies gesellschaftliche Zusammensein weniger eine eigne Art mitbringt, als es durch jenes gebildet wird. Die Beobachtung großer Zahlen hebt aus dem scheinbaren Chaos beharrende Durchschnitte heraus und entdeckt eine Regelmäßigkeit auch in solchen Vorgängen, die als ein Spiel des bloßen Zufalls zu gelten pflegen. Es erhellt, wie gleichartig in aller scheinbaren Abweichung die Individuen sind, wie ihre Unterschiede zwischen engbemessenen Grenzen liegen. Alles zusammen drängt dahin, die Hauptarbeit den gesellschaftlichen Zuständen zuzuwenden und das Wirken am bloßen Individuum hinter der Sorge um die allgemeinen Verhältnisse zurückzustellen, deren Hebung alle Einzelnen sicher zu Kraft und Glück zu führen verspricht. So unterstützt die moderne Wissenschaft das Bestreben des Positivismus, vornehmlich für den Stand der Gesellschaft zu sorgen und die Ethik ganz und gar zur Sozialethik zu gestalten.
β. Der englische Positivismus. Mill und Spencer.
Wennschon der Plan unserer Arbeit es verbietet, aus dem Kreise des Positivismus mehr als einen Denker genauer zu schildern, so sei doch mit einigen Worten der Eigentümlichkeit der englischen Positivisten gedacht. Sie haben das Unternehmen, vom nächsten Dasein aus eine allumfassende Gedankenwelt zu entwickeln, mit weit mehr ruhiger Umsicht und weit mehr Offenheit gegen die Eindrücke der Umgebung durchgeführt; auch schützte sie gegen ein hierarchisch bindendes und zwingendes System wie das Comtes die Schätzung der Freiheit und der Individualität, die der angelsächsischen Art von alters her innewohnt. In England fand der Positivismus den Boden bereitet wie in keinem anderen Lande. Nach der Seite der Theorie wirkte dafür der Empirismus, namentlich in der scharfen Ausprägung Humes, auf praktischem Gebiet vertrat die Nützlichkeitslehre (Utilitarismus) Benthams (1748-1832) eine verwandte Denkart. Der alte Epikureismus, der nur Lust und Nutzen gelten läßt, wird hier ins Soziale gewandt und damit zu veredelen gesucht, zum Ziel wird das möglichst große Glück, d. h. das subjektive Wohlbefinden, der größten Zahl, alle Einrichtungen des gesellschaftlichen Zusammenseins werden daraufhin geprüft, wieviel sie an Lust und an Schmerz bereiten. In tüchtiger und geschickter Durchführung dieses Strebens ist vieles an gemeinnützigen Einrichtungen ins Leben gerufen und viel Härte ausgetrieben worden, namentlich hat das Strafrecht von hier aus eine durchgreifende Humanisierung erfahren (milde Strafen, vorbeugende Gesetzgebung usw.). Aber zugleich wird der Mensch streng auf den Kreis der Erfahrung beschränkt; alles, was diesen überschreitet, gilt als eine gefährliche Irrung; nicht nach einem inneren Wert, der hier als ganz unverständlich gilt, sondern lediglich nach seinen nützlichen oder schädlichen Folgen wird alles Handeln beurteilt.
Im Bannkreis dieser Gedankenwelt ist John Stuart Mill (1806 bis 1873) aufgewachsen, seine Lebensarbeit scheint zunächst nur ihre Bestrebungen weiterzuführen. So bietet seine Erkenntnis- und Methodenlehre nicht sowohl in den Grundlehren neues, als sie den überkommenen Empirismus mit der rasch vordringenden und sich mannigfach verzweigenden Wissenschaft enger verbindet, ihre verschiedenen Methoden untersucht und dabei sowohl die naturwissenschaftliche Forschung als die Technik des politischen und wirtschaftlichen Lebens durch fruchtbare Anregungen und Ausblicke fördert. Nicht minder beherrschen ihn auf politisch-praktischem Gebiet zunächst die Lehren eines Adam Smith und eines Bentham, begeistert ergreift er die Ideen der wirtschaftlichen Freiheit und des Utilitarismus. Auch der Verlauf eines unermüdlich tätigen Lebens hat Mill nicht grundsätzlich mit ihnen brechen lassen. Aber er gehörte zu den seltenen Geistern, die ein starker Wahrheitsdurst unablässig im Flusse hält und antreibt, sich möglichst unbefangen in die Denkweise des Gegners zu versetzen und seinen Gründen nachzugehen; so kam es, daß er vielfach die eigene Behauptung ergänzte oder verschob, ja, daß er an wichtigen Stellen unvermerkt zum Gegenteil des Ausgangspunktes gelangte. Es geraten z. B. die Grundlagen der Nützlichkeitslehre ins Wanken, wenn der Nützlichkeitsbegriff sich so sehr erweitert, daß er auch das Streben nach Wahrheit um der Wahrheit willen in sich aufnimmt, und wenn zwischen geistiger und sinnlicher Lust ein wesentlicher Wertunterschied gemacht wird; eine warme Sympathie mit dem lebendigen Menschen macht Mill immer bedenklicher gegen die Verwandlung des wirtschaftlichen Lebens in einen bloßen Naturprozeß wie gegen einen Warencharakter der menschlichen Arbeit und läßt ihn immer mehr ein staatliches Eingreifen fordern; um echte Freiheit besorgt, empfindet er stark die Gefahren, die ihr eben das moderne Leben mit seinen abschleifenden Wirkungen und seiner Steigerung der Macht der Mittelmäßigkeit bereitet; so fordert er dringend mehr Selbständigkeit und mehr Größe des Individuums, »mit kleinen Menschen lassen sich keine großen Dinge vollbringen«; endlich entfernt ihn ein warmherziges Mitempfinden menschlicher Zustände und Geschicke mehr und mehr vom Optimismus des Anfangs und nähert ihn religiösen Stimmungen und Gedanken. Mag er dabei oft keinen festen Abschluß finden und seine Gedanken nicht scharf zu Ende denken: nicht nur verdient die innere Wahrhaftigkeit seines Strebens aufrichtige Hochachtung, sein Lebenswerk ist dadurch von hohem Wert, daß es ersichtlich macht, an welchen Stellen vornehmlich der Verlauf des 19. Jahrhunderts über seinen Anfangsstand hinausgeführt hat.
Ein völlig anderes Bild bietet trotz mannigfacher Verwandtschaft Herbert Spencer (1820-1903). Mit zäher Energie sucht er in einer Zeit unablässig wachsender Differenzierung und Spezialisierung den ganzen Umkreis des Wissens einem einzigen Gedanken zu unterwerfen und ihn dadurch aufzuhellen. Dieser Gedanke aber ist der Entwicklungsgedanke in der besonderen Fassung Spencers. Denn daß nur diese besondere Fassung, nicht der Entwicklungsgedanke selbst, hier neu erscheint, wissen wir vom deutschen Idealismus her. Aber während bisher jener Gedanke spekulativ begründet und als eine Bewegung von innen heraus verstanden wurde, versetzt ihn hier eine realistische Denkart auf den Boden der Erfahrung und gestaltet ihn von der Naturwissenschaft her; die allgemeinste Welttatsache, die eine vollkommene Einheit der Erkenntnis erreichen läßt, ist Entwicklung als Zusammenschluß ( integration) des Stoffes und Zerstreuung der Bewegung; ihr folgt in unbegrenztem Wechsel eine Periode der Auflösung in Aufnahme ( absorption) von Bewegung und Lockerung ( disintegration) des Stoffes. Dort erfolgt eine Wendung vom Gleichartigen ins Ungleichartige, eine fortschreitende Spezialisierung und Differenzierung, vom ganzen Weltall bis in die einzelnen Weltkörper, in die menschliche Gesellschaft, die Kultur, das Individuum hinein; die Periode der Auflösung verfolgt die entgegengesetzte Richtung. Durch alle Wandlungen hindurch aber verbleibt unverändert die Kraft, deren Formen Stoff und Bewegung bilden, deren Wesen aber schlechterdings unerkennbar ist. – Die Einbildung dieser Grundgedanken in alle einzelnen Gebiete ergibt manche neue Durchblicke und Forderungen, aber alle Anerkennung der aufgebotenen logischen Energie kann nicht übersehen lassen, daß hier die Wirklichkeit mehr in ein Schema gebracht als innerlich aufgehellt wird, und daß durchgängig ihr lebendiger Inhalt nicht zu seinem Rechte gelangt. Die hier geübte Generalisierung würde schließlich die Welt in ein Reich blasser Schatten verwandeln, hätte nicht Darwin dem Entwicklungsgedanken mehr Farbe und Anschaulichkeit gegeben. Ein kräftigeres Leben waltet auf praktischem Gebiet, wo Spencer aufs Entschiedenste eine volle Freiheit des Individuums fordert, ohne freilich ersehen zu lassen, wie sich das mit jenem Gedanken einer naturgesetzlichen Entwicklung verträgt. Wie immer es aber mit der Methode und den Ergebnissen Spencers stehen mag, er hat eine eigentümliche Denkart allen Gebieten des Wissens zugeführt, und seine gleichmäßige Durchbildung eines allumfassenden Systems gibt ihm eine einzigartige Stellung unter den englischen Denkern.
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b. Die moderne Naturwissenschaft und die Entwicklungslehre.
Die moderne Naturwissenschaft hat ihre entscheidenden Grundzüge schon im 17. Jahrhundert gefunden, das 19. hat diese nur weiter ausgeführt. Aber das Weltbild der Naturwissenschaft ward mit jenen Zügen noch kein Stück der allgemeinen Lebensanschauung, namentlich die Blütezeit der deutschen Dichtung und Spekulation war so von der Größe des Menschen erfüllt und so mit ihrer Entwicklung beschäftigt, daß die Natur ihr meist ein bloßer Hintergrund wurde; wie wäre z. B. ein System wie das Hegels mit seiner Gleichsetzung von menschlichem und absolutem Geistesleben, mit seiner Selbstverwirklichung des Weltgeistes in der Geschichte der Menschheit denkbar ohne einen geozentrischen Standort? Das Vordringen des Realismus verwandelt das gründlich, die Naturwissenschaft wird nun aus einem Einzelgebiet zur Beherrscherin der Gedankenwelt; was immer die Arbeit der letzten Jahrhunderte an dem Bilde der sichtbaren Welt verändert hatte, das kommt nun zur vollen Wirkung auch für die allgemeine Überzeugung. Es hatte sich aber viel gegen die ältere Art verändert, die das Mittelalter und auch die Reformation als unbestreitbare Wahrheit beherrschte und mit den religiösen Vorstellungen aufs engste verwachsen war. Schon die Wandlung des äußeren Bildes greift weit tiefer ein, als oft zugestanden wird. Unvergleichlich größer mußte die Bedeutung der Menschheit und jedes Menschen erscheinen, solange die Erde als der Mittelpunkt einer geschlossenen Weltkugel galt und am Handeln der Menschheit das Schicksal des Ganzen hing, als wenn der Mensch zum Bewohner eines mittleren Planeten eines anscheinend nicht besonders ausgezeichneten Fixsterns im unbegrenzten Weltraume wird, wenn damit, am All gemessen, sein Lebensbereich zu winziger Kleinheit sinkt. Der äußeren Wandlung des Naturgemäldes entspricht dabei eine innere. Erschien früher die Natur als ein Reich seelenartiger Kräfte, stand daher das menschliche Leben inmitten eines verwandten Kreises und in freundlichem Austausch mit seiner Umgebung, so nimmt die neue Wissenschaft der Natur alles Seelenleben und entfremdet sie dadurch dem Menschen. Wohl beließ die dualistische Denkweise der Aufklärung der Seele als dem Fürsichsein zunächst einen eigenen Kreis, aber je mehr das gewaltige Reich der Natur sich entfaltete und auch den Menschen durch tausendfache Fäden an sich zog, desto mehr verengte sich jener Sonderkreis, um schließlich ganz und gar bestritten zu werden; immer mehr bezwang die Natur den Menschen, immer strenger unterwarf sie ihn ihrer Ordnung, immer mehr verwandelte sie seine Seele in ein Getriebe einzelner Vorgänge und zugleich in ein unselbständiges Stück eines undurchsichtigen Weltmechanismus.
Zum vollen Siege dieser Bewegung hat namentlich die Entwicklungslehre gewirkt. Sie selbst hat eine Geschichte eigentümlicher Art. Dem Hauptzuge des klassischen Altertums ist sie fremd, seiner künstlerischen Überzeugung gilt der Grundbestand der Welt, gelten im besonderen die organischen Formen als ewig und unveränderlich; was die Erfahrung an Veränderung zeigt, wird hier als Folge eines Rhythmus des Weltgeschehens betrachtet, der durch Steigen und Fallen immer wieder zum Ausgangspunkte zurückkehrt. Das Christentum mit seiner Behauptung einer einzigartigen Weltgeschichte mußte einen solchen Rhythmus und eine endlose Wiederkehr der Welten verwerfen; wohl schloß die kirchliche Schöpfungslehre ein allmähliches Werden aus, aber die religiöse Spekulation schuf dadurch unbeirrt eine Entwicklungslehre, welche die ganze Welt mit ihrer Vielheit als die Entfaltung, die »Auswicklung«, der göttlichen Einheit verstand, als eine zeitliche Darstellung ewiger Wesenheit. Dieser religiösen Entwicklungslehre folgt, der Wendung der Neuzeit zum Pantheismus entsprechend, eine künstlerische, die das All als Ganzes sich durch seine eigene Bewegung immer weiter durchbilden läßt; so bei Schelling und bei Goethe. Beide Fassungen gaben dem sichtbaren Dasein einen unsichtbaren Hintergrund, nicht aus eigner Kraft vollzog jenes seinen Aufstieg, sondern es war nur der Schauplatz, auf dem schaffende Mächte sich erwiesen.
Die moderne Wissenschaft, als exakte Naturwissenschaft, hat damit entschieden gebrochen. Ihr erfolgt alle Gestaltung auf dem eigenen Boden der Erfahrung und aus den im Dasein gegebenen Kräften, sie erklärt den Befund der Wirklichkeit ganz und gar aus dem geschichtlichen Werden, ihr wird die Welt nicht durch irgendwelche überlegene Macht gelenkt, sondern lediglich durch das Zusammentreffen der Elemente weitergeführt; erst diese Fassung macht die Entwicklungslehre zum unerbittlichen Gegner aller jenseitigen und übernatürlichen Ordnung.
Gleich der erste Entwurf des neuen naturwissenschaftlichen Weltbildes durch Descartes enthält den Gedanken eines allmählichen Werdens des Weltbaus von höchst einfachen Anfängen her aus dem eigenen Vermögen der Natur; Kant und Laplace führen ihn weiter aus. Das Seelenleben des Individuums als ein allmähliches Werden und Wachsen von kleinen Elementen her zu verstehen, dafür ist die moderne Psychologie seit Hobbes und Locke erfolgreich bemüht. Nicht minder fehlte es schon im 18. Jahrhundert nicht an Bestrebungen, den geschichtlichen Stand der Menschheit aus ihrer eigenen Bewegung auf dem Boden der Erfahrung, ohne einen religiösen oder metaphysischen Hintergrund, zu begreifen. Aber diese geschichtliche Betrachtungsweise behielt bis tief in das 19. Jahrhundert hinein eine arge Lücke in der vermeintlichen Unwandelbarkeit und Unableitbarkeit der organischen Formen, diese schien einer exaktwissenschaftlichen Erklärung der Wirklichkeit eine unüberschreitbare Grenze zu setzen. Anthropomorphe Vorstellungen und die Neigung zum Wunderbaren konnten sich immer wieder in dieses Gebiet als in eine unangreifbare Festung flüchten. So traf es tief das Ganze der Weltanschauung, wenn Männer wie Lamarck und Darwin darin Wandel brachten. Darwin, der die Sache zum Siege geführt hat, verschmilzt bekanntlich zwei Grundgedanken: die allgemeinere Behauptung eines allmählichen Werdens der Organismen von einfachsten Grundformen her, die Einführung der geschichtlichen Erklärung in das Reich der organischen Natur: die Deszendenzlehre, und die nähere Angabe der Mittel und Wege des Werdens: die Selektionslehre mit ihrem unablässigen Zusammenstoß der Wesen im Kampf ums Dasein, ihrer Auslese des Lebensfähigeren durch Festhaltung und Ansammlung der für diesen Kampf nützlichen Variationen, ihrer Erklärung von Gebilden hoher Zweckmäßigkeit ohne irgendwelchen Zweckgedanken. Diese nähere Ausführung verleiht dem allgemeinen Gedanken eines allmählichen Werdens erst Anschaulichkeit und Eindringlichkeit.
Wenn uns hier nicht sowohl die naturwissenschaftliche Theorie als ihr Einfluß auf die Lebensanschauung zu beschäftigen hat, so ist es wichtig, jene beiden Stufen der Lehre deutlich auseinanderzuhalten. – Eine selbständige Lebensanschauung hat namentlich die Selektionslehre ausgeprägt; mit ihrer völligen Einfügung des Menschen in die Natur läßt sie die Kräfte, welche im Naturprozeß walten, auch das menschliche Leben beherrschen. Es hat damit auf alle inneren Größen und Güter zu verzichten, alle Gestaltung erfolgt auch hier auf gelegentliche Anlässe hin, und sie erhält sich lediglich durch ihre Leistung im Kampf ums Dasein. Das Leben kommt hier nur vorwärts, indem zwecklos entstandene Eigenschaften wegen ihrer Nützlichkeit festgehalten, vererbt und im Laufe der Zeit angesammelt werden. Aber da dies Höhere nie sich innerlich aneignen läßt, so gibt es keine Freude am Guten als Guten, am Schönen als Schönen, sondern aller Gewinn bleibt ein bloßes Mittel der Selbsterhaltung; die innere Herabsetzung des Lebens durch die bloße Nützlichkeit, die schon A. Smith ersichtlich machte, wird hier noch weiter gesteigert. Zugleich verliert die Gesinnung allen selbständigen Wert. Auch kann hier folgerichtig kein anderes Recht als das des Stärkeren gelten; alle Humanität, namentlich alle Fürsorge für Schwache und Leidende, würde als eine Abschwächung des Kampfes zu einer verderblichen Torheit; hätte dies blinde Getriebe der Kräfte überhaupt für eine Aufgabe Platz, so müßte sie dahin gehen, den Kampf ums Dasein möglichst hart, angespannt, schonungslos zu gestalten, um alles Untaugliche auszurotten und die Auslese zu beschleunigen.
Das alles freilich nur bei folgerichtigem Denken, und das ist hier selten genug. Denn unvermerkt werden jene Bestrebungen in eine durch jahrtausendlange Arbeit mit geistigen Größen und Gütern erfüllte Atmosphäre versetzt und aus ihr ergänzt, wie es eben paßt und beliebt. Nur diese Ergänzung läßt zu einem leidlichen Abschluß gelangen und die völlige Sinnlosigkeit übersehen, zu der jene Gestaltung das menschliche Leben verdammt. Denn alles Mühen und Streben, alle geschichtliche Arbeit, alle Verzweigung der Kultur, sie dürften nicht hoffen, den Menschen innerlich irgendwie weiterzubringen, ihn zu veredeln und zu vertiefen, sondern alles käme darauf hinaus, immer stärkere, d. h. zum Kampf ums Dasein tauglichere Wesen zu bilden. Aber wem frommt dies ganze Dasein, das so viel Mühe kostet und so viel Zerstörung fordert? Weder der eigene Träger noch irgend jemand anders hat einen Gewinn davon, alle Mühe erreicht im Grunde nichts anderes, als was die ersten Anfänge schon hatten, und da sie es weit bequemer hatten, so wäre das Ganze eher in einem Rückschritt als einem Fortschritt begriffen. Wird endlich der Kampf ums Dasein beim Menschen mit seiner größeren Intelligenz und seiner freieren Bewegung nicht etwas ganz anderes und ungleich unerquicklicheres als in der untermenschlichen Welt mit ihrer größeren Einfalt? Die Erfahrungen des modernen Lebens mit ihrer leidenschaftlichen und raffinierten Gestaltung des Kampfes sprechen hier deutlich genug. – So die Selektionslehre als Beherrscherin des Lebens verwerfen, heißt nicht ihr alle Bedeutung für dieses bestreiten. Sie hat die aufrüttelnde Wirkung des Kampfes ums Dasein, den Einfluß der äußeren Lebenshaltung auch auf das Innere, die Summierung kleiner Größen im Verlauf der Zeit u. a. erst voll zur Geltung gebracht. Aber das alles bedarf weiterer Zusammenhänge, um der Wahrheit und nicht der Irrung zu dienen.
Die Selektionslehre wird jetzt im Gebiet der Naturwissenschaft mehr und mehr eingeschränkt, um so weniger darf sie das menschliche Leben führen wollen. Anders steht es mit dem allgemeineren Gedanken der Deszendenz. Wie er in der Naturwissenschaft immer festere Wurzeln schlägt, so wird sich auch die Lebensanschauung mit ihm abfinden müssen, wie sich selbst die Kirche trotz anfänglichen Sträubens mit Kopernikus abgefunden hat. Jene kann das nicht, ohne erhebliche Einflüsse von der neuen Denkweise aufzunehmen. Nicht nur gewinnt die Veränderung nunmehr das Ganze unserer Welt, wenn die geschichtliche Betrachtung auch die organischen Formen ergreift, es wird zugleich der Mensch der Natur weit näher gerückt und enger verkettet. Denn nicht wohl kann jene Erklärung aus dem Werden die ganze Natur umfassen und beim Menschen plötzlich abbrechen. Aber die Anerkennung jener Gedankengänge braucht keineswegs einen haltlosen Relativismus oder einen geistesfeindlichen Naturalismus zu ergeben. Denn wenn die organischen Formen allmählich gebildet sind, so brauchen sie deshalb nicht ein gelegentliches Erzeugnis aus bloßem Zusammentreffen der Elemente zu sein, ihre Bildung kann eine zeitlose Gesetzlichkeit in sich tragen, und was an einem besonderen Punkte erscheint, kann, ja muß in der Gesamtordnung angelegt sein. Zerstörender Art ist nicht die Bewegung an sich, sondern nur eine Bewegung ohne alles innere Gesetz. Die Anerkennung einer Bewegung, in der feste Ordnungen walten, macht das Bild der Natur nicht kleiner, sondern größer; mag auch sie das Problem des Entstehens nicht lösen, sie verteilt es auf eine weitere Fläche und nimmt ihm den magischen Charakter. Auch die Annäherung des Menschen an die Natur kann sehr verschieden verstanden werden, je nach dem Inhalt, der seinem Leben gegeben wird. Bringt dies Leben nichts wesentlich Neues, führt es nirgends im Grundbestande über die Natur hinaus, so muß allerdings jene engere Verkettung es ganz in bloße Natur verwandeln; erscheint aber in ihm eine neue Art der Wirklichkeit, ein selbständiges Innenleben, so kann die engere Verbindung mit der Natur nur dahin wirken, diese weiterzubilden, sie tiefer zu begründen und einem größeren Zusammenhange einzufügen. Dann zieht nicht die untermenschliche Natur den Menschen zu sich herab, sondern der Mensch als Geisteswesen erhöht die Natur über das nächste Bild hinaus. – So ist es in keiner Weise die Naturwissenschaft selbst, welche zum Naturalismus führt, ja es könnte, wie überhaupt keine Wissenschaft, so auch keine Naturwissenschaft bestehen, ginge die Wirklichkeit völlig in die Maße des Naturalismus auf; es ist vielmehr die Schwäche der Überzeugung vom Geistesleben, es ist das Fehlen einer selbständigen Innenwelt, sowie das Verkennen der inneren Bedingungen aller geistigen Arbeit, welche die Naturwissenschaft in einen materialistischen Naturalismus umbiegen lassen.
Ein solcher materialistischer Naturalismus überwiegt im Monismus der Gegenwart, so wenig zu verkennen ist, daß auch Denkweisen weiterer Art, Denkweisen aus der Gefolgschaft eines Spinoza und eines Goethe, einen Anschluß an diesen suchen. Der Monismus nimmt zwei Bewegungen und Forderungen der Zeit in sich auf, deren Recht kaum zu bestreiten ist: das Verlangen, daß die Natur in der Lebensgestaltung und die Naturwissenschaft in der Weltanschauung mehr zur Geltung gelangen als bisher geschehen ist, sowie das Verlangen nach mehr Weite des Lebens, als die kirchliche Form der Religion gewährt. Daß die Naturwissenschaft ihrer allgemeinen Bedeutung nach erst langsam Anerkennung fand, das kam schon vorher zur Sprache; daß hier noch manches zu tun bleibt, das läßt sich nicht wohl verkennen. Die Naturwissenschaft kann aber die gebührende Schätzung nicht finden, ohne mit dem kirchlichen Dogma, dessen Vorstellungsweise vielfach an dem älteren Naturbilde hängt – man denke nur an die Lehre von der Himmelfahrt –, an manchen Stellen zusammenzustoßen. Aber auch über diese Punkte eines schroffen Zusammenstoßes hinaus empfinden heute weite Kreise die überkommene religiöse Gedankenwelt als zu eng, und fordern sie daher eine universalere Lebensgestaltung, die alle einzelnen Gebiete zu voller Entfaltung bringt; eine solche braucht die Religion keineswegs zu verwerfen, aber sie muß sie aus dem Ganzen des Lebens begründen und gestalten.
Derartige Bewegungen kommen dem Monismus zugute und verleihen ihm in der Zeit eine nicht geringe Macht. Aber so gewiß der Monismus bedeutende und berechtigte Probleme vertritt, so ist er nur so lange sicher und stark, als er bei der Kritik und Verneinung bleibt, die Wendung zu positiver Behauptung führt ihn alsbald in Verwicklung. Als »Monismus« sich vom Materialismus abzuheben und gegen die Vermengung mit ihm zu verwahren wäre er nur berechtigt, wenn er die beiden Stufen unserer Wirklichkeit, wenn er Natur und Geistesleben in ihrer Eigentümlichkeit gleichmäßig anerkennte und sie in ein volles Gleichgewicht brächte; das aber tut seine überwiegende Fassung keineswegs. Denn unbedenklich verwandelt sie die Naturbegriffe in Weltbegriffe, und unterwirft sie das ganze Leben ihren Maßen, möchte sie auch alles, was in uns geschieht, von außen her erklären; daß wir die Natur nicht unmittelbar bei sich selbst ergreifen, sondern nur durch unsere geistige Organisation hindurch zu ihr gelangen und ein Bild von ihr entwerfen, auch daß die weltgeschichtliche Arbeit der Menschheit ein gehaltreiches und weitverzweigtes Innenleben entwickelt hat, Gebiete wie die des Rechts, der Moral, der Kunst usw., das kommt im Weltbild des landläufigen Monismus viel zu wenig zur Geltung. Solche Erhebung der sinnlichen Welt zur einzigen und absoluten ergibt keineswegs einen Monismus im Sinne eines Goethe, sondern nur einen etwas verbrämten Materialismus.
Dieser Materialismus aber verfällt bei der Wendung zum praktischen Leben einem schroffen Dualismus. Denn bei der Fassung dieses Lebens erweist er durchgängig eine idealistische Denkart, er hält fest am »Guten, Wahren und Schönen«, er verficht eine Größe und Würde des Menschen und hofft eine Veredlung der Menschheit durch den Fortschritt der Aufklärung. Sind das alles nicht Begriffe, die dem Geistesleben entstammen und mit seiner Herabsetzung zu einer bloßen Begleiterscheinung des Naturgeschehens hinfällig werden müssen? Und kann es einen schrofferen Dualismus geben, als wenn das Bild der Welt und die Gestaltung des Lebens entgegengesetzte Überzeugungen bekennen, wenn gleich entschieden dort verneint und verworfen, was hier bejaht und gefeiert wird?
So ist es sehr begreiflich, daß dieser naturalistische Monismus nicht nur viel Anklang, sondern auch viel Widerspruch findet, Widerspruch auch deshalb, weil er seine der späteren Aufklärung nahe verwandte, bloß verstandesmäßige Lösung des Lebens- und Weltproblems unbedenklich als die einzig mögliche, als die für jeden Unbefangenen selbstverständliche zu geben liebt. Es gesellt sich wie oft so auch hier zum Naturalismus der Intellektualismus und behandelt bloße Begriffe wie geistige Mächte. Wir wollen aber nicht übersehen, daß, was sich heute Monismus nennt, recht verschiedene Färbungen enthält, und daß an manchen Stellen über die materialistische Fassung mit ihrer verneinenden Art weit hinausgegangen wird.
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c. Die moderne Gesellschaftslehre und die Lebensanschauung der Sozialdemokratie.
Verschiedenes wirkt zusammen, um das Leben in der Gesellschaft und die Arbeit für die Gesellschaft dem modernen Menschen zu einer Hauptsache, ja zu der Hauptsache zu machen. Zunächst wirkt dahin, daß das Ganze der Neuzeit das Verhalten des Menschen zum vorgefundenen Daseinsstand erheblich verändert hat. Dieser Stand wurde von früheren Zeiten als im wesentlichen unwandelbar hingenommen; was eine höhere Macht, sei es der Wille Gottes, sei es ein dunkles Schicksal, bereitet hatte, dem hatte der Mensch sich zu unterwerfen; wohl sollte er Not und Elend in ihren einzelnen Erscheinungen nach bestem Vermögen lindern, der Gesamtstand der Not, der Gesamtstand des Elends wurde aber nicht angegriffen, der Quell des Übels nicht bis zum Grunde verstopft. Fern lag auch der Gedanke einer durchgängigen Erhöhung des menschlichen Glücks, einer freudigeren Gestaltung des gemeinsamen Befindens. Die Neuzeit bringt hier eine völlige Wandlung. Wie sie überhaupt die Wirklichkeit als in Fluß befindlich betrachtet, so gilt ihr auch die menschliche Lage nicht als fertig und abgeschlossen, sondern als großer Wandlungen fähig, ja in hohem Grade bedürftig; diese zu vollziehen und gegen alle Hemmungen durchzusetzen, damit aber den menschlichen Kreis in ein Reich der Vernunft zu verwandeln, das glaubt jugendlich aufstrebende Kraft ganz wohl unternehmen zu dürfen.
Dieses Streben gewinnt weiter dadurch, daß die Neuzeit das Verhältnis des Menschen zum Menschen mehr und mehr zum Kern des Lebens gemacht hat. Dahin wirkte die schwere Erschütterung der Religion, dahin auch das wachsende Mißtrauen gegen alle und jede Metaphysik; bei allem äußern Vordringen sieht der Mensch sich vom Weltall innerlich auf den eigenen Kreis zurückgeworfen; was hier geschieht, das fesselt ihn um so zwingender, als das moderne Leben unter Leitung der Technik die Individuen weit enger zusammenrückt und die gegenseitigen Beziehungen tausendfach steigert.
Diese Wendung zur Gesellschaft stellt sich aber in zwei Hauptströmungen dar: einerseits wird die Bedeutung der ökonomischen Zustände mehr gewürdigt als je zuvor, andererseits wird zum Hauptziel des Strebens, die Massen zu größerer Teilnahme am politischen und geistigen Leben heranzuziehen, sie überall zu selbsttätiger Mitwirkung zu berufen. Beides miteinander verändert wesentlich den Gesamtcharakter des Lebens.
Die Überzeugung, daß die Gestaltung der wirtschaftlichen Verhältnisse über den Stand des gesamten Lebens entscheidet, daß sein Gelingen oder Mißlingen an der Lösung dieser Aufgabe hängt, vertrat schon Adam Smith ebenso klar wie entschieden. Aber das Problem entwickelte damals noch nicht seine volle Kraft und Leidenschaft, weil die Lösung leicht und einfach dünkte: die freie Bewegung und Wettbewerbung der Individuen versprach eine völlig befriedigende Gestaltung zunächst des ökonomischen, dann des gesamten gesellschaftlichen Lebens, an dem Selbständigwerden der Einzelnen sah A. Smith vornehmlich das Wachstum der Freiheit und Kraft, aller Interessen schienen dabei zusammenzustreben, und über den Fortschritt des Ganzen bestand nicht die mindeste Sorge. Die Erfahrungen des 19. Jahrhunderts haben die Zulänglichkeit dieser Lösung immer zweifelhafter gemacht; den Umschwung der Stimmung bewirkte vornehmlich die moderne Gestaltung der Arbeit mit ihrer Begründung auf die Technik, ihrer Ausbildung des Maschinenwesens und Großbetriebes, ihrer Aufhebung der Entfernungen und ihrer Verschärfung der Konkurrenz; indem bei solcher Entwicklung einerseits die wirtschaftlichen Mittel, das Kapital, andererseits die arbeitenden Kräfte sich zu Riesenmassen zusammenballten und einander feindlich entgegentraten, entstanden schwerste Verwicklungen; die Harmlosigkeit der älteren Art ist gründlich zerstört, mit unheimlicher Stärke steht jetzt das Problem vor aller Augen.
Aber die Verschiebung der Lage hätte nicht so viel stürmische Bewegung erzeugt, wären nicht zugleich die menschlichen Ansprüche gewaltig gesteigert. Dahin wirkte vornehmlich die Anerkennung, wenn nicht der Gleichheit, so doch der Gleichberechtigung alles dessen was menschliches Angesicht trägt. Seit Jahrtausenden war die Gesellschaft aristokratisch gegliedert, eine kleine Minderheit trug die Kultur und besaß sie in vollem Sinne, während den anderen nur ein geringer Anteil an den Gütern des Lebens zufiel; noch die Höhe des deutschen Humanismus behandelte die Kluft als ein unüberwindliches Schicksal. Aber schon die Aufklärung hatte mehr und mehr jener Scheidung entgegengewirkt, immer weniger will die Masse ein bloßer Gegenstand wohlwollender Fürsorge sein, sie will selbständig mitarbeiten, selbst den Gehalt und die Richtung des Lebens bestimmen. Was in Frankreich gegen den Schluß des 18. Jahrhunderts in stürmische Erschütterung auslief, das hat im 19. Jahrhundert die ganze Kulturwelt durchdrungen, dem konnte sich auch das deutsche Leben nicht verschließen. Wie oft so faßte auch hier Hegel treffend den Geist der Zeit, wenn er sagte: »Die Massen avancieren.« Was seit dem 17. Jahrhundert in unablässigem Vordringen war, das begegnete sich jetzt mit einer Wandlung der Arbeit, indem der moderne Fabrikbetrieb und die Anhäufung in Großstädten das Selbstbewußtsein der Massen stärkten und sie stürmisch volle Gleichberechtigung fordern ließen.
Die Bewegung aber, die dem Zusammenwirken von ökonomischer und demokratischer Strebung entsprang, hat verschiedene Stufen, die auseinanderzuhalten für ein richtiges Urteil notwendig ist. Zunächst geht durch die ganze Zeit und durch alle Parteien ein starker Zug nach dieser Richtung; darf man mit W. von Humboldt von einer Herrschaft der Ideen über die Zeiten reden, so steht unsere Zeit ohne Zweifel unter der Macht der sozialen Idee. Sie erscheint in dem unwiderstehlichen Streben, die geistigen Güter sowohl als eine bessere materielle Lebenshaltung weitesten Kreisen zuzuführen, durch Recht und Sitte die wirtschaftlich Schwachen zu stärken und gegen Unbill möglichst zu schützen, jene Kreise nicht nur von außen her zu fördern, sondern sie auch zu selbsttätigem Wirken heranzurufen, überall die Unterschiede, wenn auch nicht aufzuheben, so doch tunlichst abzuschwächen, im Handeln und Ergehen durchgängig ein stärkeres Gefühl der Verbundenheit aller Menschen zu entwickeln. Das Recht, ja die Notwendigkeit solches Strebens scheint heute allem Zweifel entzogen.
Schärfer spitzt die Bewegung sich zu, wenn das Wohl und das Selbständigwerden der Massen zur überlegenen Hauptsache und zugleich zu einem Parteibekenntnisse wird, wenn dieses Ziel alle Lebensverhältnisse beherrschen soll. So entsteht eine sozialistische Bewegung und ergreift die ganze Kulturwelt. Nicht nur erhält damit die Sache eine größere Schärfe gegenüber allem Aristokratismus, allen überkommenen Vorrechten und sozialen Abstufungen, nicht nur wird hier alle Macht direkter in die Massen verlegt, und deren Selbstgefühl beträchtlich gesteigert, sondern es tritt hier auch das wirtschaftliche Problem an die erste Stelle, die Hebung des materiellen Wohlseins scheint die Grundbedingung alles Aufstiegs. Aber solches Streben läßt verschiedene Möglichkeiten offen, ganz wohl kann ein solcher Sozialismus mit aufrichtiger Anerkennung des Selbstwertes geistiger Güter zusammengehen, höhere Aufgaben anerkennen, seine Arbeit vornehmlich in den Dienst einer geistigen Hebung der Menschheit stellen. Oft erscheint hier eine unverwerfliche Sehnsucht nach ursprünglichen Anfängen und frischeren Menschen, nach einer inneren Erneuerung der Menschheit. So verbindet sich in der englischredenden Welt religiöser Idealismus und praktischer Sozialismus nicht selten eng miteinander und gelangt zu vollem Einklang in trefflichen Persönlichkeiten.
Am schärfsten spitzt die Bewegung sich in der sozialdemokratischen Lehre zu, wie vornehmlich Marx sie mit unerbittlicher Schärfe entwickelt hat, sowohl nach der Politik als nach der Weltanschauung hin. Dort wird eine völlige Umwälzung der überkommenen Gesellschaftsordnung gefordert und alle allmähliche Verbesserung als unzulänglich verworfen; hier wird auch die innere Hebung der Menschheit ganz und gar auf die erstrebte wirtschaftliche Revolution gestellt, so daß alle Lösungen des Lebensproblems von innen her hinfällig werden, ja eine Verirrung dünken. Die schweren Verwicklungen des modernen Wirtschaftslebens bilden den Ausgangspunkt solcher Lehre, nur deshalb freilich können sie diese zu begründen scheinen, weil der Blick vornehmlich an den extremsten Fällen haftet und von ihnen aus das Gesamtbild entwirft, damit aber die Erfahrung keineswegs treu wiedergibt. Vor allem aber ist es die Verquickung von Eindrücken und von Ideen, welche das Ganze zu einer geschlossenen Macht von höchst aufregender Wirkung gestaltet. Hier ist es namentlich die hegelsche Philosophie mit ihrer Geringschätzung der Individuen, ihrer Zurückdrängung der moralischen Mächte, ihrer Erhebung der Gedankenmassen zu selbständigen, schicksalartigen Gewalten, die dem Ganzen eine ungeheure Triebkraft einflößt. Als Hauptgegensätze erscheinen hier Kapital und Arbeit, das Kapital – vorwiegend als Geldkapital gedacht – mit dem unausrottbaren Streben, weiter und weiter zu wachsen, die Arbeit aber von den bloßen Individuen aus unfähig, sich der Bedrückung zu erwehren und die Lage wesentlich zu verbessern. Dabei gibt der Sache eine arge Verbitterung und wilde Aufregung der Gedanke, daß das Kapital nicht zu Recht erworben, sondern durch versteckten Betrug der Arbeit entwendet sei. Die moderne Bindung der Arbeit an die Maschine hat, wie packend geschildert wird, die Verwicklung weiter und weiter gesteigert und den Arbeiter ganz und gar zum wehrlosen Sklaven des Kapitals gemacht.
So scheint nur die völlige Aufhebung des Kapitals und die Berufung der Arbeit zu ausschließlicher Herrschaft eine Wendung bringen zu können. Diese Wendung wird aber von der Dialektik, welche die Geschichte durchwaltet, zuversichtlich erwartet. Nach Marx war die »kapitalistische Phase« die erste Negation des individuellen, auf eigne Arbeit gegründeten Privateigentums; nun wird der Fortgang der Bewegung diese Negation negieren und aus der Überwindung der Gegensätze eine höhere Stufe hervorgehen lassen.
Diese höhere Stufe wird mit ebenso starkem Optimismus ausgemalt wie der bisherige Stand mit düsterem Pessimismus; so namentlich von Lassalle. Hier geht die Überzeugung dahin, daß die Einsetzung der Arbeit in ihr volles Recht und die Ordnung aller Verhältnisse von der organisierten Gesellschaft her allen Individuen volles Glück, auch die Befriedigung ihrer geistigen Bedürfnisse bringen werde. Diese neue Art des Lebens wird mit dem engeren Zusammensein auch ein stärkeres Gefühl innerer Verbundenheit und ein Wachstum moralischer Gesinnung erzeugen, alle Gegensätze werden verschwinden, alle Verbrechen aufhören, der Kampf der Nationen einem ewigen Frieden weichen: die Freiheit der Einzelnen glaubt man dabei durch ein völlig gleiches Teilhaben an der politischen Macht vollauf geschützt, als könne von einer Demokratie nicht der mindeste Druck ausgehen. Dabei waltet, vornehmlich bei Lassalle, die Neigung, die Menge zu idealisieren und den Menschen in einfacher Lebenslage als besser und edler zu denken. Rousseausche Stimmungen erwachen neu. Der Mensch ist im Grunde vortrefflich, alles Böse verschuldet die Gesellschaft; mit ihrer gründlichen Wandlung scheint ein Reich der Vernunft in der Menschheit aufzusteigen. Zur unerbittlichen Logik gesellt sich so eine träumerische Romantik; wie bei Rousseau dürfte auch hier die Verschmelzung beider vornehmlich die Gemüter bezwungen haben.
Alles zusammen läßt vollauf begreifen, daß das Ganze rasch große Macht erlangte, ja daß es mit dämonischer Gewalt weiteste Volkskreise fortriß. Das uralte Problem der Verteilung der Güter ist aus einem Schlummerstande jetzt zu voller Klarheit geweckt und wird nicht wieder verschwinden, es verbindet sich eng mit den besonderen Verwicklungen der modernen Arbeit und des modernen Wirtschaftslebens. Auch bildet diese Bewegung in mancher Hinsicht nur den Höhepunkt durchgehender Bestrebungen des 19. Jahrhunderts. Vor allem wirkt hierher die gewaltige Steigerung, welche aus verschiedenen Gründen der Staat in ihm erhalten hat. Es ist hier ein starker Glaube, bisweilen wohl Aberglaube, an die Allmacht politischer Einrichtungen, namentlich der Verfassungsformen, entstanden, der jeden Parteimann von der strengen Durchführung seines Programms volles Glück und eine innere Erhöhung der Gesamtheit erwarten läßt. Auch das Verblassen und Verschwinden einer Innenwelt des Geistes trägt viel dazu bei, den Menschen mehr und mehr auf seine Umgebung zu weisen und mit ihr zu verketten. Zugleich hat eine technisch hervorragende Kultur den Wert und das Vermögen der materiellen Güter beträchtlich gesteigert, sie lockt das Streben nach dieser Richtung und verschärft zugleich die sozialen Gegensätze. Das alles ergreift der Sozialdemokratismus marxistischer Art, verbindet es zu einem Ganzen und wendet es in schärfster Zuspitzung zu unerbittlichem Angriff und Kampf. Die, wenn auch nur scheinbare Geschlossenheit seines Gedankenbaus gibt ihm eine Überlegenheit gegen die unklare Durchschnittsart, welche kein den ganzen Menschen umfassendes Ziel besitzt, sondern unsicher hin und her schwankt.
Den Marxismus technisch zu prüfen, ist nicht des Philosophen, sondern des Nationalökonomen Sache. Dieser wird zu untersuchen haben, ob die Bewegung des wirtschaftlichen Lebens in Wahrheit die Richtung verfolgt, welche ihr der Marxismus zuweist, ob der überkommene Stand der Selbständigkeit privater Kreise den sozialen Schäden gegenüber wirklich so wehrlos ist, wie es dort heißt, ob er nicht vieles leistet und noch weiteres leisten könnte, ob sich gegen die »Verelendung« der Massen gar nichts wesentliches tun läßt und schon getan worden ist, ob überhaupt das gesellschaftliche Zusammensein so ganz und gar unpersönlichen Gedankenmassen ausgeliefert ist und nicht auch ethischem Wirken weiten Raum gewährt. Er wird sodann zum Angriff fortschreiten können und herauszuheben haben, sowohl was die heutige Ordnung an Unentbehrlichem enthält, als was die geplante Ordnung an Verlusten, Mißständen, Einengungen namentlich der Freiheit bringen würde. Er wird auch zu prüfen haben, ob jene Bewegung, welche die Interessen des ganzen Volkes zu vertreten meint, nicht in Wahrheit einen Klassencharakter angenommen hat, indem sie die Probleme überwiegend vom Standort des Fabrikarbeiters behandelt. Daß das Ganze bedeutende Probleme in Fluß bringt und der Menschheit zwingend auferlegt, das wäre dabei vollauf anzuerkennen. Aber es ist etwas anderes, Probleme anzuerkennen, etwas anderes, eine besondere zu einem Dogma erstarrte Lösung anzunehmen.
Sodann aber hat auch der Philosoph ein Wort mitzusprechen. Denn wie jene Bewegung einen guten Teil ihrer Kraft aus ihrem Ausbau zu einer Weltanschauung schöpft, so kann auch diese sowie das hier gebotene Lebensbild sich einer Prüfung nicht entziehen. Dabei wird der Philosoph zunächst an der hier vollzogenen Scheidung und Zerreißung der Menschheit Anstoß nehmen, die ein Gegenstück lediglich an dem religiösen Fanatismus, findet, der die Menschheit in Gläubige und Ungläubige zerlegt und alles, was die anderen tun, von vornherein verwirft und verketzert. Denn auch jene sozialdemokratische Überzeugung kennt in ihrer schroffen Fassung Recht, Wahrheit, gute Gesinnung lediglich auf der eignen Seite, für die Übrigen, die große »reaktionäre Masse«, bleibt nur das Gegenteil. Zugleich gilt die hier verkündigte Wahrheit als im Kerne fertig und allem Zweifel enthoben, es entsteht eine neue Unfehlbarkeit, schließt allen Fortschritt aus, fordert unbedingten Gehorsam. – Ferner kann der Philosoph von einer Umwälzung der wirtschaftlichen Verhältnisse nicht ohne weiteres eine innere Erhöhung des Menschen und eine Austreibung alles Bösen aus seiner Seele erwarten. Gewiß haben frühere Zeiten die Bedeutung der wirtschaftlichen Lage auch für die Entwicklung der Seele oft unterschätzt und in einem irregehenden Idealismus jene Lage als gleichgültig für das Streben nach den höchsten Zielen behandelt. Aber wer die Bedeutung des Äußeren dahin steigert und überspannt, daß der Wegfall der Versuchungen aus Arbeitsdruck und materieller Not alles Böse im Menschen vernichten und nur Gutes in ihm belassen werde, der verkennt die ungeheuren Verwicklungen, welche das Zusammentreffen niederer und höherer Art im Menschen mit sich bringt, der verkennt die gewaltigen Gegensätze, die unser Leben spalten, der muß folgerichtig alle Selbständigkeit eines Innenlebens und zugleich einen geistigen Charakter des Menschen leugnen, der setzt das Menschenwesen herab, indem er die einzelnen Menschen erhöhen möchte.
Uralt sind die Theorien, Welche von einer Aufhebung oder doch starken Einschränkung des Privateigentums ein Verschwinden alles Bösen hofften; vor Jahrtausenden schon hat Aristoteles dieser »schönaussehenden« (εὐπρόσωπος) Lehre die Erwägung entgegengehalten, daß die Verwicklung tiefer liegt, daß die schwersten Verbrechen nicht aus Not, sondern aus Übermut und Habgier entstehen, daß daher, wenn eine radikale Umwälzung der überkommenen sozialen Ordnung besondere Verfehlungen aufheben oder mindern sollte, sie dafür andere einführen oder steigern würde.
Eine gleiche Flachheit zeigt die in jenem schroffen Sozialdemokratismus waltende Überzeugung vom Glück. Es sieht hier aus, als würde ein von Arbeit nur mäßig beschwertes, bequemes, und sorgenfreies Leben den Menschen vollauf befriedigen. So mag die Sache mit Arbeit überlasteten und schwer um die Lebenserhaltung ringenden Menschen erscheinen; den letzten Abschluß darin finden kann nur, wer übersieht, daß der Mensch, mit Verlaub zu sagen, doch auch ein Wesen geistiger Art ist, und daß ein solches Wesen größere Bedürfnisse hat, daß es im besonderen für sein Leben irgendwelchen Inhalt fordern muß; ohne einen solchen müßte sich alles sinnliche Behagen rasch in eine innere Leere verkehren, die für die Dauer schwerer erträglich ist als alle Mühe und Not, aller Kampf und Schmerz. So finden wir die Ziele des menschlichen Lebens hier nicht hoch genug gesteckt, aller hier waltende Fortschrittsdrang könnte nicht ein jähes inneres Sinken verhüten.
Dem orthodoxen Marxismus widersprechen heißt aber nicht ein gutes Recht der Gesamtbewegung leugnen; daß an dieser Stelle sich große Aufgaben erheben und immer dringender zu uns sprechen, das sei in keiner Weise verdunkelt. Wie weit es gelingen mag, die materiellen wie die geistigen Güter mehr als bisher der ganzen Breite der Menschheit zuzuführen, möglichst viele von dem lähmenden Druck alltäglicher Not und Sorge zu befreien, möglichst viele zu geistigem Aufstieg und Entwicklung selbsteignen Lebens zu führen, darüber mag man verschieden denken und verschiedene Wege ersinnen, aber das Ziel ist unabweisbar, es ist eine Sache nicht einzelner Klassen und Parteien, sondern der ganzen Menschheit, es spricht zu uns als eine dringende Pflicht. Nur sollte die Sorge um die rechte Verteilung der Lebensgüter nicht die um ihre Urerzeugung unterdrücken, nur sollte gegenwärtig bleiben, daß alle Hebung der einzelnen Menschen mißlingen wird, wenn nicht dem Ganzen des Menschenwesens ein Sinn und ein Wert gegeben wird. Die bloße Summierung tut es einmal in diesen Dingen nicht.
Verschiedene Arten des Realismus zogen an uns vorbei, an wichtigen Stellen bilden sie einen vollen Gegensatz. Aber alle Verschiedenheit ruht auf einer gemeinsamen Grundanschauung: das Hauptverhältnis unseres Lebens wird das zur Welt, die in Natur und Gesellschaft uns von außen her umgibt; die Natur zu erfassen und den Zwecken des Menschen zu unterwerfen, die Gesellschaft von überkommenen Schäden zu befreien und alle ihre Glieder zu möglichstem Glück zu führen, das scheint das höchste und das vollgenügende Ziel der menschlichen Arbeit. Der Realismus gewinnt für solche Überzeugung die Zeitgenossen leicht und rasch, weil er Bestrebungen auf einen wissenschaftlichen und grundsätzlichen Ausdruck bringt, die das Leben der Zeit in Wahrheit beherrschen; auch daß er scheinbar keine Verwicklung enthält, sondern mit unbestreitbaren Größen zu arbeiten scheint, ist seinem Vordringen günstig, vornehmlich in einer Zeit, wo die Massen aufstreben und sich den schwersten Fragen gewachsen glauben. Von hier aus dünkt leicht der Kampf des Realismus mit dem Idealismus ein Zusammenstoß lebendiger Gegenwart mit toter Vergangenheit, jenes Sieg scheint damit allem Zweifel enthoben.
In Wahrheit führt eben das Vordringen des Realismus zur Erkenntnis und Empfindung seiner Grenze, es läßt immer deutlicher ersehen, daß Hauptgegner des Realismus nicht Überlieferungen der Vergangenheit, sondern innere Notwendigkeiten des ewig fortquellenden Lebens sind; diese lassen sein Unternehmen, von außen nach innen zu bauen, die Wirklichkeit in eine bloße Außenwelt zu verwandeln und folgerichtig den Menschen auch zu sich selbst in ein nur äußeres Verhältnis zu bringen, als eine Verkehrung der Wahrheit erscheinen. Auch die Erkenntnis der Natur und die Gestaltung der Gesellschaft ist schließlich ein Werk und ein Erlebnis der Seele, die Auflösung der Seele würde den Realismus als Gesamtlehre zum Verschwinden bringen. Wenn seine Systeme trotz der Leugnung der Selbständigkeit eines Innenlebens einen leidlichen Abschluß erreichen, so tun sie dies nur mit Hilfe einer unvermerkten Ergänzung aus der Gedankenwelt des Idealismus. Man entziehe ihnen diese Unterstützung, und ihr Zusammenhang geht verloren, ihre Leere wie ihre Sinnlosigkeit werden augenscheinlich. Die Seele des Menschen ist einmal da und steht als Grundtatsache vor allen anderen Phänomenen; mag sie mit ihren Forderungen zeitweilig zu übersehen sein, dauernd verneinen läßt sie sich nicht, sie wird sich schließlich immer wieder als die Hauptsache zur Geltung bringen und auch in dem Bilde des Lebens ihr Recht erstreiten. Nur so lange kann der Realismus die Gemüter gewinnen, als das Denken und Sinnen an den einzelnen Punkten haftet und keine Summe des Ganzen zieht; wer dies tut und die Frage dahin stellt, was hier aus dem Leben als einem Ganzen wird, welchen Gehalt und welchen Sinn es bekommt, der wird die hier gebotene Gestaltung alsbald unzulänglich, ja unerträglich finden. Das gilt sowohl von der Welterkenntnis als vom menschlichen Glück; bildete jene Leistung den letzten Abschluß, so bliebe nur eine matte Entsagung, ja eine völlige Verzweiflung. Hier ist auch die Tatsache beachtenswert, daß manche Führer der realistischen Bewegung selbst, daß die großen Positivisten Comte, Mill, ja Spencer, der Nüchternste von allen, gegen das Ende ihres Lebens sich aufsteigender Zweifel nicht erwehren konnten; Comte trieb es zu einer neuen Phase seines Denkens, Mill wie Spencer empfanden schließlich das ungelöste Rätsel wie eine bange Frage und stellten sich damit minder ablehnend auch zum Problem der Religion. Weiteren Kreisen sind die Schranken des Realismus namentlich durch die Erfahrungen der modernen Arbeit zum Bewußtsein gebracht.
Das Jahrhundert fand seine Größe vornehmlich in seiner Arbeit, sie schien der Weg zu stolzer Höhe und sicherem Glück. Aber auch die Arbeit erfuhr jenen Umschlag, jene innere Dialektik menschlichen Unternehmens, daß die Entwicklung eben im Gelingen Grenzen ersichtlich macht, ja zum Gegenteil der Absicht zu wirken droht. Je riesenhafter die Komplexe, je feiner die Verästelung, je rascher der Verlauf der Arbeit wurde, desto mehr ward der Einzelne ein unselbständiges Stück eines seelenlosen Getriebes, desto geringer wurde das Gebiet seines Könnens, desto strenger wurde die Bindung. Über der Sorge um die Leistung verkümmerte hier das Innenleben, und bei allem Wachstum der Kraft sank das Ganze der Persönlichkeit. Das ergibt einen Widerspruch, der den Realismus in seinem innersten Wollen und Wesen trifft. Die Gemüter der Menschen gewann ihm sein Versprechen, dem Leben durch einen engeren Anschluß an die Umgebung mehr Kraft und Gehalt zu verleihen, es von bisheriger Schattenhaftigkeit zu voller Wirklichkeit zu führen; ein starker Lebensaffekt wirkt in und aus dem Realismus. Nun aber droht die Welt, die dem Menschen solches Leben gewähren sollte, sich feindlich gegen ihn zu wenden; wer als Herr gebieten wollte, den macht die Arbeit zum Sklaven, den Menschen übermannen seine eigenen Werke, seine Seele verliert immer mehr einen beherrschenden Mittelpunkt, der die Ereignisse in Erlebnisse umsetzen könnte. Damit aber bricht das Ganze zusammen, der innere Zerfall des Lebens verwandelt jene Wirklichkeit, die alles Schattenhafte austreiben sollte, selbst in ein Schattenreich, alles Beisichselbstseins verlustig wird unser Leben aus unserem eigenen Werk mehr und mehr zu einer uns von Natur und Schicksal auferlegten Rolle.
Auch der nähere Inhalt des Welt- und Lebensbildes, das hier entsteht, zeigt eine traurige Kleinheit des Menschen. Ihn umfängt eine unermeßliche, dunkle, um sein Wohl oder Wehe gänzlich unbekümmerte Weltnatur, die weit mehr harten Kampf als seligen Frieden zeigt, und die solchen Kampf auch dem Menschen als ihrem Gliede auferlegt; diesem gewaltigen Weltgetriebe gegenüber sinkt sein ganzer Kreis zu verschwindender Kleinheit herab.
Wendet er sich aber, um seinem Leben irgendwelchen Wert zu verleihen, zur menschlichen Gemeinschaft, so zeigt der Realismus ihm diese als ein bloßes Nebeneinander selbstischer und einander widerstreitender Kräfte, aus deren Zusammentreffen wohl ein wirres Gemenge, aber kein innerer Zusammenhang, wohl ein Durchschnitt wechselnder Meinungen, nicht aber ein Reich zeitloser Wahrheit hervorgehen kann. Dabei ergab schwere Verwicklungen namentlich, daß Bewegungen und Forderungen, die auf dem Boden des Idealismus erwachsen waren, auf den des Realismus übergingen und hier trotz großer Umwandlung die alten Ansprüche aufrechthielten. So sollte anfänglich die Nation eine eigentümliche Verkörperung des menschlichen Geisteslebens sein, und es sollten sich alle Nationen als Glieder eines Ganzen gegenseitig fördern; nun aber zerfällt das innere Band, zur Hauptsache wird damit Besitz und Macht, und ein Kampf aller gegen alle scheint unvermeidlich zu werden. Nicht anders steht es mit der Idee des Menschen. Eine hohe Stellung und Schätzung des Menschen wurde für ihn als ein Glied eines Gottesreiches oder doch einer Vernunftwelt gefordert, demgemäß ihm aber auch eine Pflicht des Aufstiegs auferlegt. Nun sind für viele Zeitgenossen jene Welten völlig verblaßt, sie sehen aber nicht, daß damit die Schätzung hinfällig wird, so übertragen sie unbedenklich jene Ansprüche auf den Menschen wie er leibt und lebt und erzeugen dadurch arge Verwirrung. So ist die falsche Idealisierung von Daseinsgrößen ein Hauptgrund der gegenwärtigen Verwicklung, sie muß schließlich ins Gegenteil umschlagen und nicht dem Guten, sondern dem Bösen dienen.
Demnach wirkt hier vieles dahin zusammen, den Menschen herabzudrücken und ihn sowohl von seinem Vermögen als von dem Werte seines Tuns niedrig denken zu lassen, wenn anders er die Kraft und den Mut der Konsequenz hat und sich nicht durch abstrakte Lehren und schönklingende Redensarten über den Ernst der Lage hinwegtäuscht. Die Menschheit als Ganzes kann aber solche Erniedrigung, die allen Lebensmut lähmen und alle Schaffensfreude zerstören müßte, nicht für die Dauer ertragen, ein elementarer Drang nach geistiger Selbsterhaltung, nach Abwendung drohender Vernichtung, wird sie zu einem Kampf dagegen zwingen und für diesen Kampf alle irgend möglichen Mittel aufbieten, alle irgend möglichen Wege versuchen heißen; das um so mehr als die Zeit voll starken Lebenstriebes und voll großer Leistungen ist. Solcher Wege aber gibt es der Hauptrichtung nach nur zwei: den Subjektivismus, der zur Zuständlichkeit der Seele flüchtet und sie von der Welt der Dinge ablöst, und den Idealismus, der den Gegensatz überwinden möchte und zu solchem Zweck eine Welt von innen her aufbaut. Bei den Individuen mag beides vielfach ineinander verfließen, der Sache nach ist es grundverschieden; so sei es auch gesondert betrachtet.