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2. Das Christentum in seiner späteren Entwicklung.

Es war keineswegs die Absicht der Reformatoren, einen Sonderkreis zu bilden, lange hofften sie, die ganze Kirche in die Erneuerung hineinzuziehen. Daß dies scheiterte, daß der Katholizismus sich wieder befestigte, ja siegreich vordrang, ist nicht bloß ein Werk von Gewalt oder List, sondern es hat der Katholizismus auf jenen gewaltigen Anstoß hin an sich selbst eine Erneuerung vollzogen, oder vielmehr es ist, was auch vorher schon in ihm zu größerem sittlichen Ernste wirkte, so verstärkt, daß es die Führung übernehmen konnte. Manche Schäden wurden entfernt, der Bildungsstand der Priester gehoben, moralischer Laxheit eifrig entgegengetreten. Neue Orden wirkten zur Verbindung der Kräfte, zu willigem Gehorsam wie zu Leistungen hilfreicher Liebe. So hatte der Katholizismus dem Protestantismus vieles entgegenzusetzen, und das Endergebnis war eine bleibende Spaltung der abendländischen Christenheit. Diese Spaltung hat viel Bewegung erzeugt und hält die Menschheit in unablässiger Spannung. Aber auch schwere Schäden sind nicht zu verkennen. Der Gegensatz der Kirchen steigerte oft die dem religiösen Problem innewohnende Glut zu verheerender Leidenschaft und verdrängte zeitweilig alle andere Sorge. Auch brachte die Scheidung jeder Seite Gefahren. Auf katholischer Seite wirkte die Verstärkung der kirchlichen Macht, des Zusammenhanges und der beharrenden Ordnung zu beengender Einschnürung der Persönlichkeit und zu einer Scheu vor freier Bewegung, auch steigerte sich noch weiter das Selbstbewußtsein einer spezifisch religiösen Lebensführung; umgekehrt drohte dem Protestantismus eine Zersplitterung der Kirche in lauter Sonderkreise, auch die Gefahr, Kultur und Religion auseinanderzureißen, alsdann aber einer Verweltlichung des Lebens nicht genügend widerstehen zu können.

Freilich entdeckt auch im neueren Katholizismus ein genaueres Zusehen mehr Veränderung und mehr Mannigfaltigkeit, als ein flüchtiger Anblick erkennen läßt. Vornehmlich zeigt er den Gegensatz eines an erster Stelle auf Macht und Herrschaft bedachten, um den inneren Stand der Seelen nur nebenbei bekümmerten Ultramontanismus, um es kurz zu sagen, und einer reinreligiösen, die Religion als völligen Selbstzweck behandelnden Überzeugung. Auch dieselbe Seele kann beides verbinden, und doch waltet in der Sache ein himmelweiter Abstand, sein inneres Leben verleiht dem Katholizismus vornehmlich die zweite Strömung. Aber bei aller Innerlichkeit, Weichheit und Zartheit, die sie dem individuellen Seelenleben zu geben vermag – es genügt dafür Pascal zu nennen –, und bei der Fülle vortrefflicher Jünger ist sie für die Wirkung auf das Ganze dem straff organisierten Ultramontanismus gegenüber in entschiedenem Nachteil; ihre überwiegend anschmiegende Art ist zu schwach, um den Gesamtstand weiterzubilden.

Stärker sind die Gegensätze im Protestantismus, sie entspringen seinem innersten Wesen. Denn es treffen in ihm zwei Grundtriebe zusammen: das moderne Verlangen nach größerer Selbständigkeit und Ursprünglichkeit des Lebens, und eine eigentümliche Fassung der Religion und des Christentums; dort waltet ein froher Lebensmut und ein Vertrauen auf menschliches Vermögen; hier wird der Mensch für moralisch ganz unzulänglich erklärt, alles eignen Vermögens entkleidet, allein auf göttliche Hilfe und Gnade gewiesen. So »erhält der Protestantismus einen Doppelcharakter, den Charakter einer religiösen Neubildung von spezifisch religiöser Art und den Charakter des Bahnbrechers und des Hervorbringers der modernen Welt« (Tröltsch). Das ist ein Widerspruch, der sich mildern, nicht aber aufheben läßt.

Der Protestantismus verdankt seine Stellung im modernen Leben zum guten Teil einem Bündnis mit der modernen Kultur und Aufklärung; darüber ist er aber weithin eine bloße Bildungsreligion geworden. Als eine solche zeigt ihn uns namentlich die Höhe der deutschen klassischen Literatur. Das Kirchliche und spezifisch Religiöse ist hier möglichst abgestreift, die Schwere der Gegensätze weicht einer größeren Freudigkeit, es waltet viel Mut und Vertrauen zum Menschenwesen, der Mensch gewinnt eine Größe und Würde bei sich selbst, auch ein inneres Verhältnis zum All. Dabei wirkt die Religion in freierer, aber auch flacherer Fassung, als Panentheismus, fort und bildet eine Ergänzung des Lebens. Aber eine weite Entfernung vom anfänglichen Protestantismus ist unverkennbar, das Unterscheidende des Christentums ist stark verblaßt. So umfaßt der Protestantismus der Neuzeit, da die ältere Form beharrt, ja immerfort neues Leben hervortreibt, in Wahrheit zwei verschiedene Religionen, die leidlich zusammenzuhalten um so schwieriger, um so unmöglicher wird, je deutlicher das im 19. Jahrhundert geweckte geschichtliche Bewußtsein den Unterschied und den Gegensatz der beiden Gestalten vor Augen stellt. Aber es ist diese Doppelheit nicht nur eine Schwäche, sondern auch eine Stärke des Protestantismus, bei solcher Weite vermag er die beiden Pole des modernen Lebens in Wechselwirkung zu halten, und in aller Unfertigkeit bleibt etwas Großes und Segensreiches die Aufrichtigkeit und die Wahrhaftigkeit, womit er die Fragen behandelt, sowie die Kraft der Persönlichkeit, die sein Versuch ihrer Lösung einsetzt. Sein größter Vorteil im Kampf ist sein Erneuerungsvermögen.

Die Bedeutung dessen vollauf würdigen kann freilich nur, wer den Gegensatz und den Konflikt anerkennt, in den das ganze Christentum mit der modernen Kultur geraten ist. Die Neuzeit hat in reichster Lebensentfaltung unendlich viel Neues und Großes gebracht, dessen Wirkung sich niemand entziehen kann und dessen Früchte wir alle genießen. Aber mit diesem Gewinn verflicht sich eng eine sehr bestreitbare Lebensrichtung. Die Neuzeit hat seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts einen neuen Lebenstypus ausgeprägt, der dem christlichen direkt widerspricht. Ein. starkes Lebensgefühl treibt das Sinnen und Schaffen des Menschen immer ausschließlicher in die Welt hinein, über die das Christentum ihn erhob; in dieser Welt wird eine Vernunft aufgesucht oder durch menschliche Arbeit möglichst bereitet; ins Unermeßliche regen sich Kräfte, und das Wachstum der Kraft wird dem Leben zum höchsten und vollgenügenden Ziel. Je mehr diese Art an Stärke und Bewußtheit gewinnt, desto deutlicher wird ihre Abweichung, ja ihr Gegensatz zum Christentum, desto weniger können beide friedlich und freundlich zusammengehen, desto gefährlicher wird die Spannung. Aber eben indem für das Christentum die Gefahr aufs höchste gesteigert scheint, erfolgt ein Umschlag, der die Lage völlig verändert und die Gemüter ihm wieder näher führt, Der Glaube an die Unfehlbarkeit und an das Selbstgenügen der modernen Kultur ist sehr ins Wanken geraten, das moderne Leben selbst treibt so viel Dunkles und Böses hervor und läßt in aller Steigerung der Kraft so viel innere Leere empfinden, daß uns das Ganze des Lebens von neuem zur Frage wird, und daß um einen Sinn unseres Daseins von neuem zu kämpfen ist. In solchem Kampf aber könnte ganz wohl das Christentum mit seiner seelischen Tiefe und seiner Anerkennung der großen Gegensätze eine neue Bedeutung gewinnen, es könnte sich zeigen, daß es sich noch keineswegs ausgelebt hat, sondern daß es in durchgreifender Selbstvertiefung frische Kräfte zu erzeugen vermag, die für Gegenwart und Zukunft schlechterdings unentbehrlich sind.

Daß es so steht, das scheint auch das Verhalten der modernen Denker zum Christentum anzuzeigen, sofern sie aufbauend und wesenhaft waren, nicht in geistreiche Reflexion und zersetzende Kritik sich erschöpften. Wohl pflegen jene modernen Denker sich zur kirchlichen Form des Christentums, wenn nicht feindlich, so doch kühl zu verhalten, zugleich aber will kaum jemand das Christentum ganz und gar fallen lassen, vielmehr möchte jeder es zur eigenen Überzeugung irgendwie in Beziehung setzen und jene durch solchen Anschluß stärken; gerade für das Beste am Eignen sucht man eine Anknüpfung beim Christentum. Daher gestaltet sich jeder sein eigenes Christentum, – Spinoza und Leibniz, Locke und Rousseau, Kant und Fichte, Hegel und Schopenhauer –, die Gesamtheit dieser Fassungen spiegelt eigentümlich den geistigen Wandel der Neuzeit. Wenn so bei allem Auseinandergehen die Denker am Christentum irgendwie festhalten, so müssen sie wohl in ihm etwas Unentbehrliches finden oder fühlen, was die moderne Kultur aus eigener Kraft nicht zu erzeugen vermag; in der Tat wäre leicht zu zeigen, daß ihrer aller Arbeit eine seelische Tiefe und selbständige Innerlichkeit, eine Hochschätzung der Moral, ein Verlangen nach Ewigkeit und nach Liebe enthält, die sie weniger selbst begründet als den überkommenen Zusammenhängen des christlichen Lebens entlehnt hat.

Dies Entlehnte ward früher unbedenklich hingenommen, und es floß mit Andersartigem ungeschieden zusammen, jetzt aber zwingt das Auseinandertreten und die Krise der gesamten Kultur es kräftiger herauszuarbeiten und deutlicher abzugrenzen, damit aber auch mehr zu würdigen; zugleich aber muß das Christentum unter Zurückgehen auf seine ursprüngliche Art eine gründliche Selbstprüfung üben und weit schärfer scheiden zwischen dem, was der Besonderheit einer einzelnen Zeit angehört, und dem, was als bleibender Geistesgehalt alle Zeiten zu umfassen und eine jede zu fördern vermag.

Das Christentum hat sich in den bisherigen Gestaltungen nicht schon ausgelebt. Es hat in den ersten Jahrhunderten treu und eifrig zur Befestigung und Lebenserneuerung gewirkt, aber es hatte wenig Beziehung zur Kulturarbeit, und es erzeugte mehr seelische Wärme als geistige Tiefe. Mit dem weiteren Sinken des Altertums kam die Zeit seines Sieges, aber eine Weltmacht wurde es nur unter einem übermächtigen Einfluß der griechisch-römischen Welt, der auch die Mißstände einer müden und welken Zeit in es eindringen ließ. Das Mittelalter vollzog den Aufbau neuer Völker, aber die damalige Zeitlage gab dieser Arbeit den Charakter des Zwanges und der Äußerlichkeit, die Innerlichkeit litt unter dem Übergewicht der Organisation, die Geistigkeit unter vielfacher Versinnlichung des religiösen Lebens. Dagegen erhob sich die Reformation und vollzog im Vereinfachen auch ein Verjüngen des Christentums; wie wenig sie aber einen endgültigen Abschluß brachte, das haben wir eben gesehen. Dann hatte das Christentum gegenüber der weltfrohen und selbstbewußten Kultur der Neuzeit dem Leben eine größere Tiefe und einen ethischen Charakter zu wahren. Neuerdings ist diese Kultur selbst in eine Krise geraten und in ihrer Unzulänglichkeit erkannt; zur zwingenden Forderung wird eine gründliche Vertiefung des Lebens, eine innere Erneuerung des Menschen, ja eine geistige Wiedergeburt. Immer mehr drängt es aus dem rastlosen Kulturgetriebe zurück zu den Fragen der Seelenhaltung, zu einem Kampf um einen Sinn des Lebens und um die Rettung eines geistigen Wesens. Damit erhebt sich auch wieder das Problem der Religion, voraussichtlich wird es in unserem Jahrhundert immer größere Macht erlangen. Und dabei wird sich wohl zeigen, wenn auch durch harten Kampf und mannigfache Wandlung hindurch, daß das Christentum nicht nur eine große Vergangenheit, sondern auch eine große Zukunft hat.


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