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Die Frage, was unser Leben als Ganzes bedeutet, was es an Zielen enthält und an Glück verheißt, das Lebensproblem mit Einem Worte, bedarf heute keiner breiten Rechtfertigung: ein tiefer Spalt im Befunde der Gegenwart, eine schroffe Entzweiung von Arbeit und Seele, gibt ihm eine zwingende Kraft. Die letzten Jahrzehnte und Jahrhunderte haben eine unermeßliche Arbeit verrichtet und dadurch einen neuen Anblick der Welt wie eine neue Art des Lebens geschaffen. Aber der stolze Siegeslauf dieser Arbeit war nicht auch eine seelische Förderung, ihre glänzenden Erfolge waren nicht schon ein Gewinn des ganzen und inneren Menschen. Denn mit ihrem rastlosen Getriebe richtet sie uns mehr und mehr auf die Welt um uns und unterwirft uns ihren Notwendigkeiten, die Leistung für die Umgebung wird immer mehr unser ganzes Leben. An dem Leben hängt letzthin aber auch das Wesen. Wird alles Sinnen und Vermögen nach draußen gekehrt und die Sorge für das innere Befinden, den Stand der Seele, immer weiter zurückgedrängt, so verkümmert diese unvermeidlich, der Mensch wird arm und leer inmitten aller Erfolge, er sinkt zu einem bloßen Werkzeug eines seelenlosen Kulturprozesses, der ihn nach eignen Bedürfnissen verwendet und verwirft, der mit dämonischem Zuge über Leben und Tod der Individuen wie der Geschlechter dahinbraust, ohne Sinn und Vernunft in sich selbst, ohne Liebe und Sorge für den Menschen.
Eine Bewegung jedoch, deren zerstörende Wirkung der Einzelne so unmittelbar an sich selbst empfindet, muß bald einen Rückschlag erfahren; bei solchen Dingen ist schon das Bewußtwerden eines Problems der Beginn einer Gegenwirkung. Nicht lange kann der Mensch seine Seele verleugnen und ihr Befinden gleichgültig nehmen, seine Innerlichkeit erhält sich bei aller Einschüchterung, sie hört nicht auf, alles Ereignis auf sich zu beziehen und an sich zu messen. Die Bedrohung selbst treibt das Subjekt zur Besinnung auf das unverlierbare Grundrecht seines unmittelbaren und ursprünglichen Lebens; wie ein schlummernder Riese braucht es nur zum Bewußtsein seiner Kraft zu erwachen, um sich aller Unermeßlichkeit der Außenwelt überlegen zu fühlen. Wenn aber mit solcher Wandlung ein leidenschaftliches Verlangen nach selbsteignem Leben und nach innerem Wohlsein durchbricht, wenn den Menschen gar eine Angst um einen Sinn seines Daseins und die Erhaltung seiner Seele befällt, so ist für ihn die Welt mit einem Schlage verwandelt, er aber aus dem vermeintlichen Besitz in ein mühsames Zweifeln und Suchen geworfen.
Eine solche Bewegung wider die Entseelung des menschlichen Daseins ist heute vorhanden und dringt sichtlich vor; wohl geht die Mechanisierung noch fort, aber der Glaube an sie ist erschüttert, der Kampf gegen sie hat begonnen. Breite Strömungen der Gegenwart weisen bei allem Unterschiede gemeinsam nach dieser Richtung. Denn sowohl aus der Gewalt der sozialen Flut, als aus dem Wiedererwachen des religiösen Problems, als aus dem Sturm und Drang des künstlerischen Schaffens spricht ein und dasselbe Verlangen: ein starkes Sehnen nach mehr Glück, nach mehr Entfaltung selbsteignen Lebens, nach einer Umwandlung, Erhöhung, Erneuerung des Menschenwesens.
Aber die bloße Zurückziehung auf das Subjekt hebt die Verwicklung nicht auf, es genügt nicht, auf die andere Seite des Gegensatzes zu treten, es gilt ihn zu überwinden. Dies aber kann nur geschehen durch Entwicklung eines beide Seiten umfassenden Lebens, eines Lebens, das sich selbst einen Inhalt gibt, und das dem menschlichen Handeln deutliche Ziele vorhält. Hier aber stoßen wir auf ein schweres Problem, wohl das wichtigste im geistigen Stande der Gegenwart. Denn über das Ganze des Lebens waltet heute peinlichste Unsicherheit, alte Ideale gerieten ins Wanken, neue aber sind noch nicht zur Genüge herausgebildet; so fehlt unserm Leben ein beherrschender Mittelpunkt, wir werden nach verschiedenen, oft entgegengesetzten Richtungen gezogen und sind wehrlos gegen alles, was gebieterisch auf uns eindringt. Damit verdunkelt sich aller Sinn und Wert des menschlichen Lebens, der Mensch scheint nichtig gegenüber einer, wenn nicht feindlichen, so doch gleichgültigen Welt. Gegenüber dem unermeßlichen Reich der Natur ist der menschliche Daseinskreis. zu verschwindender Kleinheit zusammengeschrumpft, und auch was das Innere des Menschenlebens an eigentümlichem Gehalt erzeugt, hat Mühe gegen die Kräfte und Gesetze der großen Natur irgendwie aufzukommen; zugleich hat die Geschichte sich ins Unbegrenzte ausgedehnt und widersteht allen Versuchen einer Zusammenfassung, bei solcher Auflösung droht ihr aller Sinn zu entschwinden, der Mensch aber ganz und gar der jeweiligen Woge des Stromes zu folgen. Endlich gehört auch das hierher, daß die verschiedenen Kulturen und Religionen, die sonst geschlossene Kreise bildeten und in ihnen sich völlig sicher fühlten, jetzt einander weit näher treten und mit ihrer bunten Fülle, auch ihren Unterschieden und Gegensätzen, zum modernen Menschen wirken; er sieht sich unter einem Zustrom verschiedenartiger Gedankenmassen, und schmerzlich entbehrt er dabei eines festen Maßstabs für seine Entscheidung. Das alles legt zwingend die Frage auf, ob ein solcher Stand der Dinge wie ein Schicksal hinzunehmen ist, oder ob wir irgendwelche Wehr und Waffe gegen die drohende Auflösung besitzen, ob wir ein jähes Sinken von uns abwenden können. Sollte das möglich sein, so könnte es nur durch die Eröffnung eines überlegenen Lebens geschehen, und zur Frage der Fragen wird damit, ob ein solches Leben uns erreichbar ist.
Es liegt schon in solcher Verwandlung, des Lebens und Strebens in eine große Frage, daß keine frühere Leistung eine genügende Antwort bringen kann. Der völlig neuen Lage ist nur eigenes Vermögen gewachsen, wir haben selbst in den Kampf zu treten, alles Wiederaufnehmen einer ferneren oder auch näheren Vergangenheit ist im Grunde nur eine Flucht aus der lebendigen Gegenwart, es setzt bloße Gelehrsamkeit für geistiges Schaffen ein und bietet uns nur ein Leben aus zweiter Hand. Aber wenn die Vergangenheit uns keine fertige Antwort zuführt, so kann sie sehr wohl unser eigenes Streben unterstützen; es macht doch einen großen Unterschied, ob die Sache vom bloßen Augenblick her mit all seiner Zufälligkeit, oder ob sie unter Gegenwärtighaltung aller Leistungen und Erfahrungen ergriffen wird, welche die Menschheit in den Jahrtausenden bei dem Lebensprobleme gemacht hat.
Was sich aber der weltgeschichtlichen Arbeit an Gehalt und Wert des menschlichen Lebens erschloß, das ist uns am ehesten zugänglich in der Arbeit der großen Denker. Erst in ihnen gewinnt volle Klarheit, was als dunkles Verlangen weite Kreise beschäftigt, erst bei ihnen befreit sich der Lebensgehalt von der Verquickung mit kleinmenschlichen Zwecken, die das Durchschnittsleben beherrscht, erst in ihnen fassen die einzelnen Züge sich in ein charaktervolles Gesamtbild zusammen, das erhöhend auf sie zurückwirkt. Was an bleibendem Wahrheitsgehalt von einer besonderen Zeit her zugänglich ist, das wird erst in dem Schaffen der Großen erreicht und von dem vergänglichen Zeitgewande befreit, um damit zum Besitz aller Zeiten zu werden. Bedeuten demnach die schaffenden Geister die Brennpunkte des gesamten Lebens, an denen sich seine sonst vereinzelten Strahlen sammeln, um nach mächtiger Verstärkung durch persönliches Erlebnis großer Art leuchtend und erwärmend in das Ganze zurückzuwirken, so dürfen wir dessen gewiß sein, in ihrem Werk den Kern aller Leistung zu finden. Freilich darf dann unser Werk nicht eine bloße Sammlung ihrer gelegentlichen Äußerungen über menschliches Leben und Schicksal bilden. Denn solche Äußerungen entspringen oft flüchtiger Stimmung, auch neigen zu redseligem Bekenntnis namentlich flachere Naturen, während tieferen Seelen sich ihre Überzeugung in den Gehalt der Arbeit und das Heiligtum des Gemütes verschließt. So ist es nicht das Sinnen und Grübeln der Denker über das Leben, sondern die wirkliche Gestaltung des Lebens in ihrer Gedankenwelt, was uns beschäftigen soll. Wir fragen, welches Licht ihre Arbeit auf das menschliche Dasein wirft, welche Stellung und welche Bedeutung sie ihm zuerkennt, welche Ziele sie ihm vorhält, wir fragen mit einem Worte nach dem hier gebotenen Charakter des Menschenlebens. Bei dieser Frage werden die Denker nicht nur ihre Überzeugungen in ein Ganzes fassen und die Tiefe ihres Wesens eröffnen, sie mögen hier auch besonders durchsichtig werden, sich in schlichtester Einfalt geben und jedem verständlich werden, der einen offenen Sinn an sie bringt. Mächtig zieht es hier jeden strebenden Geist in die Bewegung hinein; sollte nicht auch von der Kraft des Großen etwas auf ihn überströmen und sein eignes Streben stärken, klären, veredeln?
Dabei läßt die Betrachtung des Neben- und Nacheinander der Denker manchen Vorteil erwarten. Die Vielheit der Gestalten verkörpert verschiedene Möglichkeiten menschlicher Lebensführung und stellt sie uns sichtlich vor Augen; die Gegensätze, zwischen denen sich unser Dasein bewegt, sind hier deutlich herausgearbeitet und vermögen sich damit gegenseitig zu klären, auch schärfer gegeneinander abzugrenzen. Auch wird dabei klar, wie sehr das Spätere am Früheren hängt, wie der Widerspruch keineswegs allen Zusammenhang aufhebt, wie der Lauf der Zeiten Altes und Neues verschlingt und inmitten aller Veränderung auch beharrende Typen bietet. Miteinander mögen die großen Denker uns die Hauptphasen der Bewegung zeigen, sie mögen uns von ferner Vergangenheit an die Schwelle der Gegenwart geleiten und in Belebung der Vergangenheit uns in eine zeitüberlegene Gegenwart heben. Nur darf uns das keinen fertigen Abschluß bedeuten, ein Endergebnis, das mühelos anzunehmen wäre. Denn einen sicheren Fortgang bietet die Geschichte nur in den Gebieten, die der Außenwelt zugewandt sind; je mehr das Innere in Frage kommt, desto mehr bildet jene einen gewaltigen Kampf, ein stetes Neueinsetzen, eine Quelle immer neuer Sorgen und Zweifel. So reihen sich auch die großen Denker nicht freundlich aneinander wie Blumen zu einem Gewinde, sondern in der Ausprägung ihrer Eigentümlichkeit stehen sie eher als Gegner wider einander, denn nichts ist groß, was nicht auch ein Vermögen der Verneinung und Abstoßung übt. So regt ihre Arbeit weit mehr auf als sie an Beruhigung bringt, sie fragt mehr als sie beantwortet, sie beginnt immer neu und verändert den Anblick des Ganzen; der Gewinn besteht daher weniger in einem fertigen Ergebnis als in der Erweiterung und Bereicherung des Lebens, der Steigerung seiner Bewegung und Spannung. Aber bei aller Unfertigkeit zeigt diese Bewegung, wie Großes im Menschen steckt und bei ihm wirkt, wie viele Möglichkeiten und Aufgaben in seinem Wesen liegen, sie zeigt zugleich, daß unser Leben nicht in die Selbstsucht der Individuen und in die Nichtigkeit des Alltagsgetriebes aufgeht, sondern durch innere Notwendigkeiten zwingend darüber hinausgetrieben wird. So kann sie durch Zweifel und Kampf, durch Leid und Schmerz hindurch das Bewußtsein einer Größe und einer hohen Aufgabe des Menschenwesens stärken und durch die Vergegenwärtigung seiner Gesamtlage und seines Geschickes zur Erhebung über die Kleinheit des bloßen Menschen wirken. Einer solchen Erhebung bedürfen wir heute aus verschiedenen Gründen besonders dringlich, wir bedürfen ihrer gegenüber der Hast des Tages, gegenüber der Enge der Parteien, gegenüber der durch den Weltkrieg bewirkten Verfeindung der Nationen. Dies alles bedroht uns mit einem inneren Sinken bei aller Trefflichkeit äußerer Leistung. Daher muß uns alles willkommen sein, was solchem Sinken zu widerstehen verspricht.
Unser Unternehmen vermag aber in dieser Richtung zu wirken nur bei einer besonderen Art der Behandlung. Es gilt, den Gegenstand nahe zu bringen und sich seelisch mit ihm zu verbinden, ihm zugleich aber seine eigentümliche Art zu wahren. Weder eine Objektivität, die alles eigene Urteil scheut, noch eine Subjektivität, die in allen Dingen nur sich selber sucht und sieht, kann eine innere Erweiterung bringen. Aber wir denken, daß jener Gegensatz die Sache nicht erschöpft, daß sich über ihn hinauskommen und ganz wohl eine unmittelbare Berührung zwischen dem Leser und den Denkern herstellen läßt, ohne daß sich die Grenzen verwischen. Zwischen Urteilslosigkeit und Aufdringlichkeit gibt es wohl noch einen Mittelweg, der die Sache fruchtbar machen kann.
Auch das bereitet Verwicklung, daß die gelehrte Forschung der Neuzeit mit ihrer Richtung aufs Feine und Kleine unserer Arbeit gegenwärtig sein muß, ohne daß sie doch auf die Spezialfragen eingehen kann. Jeder Versuch einer Zusammenfassung, wie der hier unternommene, enthält die Gefahr einer zu summarischen Behandlung; leicht rundet er ab, was voller Ecken und Kanten ist. Leise Andeutungen müssen hier oft genügen, wo eine genauere Ausführung wünschenswert wäre. Auch weshalb wir bei strittigen Fragen gerade die gewählte Stellung nehmen, das läßt sich hier unmöglich näher begründen.
So hat unsere Arbeit unter mannigfachen Gefahren und Bedenken ihren Weg zu suchen, von ihr abschrecken aber und die Freude an ihr mindern können diese Bedenken nicht. Gegenüber allen Zweifeln behauptet die Betrachtung der Lebensanschauungen der großen Denker eine eigentümliche Anziehungskraft. Aus dem Streben jener spricht zu uns mit elementarer Gewalt ein Verlangen nach Wahrheit und Glück. Aber zugleich haben die reifen Werke, zu denen dies Verlangen sich klärte, eine wunderbare Kraft der Beruhigung und der Befestigung, auch ein Widerspruch der eigenen Überzeugung braucht nicht die Freude an der Macht ursprünglichen Schaffens und der Klarheit lichtvollen Gestaltens zu trüben. Mit jenen großen Geistern führt uns das Reich der Bildung immer von neuem zusammen, tausend Fäden verweben mit ihnen unsere Arbeit. Aber die gelehrte Beschäftigung läßt uns oft das Ganze ihres Wesens fremd und verbindet sie uns nicht persönlich; die Göttergestalten des Pantheon, das wir nur von draußen betrachten, verlassen nicht ihren erhabenen Standort, um unser Streben und Sorgen zu teilen. Auch scheint kein engerer Zusammenhang sie untereinander zu verbinden. Mit der Wendung zum Kern ihres Schaffens, mit der Eröffnung der seelischen Tiefe, wo die Arbeit ihnen zur Entfaltung des eignen Wesens wird, muß das anders werden: die kalten Bilder gewinnen Leben und beginnen zu uns zu reden, das Schaffen der Großen zeigt sich von denselben Fragen bewegt, an denen unser eignes Wohl und Wehe hängt. Zugleich gewinnen die Helden bei allen Gegensätzen einen Zusammenhang und stellen sich alle als Genossen eines gemeinsamen Werkes dar: der Erringung einer geistigen Welt auf dem Boden menschlichen Lebens, des Kampfes um eine Seele und einen Sinn unseres Lebens. Mit der Herstellung einer so innigen Berührung können alle Scheidewände fallen, wir aber in jenes Pantheon treten als in unsere eigene Welt, unser geistiges Heim.
Was immer diese Darlegungen an Empfehlung der Aufgabe enthalten, das steigert sich durch die Erfahrungen und Fragen, welche der ungeheure Weltkrieg der Menschheit brachte. Er hat viel Heroismus erzeugt, aber er ließ auch in tiefe Abgründe blicken, er hat im besonderen viel Haß und Leidenschaft aufgewühlt und die Völker dadurch entzweit. Früher oder später müssen wir über solche Entzweiung hinaus, das wird keine leichte Arbeit sein; um so wertvoller wird alles, was das Streben der Menschheit als ein Ganzes betrachtet und eine der Scheidung überlegene Einheit zur Wirkung bringen möchte. Diesem hohen Ziel möchte auch unsere Arbeit dienen, indem sie deutlich ersehen läßt, wie ein und dasselbe Verlangen nach Wahrheit und Glück alle Zeiten und Völker verbindet, und wie jedes große Kulturvolk etwas geleistet hat, was den anderen unentbehrlich ist. Das bedeutet keine Verwischung der Unterschiede, wohl aber die Anerkennung einer Einheit über allen Unterschieden.