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a. Die Gesamtart.
Augustin (354-430) ist der einzige große Philosoph auf dem eigenen Boden des Christentums. Alle Wirkungen der Vergangenheit und alle Anregungen seiner eigenen Zeit ergreift er, um Neues und Größeres aus ihnen zu machen; lateinischem Boden angehörig, empfängt er starke Einflüsse griechischer und orientalischer Art; Altchristlichem und Neuplatonischem gibt er eine neue Mischung, die dem Christlichen seine Eigentümlichkeit besser wahrt, und deren Ergebnis, so angreifbar es sein mag, alle weitere Geschichte des Christentums beherrscht. Die Gedankenentwicklung ist hier in hervorragender Weise Ausdruck der Persönlichkeit, ja unmittelbares persönliches Leben. Alle Arbeit dient der Aufgabe, das eigene Sein zu entfalten und zu genießen; in aller Verzweigung des Strebens bleibt das Hauptziel das Wohlbefinden des ganzen Wesens. Glück, Seligkeit, das ist es, worauf ausschließlich das Sinnen und Verlangen dieses gewaltigen Mannes geht, Glück nicht in der kleinen Art der älteren lateinischen Väter, sondern als Vollbefriedigung des Wesens, als Belebung aller Kräfte, als Beseligung bis zum Grunde der Seele. Daher kann dieses Streben alles andere an sich ziehen und die geistige Arbeit nicht nur begleiten, sondern vollauf durchdringen. Ein solches Glück darf nicht bloße Hoffnung bleiben, es muß zu lebendiger Gegenwart und zu vollem Besitze werden. Denn »wer bloß in der Hoffnung glücklich ist, der ist noch nicht glücklich; erwartet er doch erst in Geduld das Glück, das er noch nicht besitzt.« Daß wir aber glücklich werden können und werden müssen, das gilt dem Denker als ausgemacht; diese Überzeugung bedarf für ihn keiner Begründung und duldet keinen Zweifel, vielmehr bildet sie die stärkste Waffe gegen allen Zweifel. Dies Glücksverlangen überwindet allen Widerstand und schmilzt auch das Feindlichste zusammen; es flößt aller Arbeit Leben, Liebe, Leidenschaft ein und erfüllt sie mit stärksten Affekten. Das religiöse Streben hat hier nichts von müder und entsagender Stimmung, es wird vielmehr von einem starken Lebenswillen getragen; auch das Erkennen wächst zu einer Selbstbehauptung und Wesenserhöhung. Diese Verflechtung einer titanischen, von verzehrendem Glücksdurst erfüllten Subjektivität mit unbegrenzter Weite der Geistesarbeit, sie bildet zugleich die Größe und die Gefahr Augustins.
Wie damit alle Lebensgestaltung der Besonderheit dieser Natur folgen muß, so wird sie namentlich dadurch bestimmt, daß in jener schroffe Gegensätze zusammenstoßen und dem Denken keine Ruhe gönnen.
Einmal ein Drang, alle Fülle des Seins in Eins zu fassen, das Leben in sich selbst zu verankern, sich mit dem ganzen Wesen der Seligkeit unmittelbar zu versichern; hier ein Überfliegen aller Begriffe und Formen, ein Leben und Weben in reinem Gefühl. Zugleich aber das Verlangen, die Weite des Alls zu überschauen und mit Gedankenarbeit zu durchleuchten, auch das Innere deutlich herauszustellen und alles Beginnen voll zu rechtfertigen; damit eine Entfernung vom nächsten Eindruck, ein weitschichtiger Gedankenbau, eine wissenschaftliche Darlegung der Grundüberzeugungen. Aus beidem zusammen eine hochstrebende religiöse Spekulation, welche Fühlen und Denken, unmittelbares und vermitteltes Leben unzertrennlich miteinander verschlingt. – Mit diesem Gegensatz durchkreuzt sich vielfach ein anderer. Einerseits ein rastloses Streben nach reiner Geistigkeit, eine Verwandlung der Dinge ins Gedankenhafte, die Ursprünglichkeit und Selbständigkeit eines weltüberlegenen Innenlebens; andererseits eine glühende Sinnlichkeit, ein Bestehen auf handfesten Daten, sicherem Berühren und Halten, lustvollem Kosten und Genießen der Dinge; beides zusammenschießend in einer grandiosen Phantasie, die auch dunklen Tiefen greifbare Gestalten abringt. – In demselben Manne sowohl ein unermüdlicher Schaffensdrang und ein freudiger Aufstieg des Lebens als eine Hemmung durch einen moralischen Zwiespalt, das Bewußtsein einer Hilflosigkeit gegenüber der eigenen verwickelten Natur, ein sehnliches Verlangen nach Errettung durch übernatürliche Macht und nach Versetzung aus aller Not in einen Stand von Ruhe und Frieden. Dabei fällt stark ins Gewicht, daß Augustins Sinnlichkeit nicht naiver, sondern raffinierter Art ist, daß sie alles Streben zu erniedrigen droht. – Endlich zeigt Augustin auch darin eine Doppelnatur, daß er zugleich erlebt, tief und wahrhaftig erlebt, und über das Erlebnis kühl zu reflektieren vermag wie über fremde Dinge.
Alle diese Richtungen werden nicht einem umfassenden Ganzen eingefügt und hier innerlich ausgeglichen, sondern jede einzelne entwickelt sich weithin ungestört, bis erst schließlich irgendwelche Berührung und Verbindung erfolgt. So verbleibt es bei schroffen Kontrasten, einem sprunghaften Verfahren, einem Hin- und Herwirken und vielfachen Sichdurchkreuzen der Gegensätze. Das ergibt harte Widersprüche nicht nur in kleinen, sondern auch in großen Dingen, eine starke Unruhe, in der es blitzartig durcheinander schießt, aber es ergibt auch eine unablässige Spannung und Schwingung des Lebens, ein stets frisches Einsetzen des Schaffens, den lebendigsten Fluß der Gedanken. Wenn solches Durcheinander widersprechender Elemente das Gedankengewebe oft arg verwickelt, so hindert es keineswegs eine reiche Entfaltung ursprünglicher Gefühle, ein Hervorbrechen reiner Naturtöne schlichtestmenschlicher Art. Namentlich erlangt das religiöse Gemütsleben eine kindliche Einfalt und eine feurige Sprache des Herzens, wie nur seltene Höhepunkte der Literatur sie zeigen.
Solches Durcheinanderwirken von Gegensätzen erschwert nicht nur das Verständnis der Lehren Augustins, sondern auch eine gerechte Würdigung seines Wesens. Augustin kann, bei seiner Reizbarkeit vom jeweiligen Eindruck fortgerissen, lange ausschließlich eine Richtung verfolgen und alles andere darüber vergessen; so prägt er schroffe, fanatische Sätze, die ganz sein eigen sind, die aber nicht das Ganze seiner Überzeugung bedeuten; er kann in diesem Zuge verwerfen und verdammen, was er in jenem liebt und verehrt. Der kirchliche Christ in ihm redet bisweilen von der Kultur wie ein engherziger Sektenmensch, aber es behandelt auch wohl der weltumspannende, wesenergründende Denker die kirchliche Ordnung mit ihrer Autorität und ihrem Glauben von oben herab wie eine Sache bloßer Zweckdienlichkeit, wie eine Einrichtung zugunsten des großen Haufens und der menschlichen Schwäche. So läßt sich der eine Augustin gegen den anderen setzen und die Ehrlichkeit des ganzen Menschen bezweifeln. Ein Teil dieser Widersprüche mag bei Beachtung der inneren Entwicklung des Mannes verschwinden, die ihn von einer universalen und philosophischen Behandlung der Dinge mehr und mehr zu einer positiven und kirchlichen trieb; die schwersten Gegensätze aber überdauern allen Wandel, in ein System ist Augustin nicht zu zwängen. Aber wir brauchen nur zum lebendigen Ganzen seiner Persönlichkeit vorzudringen, um ein Band aller Mannigfaltigkeit und ein Verständnis aller Widersprüche zu finden. Diese Persönlichkeit läßt sich nun einmal nicht in den Rahmen formaler Logik spannen; die Widersprüche des Wesens aber müssen sich auch in die Arbeit erstrecken. Nun und nimmer hätte Augustin wirken können, was er gewirkt hat, hätte nicht hinter der Rhetorik des Ausdrucks eine Wahrhaftigkeit des Wesens gestanden. So schon bleibt bei ihm des Unerquicklichen manches zu überwinden. In der merkwürdigen Mischung der Elemente, welche in dieser Natur zusammenrinnen, sind Edelsinn und Gerechtigkeit nicht stark genug vertreten, um nicht wilder Leidenschaft bisweilen ganz zu erliegen. Besonders aber fehlt Augustin die Reinheit und Vornehmheit eines Plato, auch im höchsten Aufschwung stößt er nicht alles Niedere ab, die letzten Tiefen kann er nicht bewegen ohne auch trüben Schlamm aufzuwühlen. Das setzt aller Anerkennung des Mannes eine Schranke. Aber so viel sich gegen ihn einwenden läßt, alle seine Lebensäußerungen zeigen, in ihre Wurzel verfolgt, ein echtmenschliches, vollbegreifliches Streben, einen ganzen und gewaltigen Menschen, dessen Seele nichts Menschliches fremd ist. Und wenn unter den Heiligen der Kirche kaum einer so wenig heilig, so sehr leidenschaftlicher Mensch mit allen Fehlern und Schwächen war wie Augustin, so liegt in solcher Menschlichkeit wohl auch eine gewisse Versöhnung, sicherlich aber das Geheimnis seiner Macht über die Gemüter.
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b. Die Seele des Lebensprozesses.
Den Ausgangspunkt wie einen bleibenden Grundzug der Lebensanschauung Augustins bildet eine tiefe Unzufriedenheit mit unserer Welt, hauptsächlich mit der Lage des Menschen. Kaum hat jemand die Leiden des menschlichen Daseins aus bewegterem Herzen und mit grelleren Farben geschildert als Augustin. Die Not des Einzelnen, wie die Mißstände der Gesellschaft, die Spaltungen und Kriege der Völker, die Irrungen im Recht, die Verflechtung in alle Sorgen der Freunde, die Fülle der Versuchungen, das stete Schweben des Menschen zwischen Furcht und Hoffnung, die peinliche Unsicherheit seiner Lage, sie kommen hier zu beredtester Darlegung; dem durchgehenden Elend geben dabei die traurigen Zustände jener sinkenden Zeit eine individuelle Färbung. Das Mittel der Philosophen, gegen das Leid sich innerlich abzustumpfen und das Gefühl des Schmerzes tapfer niederzukämpfen, erscheint Augustin, wenn überhaupt als wirksam, so als sittlich unstatthaft; jene Abstumpfung würde leicht eine Gefühllosigkeit, eine Verhärtung des Wesens, ein Erlöschen der Liebe bewirken. Auch umfängt uns das Böse keineswegs bloß von außen her, es wohnt in unserem eigenen Innern, es ist in Sinnenlust und Hochmut die treibende Kraft unseres Handelns; an guten Vorsätzen fehlt es nicht, wohl aber an Kraft der Ausführung. Dazu die intellektuelle Schwäche des Menschen, sein Versenktsein in Zweifel, sein Unvermögen zur Wahrheit. In solchen Nöten und Widerständen droht eine völlige Verzweiflung, ein Abwerfen der Bürde des Lebens könnte der beste Ausweg dünken.
In Wahrheit benimmt sich der Mensch ganz anders. Inmitten alles Leides behauptet sich zähe das Leben, erscheint ein eifriger Drang nach Selbsterhaltung, ein unbedingtes Leben-Wollen ( esse se velle). Selbst das elendeste Dasein wird der Vernichtung vorgezogen, wie ein wertvolles Gut umklammert der zum Tode verurteilte Verbrecher das ihm geschenkte elende Leben. Ein ähnlicher Lebensdrang geht durch die ganze Natur: von den riesigen Drachen bis zu den kleinsten Würmern wehrt alles sich seines Lebens und widersteht mit ganzer Kraft der Vernichtung. Wäre eine so allgemeine Tatsache zu erklären, wenn die Welt des Leides und Bösen die ganze Wirklichkeit wäre, und nicht das im ersten Anblick so trübe Sein eine tiefere und bessere Wurzel hätte?
Diese Wahrnehmungen sind für Augustin nur Bekräftigungen seines eigenen Verhaltens. Ihn selbst erdrückt alles Leid und Elend nicht, vielmehr weiß und fühlt er sich ihm, je mehr es sich anhäuft, desto sicherer im Kern des Wesens überlegen; gerade das Elend der nächsten Wirklichkeit erweckt in ihm die felsenfeste Überzeugung, daß diese Welt unmöglich die ganze Welt sein kann. Hinter dem eingeschüchterten physischen Lebenstriebe erhebt sich mit Übergewalt ein metaphysischer Lebensdrang und verwehrt dem Menschen zwingend einen Verzicht auf Erhaltung und Seligkeit.
Eine solche Wendung mit ihrer Neubefestigung des Lebens verlangt aber einen anderen Grund und andere Zusammenhänge als die der natürlichen Welt: nur in einem weltüberlegenen, vollkommenen Sein, nur in Gott kann das neue Leben wurzeln. Die Wirklichkeit dieses göttlichen Seins gilt Augustin als das Erste und Allergewisseste, als die Grundwahrheit, die uns allererst des eigenen Seins versichert; so gewiß wir überhaupt etwas sind, so gewiß sind wir in Gott gegründet und werden von göttlichem Leben getragen.
Doch fehlt es solcher Überzeugung auch nicht an philosophischer Ausführung; diese bewegt sich von farblosen Umrissen zu anschaulicher Gestalt, indem sie eine Stufenfolge von Sein, Geist, Persönlichkeit durchläuft. Zunächst heißt es, daß jenes von Hemmung und Leid erfüllte Sein als ein Reich unablässiger Veränderung gar kein wahres Sein bedeutet; ein wahres, echtes, wirkliches Sein – diese Häufung hat Augustin selbst – ist nur eine schlechthin unwandelbare Natur, nur ein Wesen, das, vom Fluß der Zeit unberührt, stets bleibt, was es ist. Nur das ewige Leben ist wahrhaftiges Leben. Das wesenhafte Sein aber ist nichts anderes als Gott; wie aus ihm alles echte Leben stammt, so weist es auf ihn zurück.
Sodann hat alle Wirklichkeit als tiefsten Grund ein geistiges Sein. Die einfache Selbstbesinnung zeigt uns als den gewissesten Punkt gegenüber aller Unsicherheit unsere eigene Seele. Denn mögen wir an allem zweifeln, der Zweifel selbst erweist die Wirklichkeit des Denkens und damit der Seele. Unser Innenleben kann, als das Erste und Unmittelbarste, keine bloße Einbildung sein. Daß wir sind, zugleich wissen, daß wir sind, und unser Sein und Wissen lieben, das ist durchaus unbestreitbar, während das Dasein einer Körperwelt sich nicht streng beweisen läßt. Die seelische Innerlichkeit aber führt Augustin zur Idee einer reinen Geistigkeit; der Träger dieser ist wiederum Gott, das Urbild des Menschenwesens.
Mit solcher Forderung reiner Geistigkeit und wesenhafter Ewigkeit bleibt Augustin, so eigentümlich seine Beweisführung ist, noch im Gedankenkreise des Platonismus. Er durchbricht aber diesen Kreis und eröffnet neue Bahnen, indem das Verlangen nach mehr Kraft und Selbstleben ihn den Kern der Seele nicht mehr im Erkennen, sondern im Wollen suchen heißt. Wie ihm das Seelenleben von Grund aus vornehmlich als Streben nach Wohlsein und Selbstbehauptung gilt, so bildet seine Vollendung der Wille als dasjenige, worin sich das Leben zur Einheit zusammenfaßt und zur vollen Tätigkeit erhebt. Ja es heißt, daß alle Wesen nichts anderes als Wille sind ( nihil aliud quam voluntates); »der Wille ist das übergreifende Prinzip aller Geistestätigkeit« (Heinzelmann). Diese Überzeugung hat über Augustin im Lauf seines Lebens immer größere Macht erlangt und ihn immer weiter vom antiken Intellektualismus entfernt.
Da er aber der griechischen Denkweise darin treu bleibt, den Mikrokosmos als ein Abbild des Makrokosmos zu verstehen, so gilt jener Vorrang des Willens ihm zugleich für das göttliche Wesen. Die Dreieinigkeit, nach seiner Fassung das eigene innere Leben der Gottheit, nicht eine bloße Ordnung ihrer Offenbarung, erscheint als ein Kreislauf von Sein (Kraft), Erkennen (Weisheit) und Wollen (Liebe). Das Leben, das im Erkennen auseinandertrat, faßt sich im Wollen zur Einheit zusammen und bekräftigt zugleich sich selbst. Dies Urbild des Wesens erscheint nach Augustin abbildlich in jedem Sein, besonders aber in der menschlichen Seele.
So vollzieht der Gottesbegriff Augustins eine Verbindung, ja Verschmelzung spekulativer und religiöser, platonischer und christlicher Elemente. Das reine und wesenhafte Sein wird zugleich das Ideal persönlichen Lebens, »das als allmächtige Liebe auf den Willen wirkende Gute« (Harnack). Einmal ist Gott nicht ein besonderes, neben anderen Dingen befindliches Wesen, sondern der Inbegriff des wahren Seins, außer dem es keine Wirklichkeit gibt; sich von ihm trennen, das heißt dem Nichts verfallen, sich ihm verbinden, vom Schein zum Wesen kommen. Andererseits ist er das Ideal der Heiligkeit, Gerechtigkeit, Güte, die allem menschlichen Stande unermeßlich überlegene Persönlichkeit vollkommener Art. Im Zusammentreffen beider Gedankenkreise wird jeder fortgebildet: die Begriffe vom reinen Sein werden beseelt und erwärmt, das Persönliche aber entwächst der menschlichen Daseinsform, wie denn Augustin einen unablässigen Kampf gegen die »Anthropomorphiten« führt, die dem höchsten Wesen menschliche Gestalten und Affekte leihen.
Verbindet sich demnach in der Gottesidee das echte Sein mit dem höchsten Gut und findet sich nur in Gott ein wahrhaftiges und ewiges Leben, so liegt für uns alles an der Verbindung mit diesem höchsten Wesen, so eröffnet sich nur damit eine Rettung, echtes Glück und ewige Selbsterhaltung. Aus tiefster Überzeugung heißt es daher: »Wenn ich dich, meinen Gott, suche, so suche ich das selige Leben. Ich will dich suchen, damit meine Seele lebe.«
Der zwiefachen Wurzel des Gottesbegriffes entspricht ein zwiefacher Weg des Suchens. Einmal folgt Augustin der neuplatonischen Spekulation: das reine Schauen hebe den Menschen in die überweltliche Wesenheit, die »Ekstase« vernichte alle Selbstsucht! Der Mensch will hier von Gott nichts anderes als Gott selbst, das höchste Wesen ist ihm reiner Selbstzweck, kein bloßes Mittel zum Glück. Allerdings wahrt Augustin auch im Anschluß an die Mystik seine Eigenart. Mit dem Schauen verbindet sich ihm aufs engste die Liebe, der Affekt wird nicht sowohl unterdrückt als veredelt, ein warmes Gefühlsleben strömt in die Mystik ein und verleiht auch dem Ausdruck eine ungekannte Innigkeit. Niemand mehr als Augustin hat der christlichen Mystik einen unterscheidenden Charakter aufgeprägt.
Eigentümlicher und kräftiger aber ist eine andere Art des Verhältnisses zu Gott, die Augustin entwickelt: es ist die unmittelbare Beziehung der menschlichen Persönlichkeit auf die absolute, ein sittlich-religiöser Wechselverkehr mit Gott. Auch hier bleibt die Welt mit ihrer bunten Mannigfaltigkeit draußen, und es ringt die ganze Seele nach einem Gewinnen ewiger Liebe, aber hier entsteht ein weit reicherer Inhalt als in der Mystik, und hier gilt es kein Aufgeben, sondern ein Bekräftigen des geläuterten, ja erneuerten Menschenwesens. Der Seelenstand des Individuums, das moralische Befinden des Menschen, wird zum Hauptproblem des Lebens und zum Kerne alles Geschehens; indem das Menschenwesen mit Gott wie ein Ich mit einem Du verkehrt, wird sein Tun unermeßlich erhöht; es entsteht eine Geschichte der Seele, und diese Geschichte drängt alles übrige, auch die merkwürdigsten und erschütterndsten Ereignisse, in die Außenseite des Daseins. Die Religion wirkt hier in kräftigster Weise dahin, das innere Erlebnis selbständig und an sich wertvoll zu machen, das Seelenleben unerschütterlich in sich selbst zu verankern. Es kann aber der religiöse Prozeß namentlich deshalb so viel bewegen und schaffen, weil er in sich selbst einen schroffen Gegensatz trägt. Denn nunmehr entfaltet sich mit voller Klarheit jene innere Dialektik des christlichen Lebens: das Gegeneinanderwirken weitester Entfernung von Gott und engster Annäherung an ihn. Zwischen Gott und dem Menschen, dem Vollkommenen und dem Gefallenen, dem Heiligen und dem Sündigen eröffnet sich hier eine unermeßliche Kluft, die Folge der Schuld; aber zugleich wird sie durch eine freie Tat der göttlichen Liebe aufgehoben, und im innersten Wesen eine völlige Einigung von Göttlichem und Menschlichem gewonnen. Dabei beharren schwere Kämpfe und Stürme, aber über ihnen kann ein seliger Friede schweben und durch die Bekenntnisse Augustins der Grundton klingen: »Du hast uns zu dir hin geschaffen, und unser Herz ist ruhelos, bis es ruhet in dir.«
Die hier begonnene Bewegung pflanzt sich fort in einer reichen Literatur – denken wir nur an Thomas von Kempen –, sie belebt sich neu durch die Reformation, sie bedeutet über das religiöse Gebiet hinaus einen Wendepunkt für die selbständige Entwicklung eines Innenlebens, einen wichtigen Schritt zur Heraufführung einer neuen Welt.
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c. Die religiöse Gestaltung der geistigen Welt.
Jene Aufdeckung einer fortlaufenden Bewegung in der eigenen Seele des Menschen bildet Augustins unvergleichliche und unbestreitbare Größe. Indem er den Quell aller Wahrheit und Liebe sowohl über alle menschliche Kleinheit weit hinausrückt als ihn in allernächster Nähe und unmittelbarer Wirkung hält, indem er den Menschen zugleich erniedrigt und erhöht, hat er einen aller Besonderheit der Bekenntnisse überlegenen Typus religiösen, ja allgemeinmenschlichen Gemütslebens ausgebildet. Aber so gewiß hier Augustin im tiefsten Grunde des Lebens eine klassische Größe erreicht, die nähere Entwicklung gerät unter den Einfluß der müden und welken Umgebung und zugleich in gefährliche Bahnen. Da Augustin stärker im Schärfen als im Überwinden des Gegensatzes ist, so beläßt er das religiöse Leben zu sehr in jenseitiger Ferne, statt es zum übrigen Leben zurückzuführen und dieses durchdringen zu lassen. Die gigantische Kraft, welche dieser Mann in alles Unternehmen legt, erzeugt eine bedenkliche Neigung, Göttliches und Menschliches, Gnade und eigenes Wirken einander schroff entgegenzusetzen und den Gewinn der einen Seite der anderen zum Verlust zu rechnen. Möglichst gering vom Menschen zu denken, ihm alle Selbständigkeit, alle eigene Kraft zum Guten, alle und jede Freiheit abzusprechen, das dünkt das Kennzeichen echter Frömmigkeit. Dürfen wir uns wundern, daß solche Gedankenrichtung Augustin zur krassesten Ausmalung der Schlechtigkeit, der völligen Nichtswürdigkeit des Menschen trieb? Das mindert nicht sein Verdienst, die Widersprüche des menschlichen Standes, sein Versagen gegenüber den hohen Zielen, die Schranken aller bloßen Natur, die Unentbehrlichkeit freier Gnade tief erfaßt und packend geschildert zu haben. Aber da er unter den Einflüssen jener trüben Zeit beim Gegensatze verblieb, statt die Umwälzung zu Ende zu führen, den neuen Menschen zu voller Kraft zu erheben und in der Freiheit selbst die höchste Gnade zu finden, so trägt seine Religion und Frömmigkeit einen überwiegend passiven Charakter, so ist sie nicht genügend zur Männlichkeit und Freudigkeit vorgedrungen, so unterliegt sie weithin der Gefahr einer ungesunden Selbstquälerei, einer kritiklosen Devotion, auch eines vielfachen Eindringens sinnlicher Elemente in das Geistesleben.
Solche Gefahren reichen über den unmittelbaren Seelenstand hinaus in die Gestaltung des gemeinsamen Lebens, auch hier gibt die Riesenkraft des Mannes seinen Irrungen eine verhängnisvolle Macht. Das ist eine besondere Größe Augustins, mit der Religion alles Schaffen zu durchdringen und im Ganzen des Geisteslebens nichts zu dulden, was sie nicht geweiht und veredelt hat; so hat er zuerst auf dem Boden des Christentums ein umfassendes religiöses Kultursystem entworfen und dadurch nach allen Richtungen hin beseelend und vertiefend gewirkt. Aber zugleich hat jenes Beharren des Göttlichen in jenseitiger Ferne dies Streben mit vielfacher Gefahr und Irrung behaftet. Die Breite der Dinge, die Ausdehnung der Kulturarbeit bleibt hier unergriffen, ja ein Verweilen dabei scheint der Hauptsache Abbruch zu tun. So entsteht ein glühendes Verlangen nach der allesbeherrschenden Einheit, alles Starre gerät in Fluß, alles Denken und Handeln hebt sich stürmisch empor ( sursum corda!). Aber die Einheit duldet als eine jenseitige nicht das Mindeste neben sich, sie droht alles Mannigfaltige zu verschlingen, aller Beschäftigung damit, aller gegenständlichen Arbeit ihren Wert zu rauben; so wird das Leben stark verkümmert und verengt, das Wogen und Wallen der glücksdurstigen Subjektivität findet kein genügendes Gegengewicht. In dieser Weise abgelöst und entgegengesetzt, droht die Religion in einen Utilitarismus umzuschlagen, der nur das zum »Seelenheil« Nützliche schätzt und damit zum Mittelpunkt wieder denselben Menschen macht, über dessen Kleinheit Augustin sonst so eifrig hinausstrebt. Alle diese Gefahren begleiten sein Streben in die Hauptrichtungen des Guten, Wahren und Schönen hinein.
Beim Guten, d. h. dem Sittlichguten, wird die Ablösung von aller bloßen Natur besonders gründlich vollzogen. In nichts anderem besteht die Sittlichkeit als in der vollen und freien Hingebung an Gott; alle guten Handlungen, besonders die Werke der Barmherzigkeit – hier das Hauptstück der praktischen Sittlichkeit –, erscheinen als ein Gott geweihtes Opfer; nur was wegen der Gemeinschaft mit Gott geschieht, ist wahrhaft gut und ein »wahres« Opfer. Nicht der hat die rechte Liebe, der sich, seine Angehörigen, sein Vaterland um ihrer selbst willen liebt, sondern lediglich der, welcher sie Gottes wegen und von Gott aus liebt, wer in ihnen vor aller Besonderheit Gott liebt; denn er allein liebt an ihnen, was gut und wesenhaft ist. »Aus derselben Liebe lieben wir Gott und den Nächsten, aber Gott um seiner selbst, uns aber und den Nächsten um Gottes willen.«
Wie aber Gott das alleinige Ziel bedeutet, so kommt auch von ihm allein die Kraft zum Guten, nur er kann echte Liebe entzünden, von ihm haben wir empfangen, was wir an rechter Gesinnung besitzen, denn was unser Verdienst genannt wird, das ist in Wahrheit seine Gabe ( merita nostra dona ejus). Das Streben, das sittliche Leben ganz und gar in der ewigen Liebe zu begründen, stempelt alles Selbstvertrauen des Menschen, alles Handeln aus eigener Kraft, auch wo es nichts Böses will, zu etwas Verfehltem, Schlechtem, ja Lasterhaftem. »Was nicht aus dem Glauben entspringt, das ist Sünde.« Nur eitle Selbstüberhebung kann aus eigenem Vermögen leisten wollen, was allein bei göttlicher Macht und Gnade steht; ja dieses Selbstvertrauen der Geschöpfe bildet die tiefste Wurzel des Bösen. Damit die schärfste Unterscheidung eines Wirkens aus natürlichen Trieben und Neigungen und eines in höherer Kraft begründeten und eine Selbstverneinung enthaltenden Handelns, die volle Austreibung des naturhaften Charakters der Moral, den die antike Welt nie ganz überwunden hat. Ein Hauptgedanke des Christentums erhält damit eine deutliche Fassung wie feste Begründung.
Aber wenn Augustins religiöse Gestaltung der Moral diese von der bloßen Natur befreit, so erzeugt nicht geringe Gefahren die völlige und unmittelbare Unterordnung unter eine Religion, welche Göttliches und Menschliches schroff voneinander scheidet. Das Handeln zur Welt und zum Menschen kann dabei keinen eigenen Wert behaupten. Wenn in allem nur Gott zu lieben ist, wenn wir am Menschen nicht den Menschen, nicht Vater und Mutter, nicht den Freund und Volksgenossen, sondern allein das Göttliche zu lieben haben, so liegt die Wendung nahe, alle Beziehung zum niederen Bereiche abzubrechen und das Göttliche nicht erst durch jene Vermittlung hindurch, sondern unmittelbar bei sich selbst aufzusuchen. Eine völlige Gleichgültigkeit gegen unsere Umgebung, eine Abstumpfung aller verwandtschaftlichen und humanen Gefühle könnte damit als der rechte Gottesdienst, als die höchste Form jenes Opfers erscheinen. Das hat Augustin persönlich nicht gewollt, und so hat er – das zeigt schon das Verhältnis zu seiner Mutter und zu seinen Freunden – auch nicht gehandelt, aber die Konsequenz seiner Gedanken treibt zu einer Abwendung vom sittlichen Wirken, einer Entzweiung des Gottesdienstes und der Menschenliebe. Und an solcher Entzweiung hat es der Lauf der Zeiten nicht fehlen lassen.
Auch die Neigung, dem Menschen alles moralische Verdienst abzusprechen, hat in der Fassung Augustins nicht geringe Gefahren; namentlich droht sie alles eigene Beginnen zu unterdrücken, die Entscheidung aus dem Menschen hinauszuverlegen, das Gute nicht sowohl durch ihn als an ihm geschehen zu lassen. Ist aber das moralische Leben des Menschen bloß Wunder und Gnade, wird es ihm ohne alles eigene Zutun durch höhere Macht eingeflößt, so droht eine starke Materialisierung des Lebens; eine solche erscheint schon bei Augustin selbst, namentlich in seiner Lehre von den Sakramenten, sie steigert sich im mittelalterlichen Christentum. Auch an dieser Stelle hat Augustin die Gegensätze nicht überwunden, die sein einbohrendes Grübeln und sein glutvolles Empfinden eröffnete. Daß er sie aber eröffnete und damit auch in der Gedankenarbeit die Moral aller bloßen Natur entwand, das bleibt sein großes Verdienst.
Ähnliche Überzeugungen zeigt seine Behandlung des Wahrheitsproblems. Seinem stürmischen Verlangen nach vollem Besitz und Genuß genügt nicht das bloße Streben nach Wahrheit, nicht eine bloße Annäherung, etwa ein Erfassen der Wahrscheinlichkeit. Wer kann etwas wahrscheinlich finden ohne eine Kenntnis der Wahrheit? Wenn jemand deinen Bruder deinem Vater ähnlich findet, ohne deinen Vater zu kennen, so wird sein Benehmen dir töricht scheinen. Vornehmlich bei den Grundfragen des Lebens gibt es ohne ein volles Besitzen der Wahrheit, ohne ein sicheres Haben und Halten keine Ruhe und keinen Frieden. Aber einer derartigen Sicherheit bedarf nur, was zum Heile unentbehrlich ist, nicht alles, was in den Gesichtskreis des Menschen kommt. Nirgends mehr als an dieser Stelle erscheint bei Augustin ein Utilitarismus religiöser Art. Ihn beschäftigt nicht sowohl die Welt, als das Wirken Gottes in der Welt und vornehmlich an uns selbst; Gott und die Seele, das sind die einzigen Gegenstände, deren Erkenntnis uns not tut, alles Wissen wird moralisch-religiöses Wissen oder vielmehr moralisch-religiöse Überzeugung, williger Glaube des ganzen Menschen. Statt über die Geheimnisse des Himmels und der Erde, den Lauf der Gestirne und den Bau der Tiere zu grübeln, lasse der Christ sich genügen, die Güte Gottes als die Ursache aller himmlischen und irdischen, aller sichtbaren und unsichtbaren Dinge demütig zu verehren. Eine nähere Beschäftigung mit der Fülle der Welt, namentlich der Natur, erregt hier schwere Bedenken. Sie erscheint als überflüssig, weil sie unser Glück nicht erhöht, als unstatthaft, weil sie die zu wichtigeren Dingen nötige Zeit verbraucht, als gefährlich für die Überzeugung, weil die Richtung der Gedanken auf die Welt leicht nur das Körperliche für wirklich halten läßt, als schädlich für das moralische Verhalten, weil sie den Menschen leicht zu stolzer Selbstüberhebung verleitet. So heißt es unser Nichtwissen willig zu ertragen und die Begier nach Erforschung überflüssiger Dinge, das eitle Erkenntnisverlangen, kräftig zu unterdrücken. »Des Menschen Weisheit ist Frömmigkeit.«
Solche der Wissenschaft feindliche Stimmung hat Augustin im Lauf seines Lebens immer mehr eingenommen und ihn in einer späten Selbstschau die frühere Hochschätzung der »liberalen Disziplinen« wie die nichtchristlicher Philosophen ausdrücklich zurücknehmen lassen. In Wahrheit hat über Augustin, diesen »Kulturmenschen ersten Ranges« (Reuter), der Wissensdrang stets eine große Macht behauptet. Nicht nur will er eine »christliche Philosophie, welche allein die wahre Philosophie ist«, eine wissenschaftliche Durchleuchtung der religiösen Überzeugungen, auch das weltliche Wissen hat ihn immer wieder angezogen. Freilich erliegt er dabei oft den Einflüssen seiner erregten Subjektivität und verfällt in kritikloser Denkweise bisweilen selbst dem Fabelhaften, auch er teilt das damalige Sinken der Kultur. Aber nicht nur gibt er einzelnen Gebieten reiche Anregungen, er entwirft auch ein großes Weltbild spekulativer und künstlerischer Art. Hier wie überhaupt waren die Kulturgüter, welche sein Bewußtsein schroff verwarf, ihm tatsächlich zu Fleisch und Blut geworden und lagen seiner Arbeit zugrunde. Jenseit seiner Persönlichkeit aber wirkte der wissensfeindliche Zug, namentlich die Scheu vor dem Wissen als einer kecken Überhebung des Menschen.
Auch das Schöne wird als Glied eines religiösen Lebenssystems eigentümlich gestaltet. Bei ihm gilt es ein Erfassen der Größe und Herrlichkeit Gottes in seinen Werken, in dem Gesamtwerk des Weltalls. Der sinnliche Reiz der Dinge weicht damit zurück, ebenso die Befassung mit der Besonderheit des Gegenstandes. Die Hauptsache wird das Aufsteigen von der Mannigfaltigkeit zur allesbeherrschenden Einheit, von der sichtbaren Erscheinung zum unsichtbaren Grunde, von den vergänglichen Dingen zur unvergänglichen Wesenheit. Die griechische Freude an der Schönheit des Alls leuchtet dabei noch einmal auf: Maß, Gestalt, Ordnung ( modus, specis, ordo) beherrschen und durchdringen alles Sein, das geistige nicht minder als das sinnliche; je mehr etwas an ihnen teil hat, desto höher steht es, und es gibt nichts Geordnetes, das nicht auch schön ist. Daß überall feste Verhältnisse walten, und daß alle Mannigfaltigkeit des Lebens und Seins zu einer Harmonie des Alls zusammengeht, das ist ein Hauptpunkt der augustinischen Überzeugung; selbst die moralische Welt werden wir unter den Einfluß dieser künstlerischen Anschauung geraten und sich als ein Kunstwerk darstellen sehen. Auch für Augustin bildet die Idee des Schönen eine Vermittlung zwischen der reinen Innerlichkeit und der sinnlichen Welt, ihren Einfluß zeigen besonders die ersten philosophischen Schriften nach seinem Übertritt. Aber von der Anschauung des Schönen drängt es ihn immer zum Suchen des letzten Grundes, zur Vergegenwärtigung der ewigen Macht und Güte. Auch hier herrscht der Gedanke des religiösen Nutzens, des Seelenheiles; nur seinetwegen und nach seinem Maße dürfen wir uns mit dem Schönen befassen. So sollen wir nicht »vergeblich und nutzlos«, nicht mit »eitler und vergänglicher Neugier« anschauen »die Schönheit des Himmelsgewölbes, die Ordnung der Gestirne, den Glanz des Lichtes, den Wechsel von Tag und Nacht, den monatlichen Umlauf des Mondes, die den vier Elementen entsprechenden Jahreszeiten, die gewaltige Kraft des Samens mit seinem Hervorbringen von Gestalt und festen Verhältnissen«, sondern von den vergänglichen Erscheinungen uns zur unvergänglichen Wesenheit erheben.
Demnach haben hier alle Formverhältnisse einen Wert nur als eine Hinleitung zum ordnenden Gedanken Gottes. Auch vergißt, ja verwirft Augustins Schätzung des Schönen über der Natur, dem Werke Gottes, die Kunst, das Werk des Menschen. In ähnlichem Sinne wie Plato, aber in noch schrofferen Ausdrücken schildert er, wie die Kunst, namentlich die dramatische, den Menschen in widerspruchsvolle Gefühle verwickelt, ihn wunderlicherweise oft aus schmerzlicher Erregung Lust saugen läßt. Ferner hemmt ein starker Widerwille gegen die bloß formale Bildung des späten Altertums eine gebührende Schätzung der Kunst und Literatur. Augustin verspottet die künstliche Aufregung über ferne und fremde Dinge, z. B. die Schicksale einer Dido, wie die übliche literarische Bildung sie forderte; er ereifert sich über Gelehrte, welche in erbittertem Streite über die Aussprache des Wortes Mensch ( homo) vergessen, was der Mensch dem Menschen schuldet. Aber in aller Kulturfeindlichkeit des Bekenntnisses bleibt Augustin ein großer Künstler der Darstellung, ein Meister des Worts allerersten Ranges; namentlich hat seine Sprache in der Kraft und Weichheit eines durchgehenden Gefühlstons einen musikalischen Klang bezaubernder Art, keinem anderen ward die lateinische Sprache so sehr ein Gefäß in sich selbst vertiefter Innerlichkeit.
So entsteht ein eigentümliches, auch in seiner Verzweigung ganz von der Religion beherrschtes Lebenssystem, die Grundlage der Kultur des Mittelalters. Seine Größe wie seine Gefahren liegen deutlich zutage. Das Leben zieht sich hier auf einen Punkt zurück, wo es vor aller Verwicklung der Weltarbeit geborgen und eines Zusammenhanges mit den ewigen Gründen versichert wird, die Kultur aber verliert dabei allen eigenen Wert. Alles praktische, wissenschaftliche, künstlerische Streben hält den Menschen hier nicht bei sich fest, es treibt über sich selbst hinaus zur Religion, es möchte möglichst rasch den Punkt erreichen, wo die mühevolle Arbeit in eine Anbetung der ewigen Allmacht und Liebe umschlägt. In dieser jenseits der Welt eine sichere Ruhe zu finden und durch nichts in den Bereich des Zweifels und Leides zurückgezogen zu werden, dies Anliegen verschlingt alles übrige Streben. Die elende Lage jener Zeit macht solchen Zug zur Ruhe und Einheit vollauf begreiflich, auch sahen wir, wie Augustin selbst durch starke Klammern an die Kulturarbeit gebunden blieb. Aber der Lauf der Geschichte mußte alles Bedenkliche zur Entfaltung bringen, und es hat dann harte Mühe gekostet, ein Gleichgewicht des Lebens wiederherzustellen.
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d. Die Weltgeschichte und das Christentum.
Bisher war es die Religion überhaupt, das innere Verhältnis des Menschen zum vollkommenen Geiste, was wir Augustins Überzeugungen erfüllen sahen, das Eigentümliche des geschichtlichen Christentums blieb zunächst im Hintergrund. Es tritt aber daraus deutlich hervor, sobald die Betrachtung sich zum näheren Befunde der Welt und der Geschichte wendet. Auch hier beschäftigt Augustin im Grunde nur das Verhältnis zu Gott, aber wer die Religion so groß faßt wie er, dem eröffnet sie auch einen eigentümlichen Anblick der Welt. Zunächst verschmelzen dabei christliche und neuplatonische Züge. Deutlich und entschieden wird die Welt nicht als ein notwendiges Ausstrahlen des Urwesens, sondern als ein Werk freien Wollens gefaßt: nicht aus eigenem Bedürfen, sondern aus der Fülle seiner Güte ( ex plenitudine bonitatis) hat Gott sie geschaffen. Er hat alles selbst geschaffen, nicht, wie die Neuplatoniker meinten, durch untergeordnete Zwischengötter; so gebührt ihm allein Anbetung und Dank. Aber die Welt, die er schafft, ist nicht ein beliebiges und gleichgültiges Etwas, wie es bei den früheren Kirchenvätern scheinen konnte, sondern Gott eröffnet in ihr seine ganze Fülle und Herrlichkeit, er stellt in ihr sein eigenes Wesen dar. So ist sie kein bloßes Nebeneinander einzelner Dinge, sondern ein fester Zusammenhang, ein eng verbundenes Ganzes. Ferner bedeutet dieses sinnliche Dasein nicht das Ganze der Welt, sondern es ruht auf einer unsichtbaren Ordnung, die vor ihm war, und die ihm immer neues Leben zuführt. Auch was in unserem Kreise geschieht, erklärt sich nicht aus dem äußeren Zusammensein der Dinge, sondern nur aus einem Wirken innerer Kräfte; alles ist voller Wunder, am meisten wunderbar ist, was alle Tage geschieht, z. B. das Hervorgehen eines Lebewesens aus seinem Samen, nur hat die Gewohnheit uns dagegen abgestumpft. Das Wunder ist nichts Widernatürliches und Willkürliches, sondern eine tiefere Natur und Gesetzlichkeit; einen Zufall gibt es nicht, nur wir Menschen sprechen von Zufall, wo wir nicht die Ursachen kennen. Auch das Nacheinander des Geschehens ist innerlich verkettet, das Frühere enthält das Spätere, die »Samen der Samen« lagen in den Anfängen der Welt; wenn erst besondere Stellen und Zeiten jene entwickelt haben, so waren sie nicht mehr als Gelegenheiten, nicht die schaffenden Gründe. So gleicht die Welt einem Riesenbaum, dessen Wurzel in unsichtbarem Vermögen ( vi potentiaque causali) alle spätere Bildung enthält; wunderbar wie alles Werden aus dem Samen ist auch der Fortgang des Weltprozesses. Auch dadurch kommt Ordnung in die bunte Fülle, daß Gott, das vollkommene Sein, den geschaffenen Dingen ein in verschiedenen Graden abgestuftes Sein verliehen hat, so daß sie miteinander eine fortlaufende Kette bilden.
So gewinnt die Welt als eine Darstellung des göttlichen Wesens mehr Größe, Zusammenhang und Innerlichkeit. Um so peinlicher berührt die Wahrnehmung des Bösen, das ihre ganze Ausdehnung durchdringt. Von Anfang an war es dem Denker nahe und gegenwärtig, die religiöse Spekulation mit ihrer Zurückführung aller Dinge auf Gott steigert seine Schwere noch weiter. Dabei zeigt das Grübeln über das Böse die ungesunde Art der Sinnlichkeit Augustins in unerquicklicher Weise. Wie den Manichäern, so scheint auch ihm das Böse schon in der Natur zu walten und dem Guten zu widerstreiten. In Ausführung dessen sucht Augustin die Sünde vornehmlich in der geschlechtlichen Sphäre und verficht die Meinung, »daß die Zeugungslust Sünde sei, und daß die Erbsünde sich eben aus der Zeugung als Fortpflanzung einer natura vitiata erkläre« (Harnack). Durch breites Ausspinnen dessen sind die Gedanken der christlichen Gemeinde auf unsaubere Dinge gelenkt und ist die Phantasie der Gläubigen vielfach vergiftet worden. Der Sinnlichkeit vornehmlich Schuld aufbürden, heißt das moralische Problem nicht vertiefen, sondern verflachen.
Aber dies ist nur ein besonderer Zug seiner widerspruchsvollen Natur, und auch hier zerstört alles Bedenkliche der Ausführung nicht die Bedeutung des Grundgedankens. Augustin sieht in dem Bösen nicht bloß zerstreute Vorgänge an den Individuen, sondern eine durchgehende Erscheinung, einen zusammenhängenden Lebensstrom: durch Adams Fall sind alle Geschlechter in die Sünde verwickelt, die ganze Menschheit ist von Gott abgewichen und der Macht des Teufels verfallen. Von einem solchen Gesamtstande der Verderbnis umfangen, ist der Einzelne völlig machtlos; er kann die Sünde nicht vermeiden, da die Erregbarkeit für das Gute erloschen, der Widerstand gegen das Böse geschwächt ist. Auch hilft keine Berufung auf eine Freiheit des Handelns; denn gut handeln kann nur, wer gut ist, gut aber sind wir nicht.
Trotzdem wird die Überzeugung festgehalten, daß die Welt als das Werk des vollkommenen Geistes gut ist, und daß auch das Böse schließlich dem Guten dienen muß. »Wäre nicht das gut, daß es auch Übel gäbe, so würden sie auf keine Weise von dem allmächtigen Guten zugelassen sein.« Aber wie den schroffen Widerspruch der religiösen Überzeugung und der unmittelbaren Weltlage lösen, lösen nicht nur für den Glauben, sondern auch für das Denken? Augustin hat hier seine ganze Kraft eingesetzt, alle Richtungen seines Denkens streben hier zu Einem Ziele zusammen.
Den Beginn der Aufklärung bildet die griechische, besonders energisch von den Neuplatonikern verfochtene Überzeugung, daß das Böse keine selbständige Natur, keine eigene Wirklichkeit bildet, sondern daß es einem anderen Sein nur anhängt, daß es nur eine Hemmung und Beraubung des Guten ist: »was schadet, beraubt die Sache, der es schadet, eines Gutes, denn wenn es kein Gut nimmt, so schadet es überhaupt nicht«. Verlieren läßt sich nur, was man besaß, erblinden z. B. kann nur, wer sah; je höher etwas steht und je mehr es besitzt, desto mehr läßt sich ihm nehmen. Diesem Gedankengange wird das Leid selbst ein Zeugnis für die Größe des ursprünglich vorhandenen Guten; wurzelt aber dieses Gute in Gott, so kann es nicht letzthin verloren gehen. Auch bei solcher Wendung findet Augustin in allem und jedem Streben, auch in der schlimmsten Verirrung, ein Verlangen nach Wahrem und Gutem; auf falschen Wegen pflegen wir Glück und Seligkeit zu suchen, aber wir suchen Glück und Seligkeit.
Aber wie kann eine allmächtige Güte irgendwelches Dasein eines minder Guten, irgendwelche Beraubung von Vorzügen dulden? Um das begreiflich zu machen, wird jene metaphysische Überzeugung durch eine ästhetische Betrachtung ergänzt. Nicht von den einzelnen Teilen her, sondern nur als ein Ganzes ist die Welt zu verstehen; wer die Vielheit zerstreut und zerstückelt betrachtet, der entdeckt überall Mängel und Schäden. Namentlich sei die Welt nicht nach dem Wohl und Wehe des Menschen bemessen: »nicht nach unserem Vorteil oder Nachteil, sondern bei sich selbst betrachtet, gibt die Natur ihrem Schöpfer Ehre«. Vom Ganzen aus wird sich rechtfertigen, was für sich fehlerhaft dünkt, wie der Zusammenhang des Gemäldes auch die schwarze Farbe schön machen kann und im musikalischen Kunstwerk alle Disharmonien der Harmonie des Ganzen dienen mögen. Eben in dem Umspannen und Überwinden von Gegensätzen mag höchste Schönheit entstehen.
Demnach gilt es nur auf den Standort des Ganzen zu kommen, diesen aber bietet nicht die Welt, sondern das göttliche Sein. Namentlich ist es die moralische Seite der Gottesidee, welche den versöhnenden Abschluß bringt, der griechische Unterbau erhält damit eine christliche Spitze. Das Böse der Welt verliert seinen Widersinn als ein unentbehrliches Mittel zur Darstellung der sittlichen Vollkommenheit Gottes. Solche Darstellung muß ein Zwiefaches leisten: es gilt die beiden Hauptseiten der sittlichen Welt, Gerechtigkeit und Liebe, miteinander auszugleichen, dafür aber hat sich einerseits der strenge Ernst der sittlichen Ordnung mit ihrem Gericht, andererseits Gottes Güte und Gnade zu erweisen. Jenes geschieht, indem von den Menschen, die allesamt durch ihre Sünden dem Gericht verfallen sind, der eine Teil, d. h. aber die große Mehrzahl, der verdienten Strafe überlassen bleibt, dieses, indem ein anderer Teil ohne alles eigene Verdienst durch reine Gnade gerettet wird. Denn das fordert der Grundgedanke des ausschließlichen Wirkens Gottes, daß nicht eine unterschiedliche Leistung der Individuen Seligkeit oder Verdammnis bestimme, sondern lediglich und allein das Wohlgefallen, der nicht weiter begründete Wille der göttlichen Allmacht. Der menschlichen Freiheit irgendwelche Mitwirkung zugestehen, heißt Gottes Werk verringern. So wird die Freiheit, die dem ältesten Christentum unentbehrlich dünkte, jetzt der unbedingten Abhängigkeit des Menschen von Gott geopfert, freilich, wie sich zeigen wird, nur in dieser einen Gedankenrichtung. Alles Gute, so heißt es hier, wirkt nicht der Mensch, sondern Gott: »was von dir geschieht, das wirkt er selbst in dir«.
So verbindet das Ganze der Weltordnung Liebe und Gerechtigkeit, Gnade und Strenge und bildet, von Gott aus angesehen, eine volle Harmonie; ist diese Harmonie nicht ohne einen Abfall erreichbar, so ward dieser mit gutem Grunde zugelassen; »Gott erachtete es für besser, an dem Bösen wohlzutun, als das Böse überhaupt nicht zuzulassen«. Demnach ist die Welt »auch mit den Sündern schön«, selbst das ewige Verderben der Unerlösten dient der Vollkommenheit des Ganzen.
Das ist ein gigantischer Versuch, das Problem des Bösen theozentrisch zu lösen. Er erfolgt unter bewußter Voranstellung der Moral, unter tatsächlichem Vorwalten künstlerischer Gedanken oder, wie es auch heißen könnte, unter künstlerischer Gestaltung der moralischen Welt. Denn künstlerisch ist jene Fassung des Weltprozesses als einer Darstellung des göttlichen Wesens, das Auseinandertreten der Eigenschaften Güte und Gerechtigkeit, das Streben nach Gleichmaß und Ordnung. Im Grunde zeigt dieser Lösungsversuch mehr platonischen als christlichen Geist.
Ihre Hauptschwierigkeit teilt diese Behandlung der Welt und des Bösen mit der gesamten weltflüchtigen Denkweise jener Zeit. Sie setzt alle Wirklichkeit in Gott und sträubt sich zugleich gegen eine Auflösung der Welt in bloßen Schein, sie behauptet eine Welt außer Gott und sucht zugleich alles Wesenhafte dieser Welt in Gott. So beharren zwei Gedankenreihen unausgeglichen nebeneinander, ja es vermengen sich eine göttliche und eine menschliche, eine ewige und eine zeitliche Ansicht der Dinge. Augustins Lehre hat in ihrer furchtbaren Härte eine riesenhafte Größe, solange sie ganz bei Gott verbleibt und alles menschliche Ergehen als ein bloßes Mittel und Werkzeug behandelt. Aber so völlig läßt sich für uns Kämpfende und zur Entscheidung Berufene die Betrachtung vom Menschen her nicht verdrängen; damit aber wächst die Härte des Bildes bis zur Unerträglichkeit. Gott könnte alle Menschen retten, hat es jedoch, um die verschiedenen Seiten seines Wesens gleichmäßig zu entfalten, nicht getan, sondern die große Mehrzahl in alle Ewigkeit verdammt, ohne daß diese Unseligen irgendwie mehr verschuldet hätten als die zur Seligkeit Auserkorenen. Augustin redet dabei von freier Gnade, wo in Wahrheit despotische Willkür vorliegt; er preist das Geheimnis und hat Mühe, nicht in bare Unvernunft zu verfallen. Schließlich bleibt nur die Berufung auf das Jenseits, das alle Rätsel lösen werde.
Ferner dünkt hier in Rettung oder Verdammung alles durch den ewigen Ratschluß Gottes im voraus bestimmt, »prädestiniert«, und der ganze Weltlauf fertig abgeschlossen; der Mensch kann mit allem Tun und Lassen nichts daran ändern, seine Rolle ist ihm aufs genaueste vorgeschrieben. Das müßte allen Antrieb und alle Spannung des Lebens zerstören. Denn den Verdammten kann alle Mühe nichts nützen, den Geretteten alle Verfehlung nichts schaden; es bliebe nur die Qual der Ungewißheit, auf welche Seite man gehöre.
Aber so große Macht diese Gedankenrichtung über Augustin hat und mit so eiserner Energie sie bis zu Ende verfolgt wird, wieder haben wir nur eine Seite des Mannes; sein unmittelbares Empfinden wie seine Stellung im kirchlichen Leben folgt einer anderen Schätzung. Augustin schiebt dabei jene Gedankenreihe gänzlich zurück, versetzt sich unbedenklich in eine zeitliche Betrachtung der Dinge und behandelt die ewige Ordnung als einen bloßen Hintergrund der weltgeschichtlichen Arbeit. Hier sieht es aus, als sei die Sache auch jetzt noch mitten im Fluß, als könne und müsse die Gnade dem Menschen sich immer von neuem erweisen, als gelte es eben jetzt, aus eigenem Vermögen die große Entscheidung zu treffen. So kommt auch die Freiheit wieder zu Ehren. Nur einer Hilfe und eines Anschlusses scheint der Einzelne zu bedürfen; ausdrücklich heißt es, daß die Barmherzigkeit Gottes nicht genügt, sondern auch der Wille des Menschen erforderlich ist. So gehen die spekulative und die praktische Gestaltung des Lebens in dieser Gedankenwelt weit auseinander.
Der Gegensatz erstreckt sich auch in die Fassung des Christentums. Der reinen Spekulation bedeutet es ein übergeschichtliches Gegenwirken des ewigen Gottes gegen die Auflehnung des Bösen, eine Offenbarung der göttlichen Kräfte in höherer Potenz. Aber die nähere Durchbildung bringt das geschichtliche Christentum mit dem Erlösungswerke und der Persönlichkeit Jesu zur vollen Geltung. Auch hier sieht Augustins Sinn für das Große und Universale im Christentum mehr als eine besondere Erscheinung innerhalb der Zeit; »was jetzt christliche Religion genannt wird, das war auch bei den Alten und fehlte nicht seit Beginn des Menschengeschlechts, bis Christus selbst im Fleisch erschien. Seitdem begann die schon vorhandene wahre Religion die christliche zu heißen.« Aber zugleich erklärt er das Eingehen des Göttlichen in die Geschichte zu sichtbarer Gegenwart als die eigentümliche Größe des Christentums; dadurch kann es dem ganzen Menschengeschlecht zur Rettung verhelfen, während der Einfluß der Philosophie, die nur ein zeitloses Wirken der Weltvernunft kennt, sich auf einige wenige beschränkt. Christus ist gesandt, um die Welt von der Welt zu befreien. Durch sein Leiden und Überwinden ist die im Sündenfall begründete Macht des Bösen über uns gebrochen, die Urkunde vernichtet, die gegen uns zeugte, der Mensch wieder fähig gemacht sich Gott zu nähern.
Solche Überzeugungen können bei Augustin sich weit und breit entfalten ohne ein Eingehen auf das Eigentümliche der Persönlichkeit und des Lebens Jesu. Aber wo immer seine innerste Seele sich voll und frei ausspricht, da erscheint ein tiefer Eindruck dieser Persönlichkeit. Groß an ihr ist besonders die Demut in der Hoheit, sowie die Umkehrung der natürlichen Schätzung der Dinge; »keine Vorstellung ist bei ihm im Hinblick auf Christus stärker ausgeprägt, als daß Christus das geadelt hat, wovor uns schauerte (Schmach, Schmerzen, Leid, Tod), und das entwertet hat, wonach wir begehrten (nämlich Recht zu bekommen, angesehen zu sein, zu genießen)« (Harnack).
Zugleich entsteht eine Philosophie der Geschichte mit dem Christentum als Mittelpunkt. Die Menschheit durchläuft dieselben Lebensalter wie das Individuum; der Höhe männlicher Kraft entspricht das Erscheinen Christi, seitdem begann das Greisenalter. Denn wohl eröffnet Christus ein Reich unverwelklicher Jugend, aber diese Jugend gehört in eine andere Ordnung der Dinge als in die irdische. So bildet nicht diese den Hauptplatz der Arbeit, und es entsteht kein Drang, hier möglichst viel zu erreichen und die ganze Weite unserer Wirklichkeit vernunftgemäß zu gestalten, sondern es wird alle äußere Lage gleichgültig gegenüber dem inneren Befinden sowie den Gütern des Jenseits. Dieser weltflüchtige Zug hemmt hier, wie überhaupt im alten Christentum, alles Streben nach wesentlicher Umwandlung der sozialen Verhältnisse, es kann z. B. die Sklaverei ruhig bestehen bleiben, obwohl sie eine Folge des Sündenfalls ist und vor Gott Herren und Sklaven gleichwertig sind. Denn »der Gute ist frei, auch wenn er dient, der Böse Sklav, auch wenn er herrscht«.
Wie Augustin seine Kraft nicht für irdische Dinge einsetzt, so kann auch seine Gesinnung sich nicht liebevoll in dies Leben versenken, nicht hier sich zu Hause fühlen. Wohl erscheinen einzelne Ansätze, dies Dasein durch eine unmittelbare Gegenwart des Göttlichen zu erhöhen und die Welt nicht durch die Flucht, sondern durch eine innere Wandlung zu überwinden. Augustin erklärt es für verkehrt, den Ausdruck »Welt« immer in schlechtem Sinne zu nehmen, er kann es gelegentlich größer finden, die irdischen Dinge zu besitzen ohne ihnen anzuhangen, als ihnen völlig zu entsagen. Bisweilen scheinen die Gebote nur deshalb gegeben, weil die Menschen, wie sie einmal sind, nicht zu jener inneren Beherrschung gelangen. Der Fromme ist auch in diesem Leben der Prüfung nicht elend, kann er sich doch stets aus der Sphäre des Leides zurückziehen auf ein Leben mit Gott, auf eine Gemeinschaft göttlicher Liebe, die seiner innersten Seele Frieden und Freude sichert.
Jedoch gestattet das tiefe Gefühl für die Schwere von Leid, von Irrung und Schuld, die starke Empfindung der Ungewißheit und Unfertigkeit unseres Daseins hienieden keine volle Befriedigung, das wahre und vollendete Glück bleibt dem Jenseits vorbehalten. Dort allein ist Ruhe und seliges Schauen, hier dagegen nur Mühe und Hoffnung; dieses Leben ist eine bloße Vorbereitung, eine Wanderschaft in der Fremde, eine Stätte der Versuchung, ja im Vergleich mit jenem Leben ein Tod. So hat das irdische Dasein einen Wert nur durch den Ausblick auf das kommende Leben. Denn es dient der Erziehung für dieses und hat in allen Mühen und Schmerzen die Gewißheit einer besseren Zukunft. Ja, wenn der Gedanke dahin voraneilt, so mag alles jetzige Dunkel nur als ein dünner Schleier erscheinen, der baldigst fallen wird; der Herrlichkeit jenes Lebens gegenüber verblassen alle Leiden dieser Welt zu bloßem Schatten und Traum. Wir sind nur gleichsam traurig, denn unsere Traurigkeit vergeht wie der Schlaf, und am Morgen werden herrschen die Guten. Über die Unsterblichkeit aber besteht hier, wo der Kern des Lebens so ganz aus dem Sichtbaren ins Unsichtbare, aus der Zeit in die Ewigkeit, vom Menschen in Gott verlegt ist, nicht der mindeste Zweifel; wer von ganzem Herzen Gott liebt, ist in solcher Liebe der eigenen Unvergänglichkeit durchaus gewiß. Denn »er weiß, daß für sich selbst nicht vergeht, was für Gott nicht vergeht. Gott aber ist der Herr der Lebendigen und der Toten«.
Der Gedanke an das Schicksal im Jenseits, und zwar nicht bloß das eigene, sondern auch das der Angehörigen, wird aber ein starker Antrieb zu eifriger Arbeit im Diesseits. Namentlich wirkt dahin die Lehre vom Fegefeuer, einem Mittelstande zwischen Seligkeit und Verdammnis, samt der Überzeugung, daß Fürbitten und Werke der Lebenden die Leiden des Fegefeuers zu mildern vermögen. Die Ausbildung solcher Lehre zeigt Augustin als genauesten Kenner des menschlichen Herzens und dessen, was darüber Macht hat; wenige haben so geschickt wie er Religionspsychologie praktisch erwiesen.
Solche Richtung auf das Jenseits stempelt alle Freude an den Gütern des Diesseits zu einem Unrecht. Der Besitz dieser Güter gilt hier als eine Hemmung des sittlichen Lebens und der vollen Hingebung an Gott. Nun erhebt sich in voller Stärke das Lebensideal der Askese, das Privateigentum erscheint als eine Hauptquelle des Elends der Welt; wer den Besitz völlig aufgibt, übertrifft den, der nur die Liebe zu ihm aufgibt. Die Ehelosigkeit wird ein höherer Stand als die Ehe, selbst ein bei allgemeiner Ehelosigkeit unvermeidliches Aussterben des Menschengeschlechts würde der Denker mit Freude begrüßen. So gehören schließlich die Liebe wie die Hoffnung gänzlich dem Jenseits.
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e. Die Kirche.
Bis jetzt eröffneten sich bei Augustin zwei Gedankenkreise: der allgemeinreligiöse und der christliche; außer ihnen gibt es aber noch ein drittes Reich, das sein Streben anzieht und oft ausschließlich zu beherrschen scheint: das kirchliche Leben, die sichtbare, mit festen Ordnungen ausgestattete religiöse Gemeinschaft. Was immer sich den Lateinern an Verstärkung der kirchlichen Macht und Autorität entwickelt hatte, das willig aufzunehmen und kräftig weiterzuführen trieben Augustin vornehmlich zwei Gründe: die Nützlichkeit für die Menge und die Unentbehrlichkeit für sein eigenes schwankendes Gemüt. Den Erwägungen der Zweckmäßigkeit geben namentlich frühere Schriften einen unumwundenen Ausdruck. Mit den anderen Kirchenvätern erblickt Augustin einen Hauptvorzug des Christentums darin, nicht bloß einigen wenigen, sondern der ganzen Menschheit Rettung zu bringen. Besteht zugleich ein tiefes Mißtrauen gegen das Vermögen der Individuen, und erhält sich auch die antike Vorstellung von einer bleibenden Spaltung der Menschheit in eine einsichtige Minderzahl und eine geistig beschränkte Mehrzahl, so sind Autorität und Glaube unentbehrlich; mag der Höherstehende ihrer nicht für sich selbst bedürfen, auch er hat sich zu unterwerfen, damit nicht der Gebrauch seiner Freiheit den Glauben der Menge erschüttere; »wenn sie nicht sich selbst schaden, so werden sie durch ihr Beispiel den übrigen schaden«. Hier erscheint die Kirche als eine Anstalt zur Erziehung und Disziplinierung der Menge; der Glaube, d. h. die Unterwerfung unter die Kirchenlehre, wird wegen seiner Sicherheit, ja Bequemlichkeit empfohlen! Weit stärker aber als solche Nützlichkeitsgründe treibt Augustin seine eigene ruhelose und von Gegensätzen zerrissene Natur zum Suchen eines festen, allem Zweifel entzogenen Haltes. Offenbar schützt aller Hochflug der Spekulation ihn nicht vor peinigenden Zweifeln, bei aller geistigen Kraft ist er eine Thomasnatur, die fühlen und greifen will, was sie vollauf anerkennen soll, die der Wirklichkeit der geistigen Größen nicht traut, wenn nicht eine sinnliche Verkörperung sie deutlich vor Augen rückt. Daher klammert er sich mit ganzer Seele an die Kirche als eine unentbehrliche Stütze und bekennt von sich selbst: »Ich würde dem Evangelium nicht glauben, wenn mich nicht die Autorität der katholischen Kirche bewöge«.
Solcher Gedankenrichtung wird zum Zentralbegriff des geistigen und religiösen Lebens die Kirche, die Gemeinschaft des neuen Lebens, die Gnadenanstalt, in der allein die göttliche Liebe und mit ihr ein neues Leben dem Menschen – vornehmlich durch die Sakramente – zuströmt. Hier allein ist das Heil zu erreichen, hier allein werden Sünden vergeben, hier allein entfaltet sich sittliches Leben. Für den Einzelnen gibt es danach keine Rettung ohne eine völlige Unterwerfung unter die Lehre und das Leben der Kirche. »Ohne ein kräftiges Regiment der Autorität kann die wahre Religion nicht bestehen.«
Es ist zunächst die Kirche als sichtbare Ordnung, als feste Anstalt, der Augustin Verehrung zollt. Aber er könnte eine so hohe Schätzung vor seiner eigenen Natur nicht rechtfertigen, zöge nicht das Sichtbare unsichtbare Kräfte an sich, und würde es nicht bei aller Selbständigkeit zugleich ein Glied weiterer Zusammenhänge. Dies aber wird es in der Tat, das Zeitliche und Sinnliche erhält, ohne seine Art aufzugeben, zugleich die Eigenschaften der höheren Ordnung und schöpft daraus einen tieferen Gehalt, eine gewaltigere Kraft, eine unsagbare Weihe; hierher mündet alles ein, was dort gewonnen wurde, Sichtbares und Unsichtbares verschmelzen in ein einziges Lebensganzes. Der Kreis der Kirche scheint hier den der Religion und den des christlichen Lebens gänzlich an sich zu ziehen und in sich zu fassen; wurde aber an die Religion aller Geistesgehalt des Lebens gebunden, so gibt es schlechterdings nichts Gutes außerhalb der Kirche: ohne die katholische Kirche kein Christentum, ohne Christentum keine Religion, ohne Religion keine geistige Selbsterhaltung des Menschen. Danach entscheidet das Verhalten zur Kirche letzthin über des Menschen Wert und Seligkeit.
Dies Zusammenrinnen des Sinnlichen und des Geistigen, des Zeitlichen und des Ewigen ist nicht bei Augustin mit Einem Schlage erfolgt, vielmehr drängte dahin die gesamte Bewegung der älteren Christenheit. Aber die Sache wird jetzt ins Große gehoben und gewinnt damit erst ihre volle Kraft, Augustin aber ist mit solcher Erhöhung der Begründer des Katholizismus in ausgeprägterem Sinne geworden.
Die Bedeutung jener Verschmelzung wie ihre geschichtliche Notwendigkeit ist nicht zu bestreiten. Sie gibt dem Leben einen festen Halt und dem Handeln ein greifbares Ziel, sie hält durch Eine Aufgabe alle Kräfte zusammen. Indem die sichtbaren Ordnungen unsichtbare Kräfte für sich gewinnen, das Zeitliche direkt das Ewige mitteilt, nicht als ein bloßes Symbol, sondern als ihm untrennbar verbunden, ungeschieden mit ihm verfließend, wächst ins Unendliche die Spannung dessen, was bei uns und von uns geschieht. Der Mensch weiß sich hier in göttlichen Zusammenhängen sicher geborgen, und von seinem eigenen Handeln geht nichts verloren. Die Grundidee des Christentums von der Einigung des sonst getrennten Göttlichen und Menschlichen, dem Eingehen des Ewigen in die Zeit, hat hier eine Durchführung gefunden, die gewiß sehr angreifbar, aber zugleich höchst wirksam ist und dabei der geschichtlichen Lage entsprach. Denn wie hätte das Christentum zur Zeit der Völkerwanderung und der Bildung neuer Nationen anders wirken und sich durchsetzen können als in dieser Form? Nichts unterscheidet Augustin mehr von Plotin und auch von den griechischen Kirchenlehrern als solches Hervortreten der religiösen Gemeinschaft mit ihrer Geschichte, solches Selbständigwerden einer zeitlichen Ansicht und Ordnung der Dinge.
Aber die Größe und Stärke enthält zugleich schwerste Verwicklungen. Jene Verschmelzung des Ewigen und Unsichtbaren mit einer geschichtlichen Gestaltung ergibt die Gefahr sowohl einer Festlegung und Verengung als einer Veräußerlichung, die Gefahr einer Bindung ewiger Wahrheiten an zeitliche Formen und innerer Aufgaben an äußere Leistungen. Eine schroffe Ausschließlichkeit und ein leidenschaftlicher Fanatismus werden unvermeidlich, wenn alle Verbindung mit dem Gottesreiche, ja mit dem Geistesleben verliert, wer nicht diese sichtbare Gemeinschaft teilt und ihren Forderungen genügt. Dazu erhebt sich die Frage, ob Augustin jene Einheit der Welten nicht mehr gefordert als erwiesen hat, ob die Begriffe nicht mehr ineinandergeschoben als sachlich geeinigt sind. In Wahrheit haben alle Hauptbegriffe bei ihm einen Doppelsinn. Das Christentum ist bald die ewige, alle Zeit erfüllende Offenbarung Gottes, bald diese besondere und begrenzte geschichtliche Ordnung; die Kirche bald die unsichtbare Gemeinschaft der von Gott Erwählten, bald diese sichtbare Verbindung mit einem menschlichen Oberhaupt; der Glaube bald die willige Hingebung der ganzen Seele an die göttliche Wahrheit, bald ein bloßes Annehmen der Kirchenlehre ohne eigene Prüfung; das Wunder bald die Erweisung übernatürlicher Kräfte in allem Geschehen, bald eine seltene Durchbrechung des regelmäßigen Naturlaufs, der als eine Gewohnheit des göttlichen Handelns erscheint. Solchen Doppelsinn zu deutlichem Bewußtsein bringen, heißt einen Grundpfeiler des augustinischen Systems und der mittelalterlichen Ordnung als ungesichert erkennen.
Wenn aber Augustin alles Geistesleben der menschlichen Gemeinschaft an die Kirche bindet, so hat er zugleich alle Kraft aufgeboten, dem kirchlichen Leben einen reichen Inhalt zu geben. Eine mystische Grundanschauung, eine warme Teilnahme am menschlichen Ergehen, ein kluges praktisches Wirken helfen und stützen einander gegenseitig. Den Grundgehalt dieses Lebens von der Zufälligkeit der Person abzulösen, dazu mußte es vornehmlich einen Augustin drängen, der so gering vom Menschen dachte und die sittlichen Schäden seiner eigenen Zeit so schmerzlich empfand. So entwickelt er die Lehre von dem Sakrament des Priesteramts ( sacramentum ordinis) und verficht einen eigentümlichen, von der Beschaffenheit des Individuums unabhängigen, unzerstörbaren »Charakter« des Priesters.
Wie die Kirche ihren Gliedern alle Güter des christlichen Lebens übermittelt, so bestärkt sie vornehmlich die Liebe, die nach Agustins Überzeugung den Kern des christlichen Lebens bildet. Fragen wir, ob jemand ein guter Mensch sei, so fragen wir nicht, was er glaubt und was er hofft, sondern was er liebt; die Seele ist mehr da, wo sie liebt, als da, wo sie lebt, sie wird, was sie liebt; nicht der Glaube und die Hoffnung, nur die Liebe reicht über das Leben hinaus in das Jenseits. Alle Tugenden erhöht und veredelt die Liebe, die uns von Gott, vornehmlich mittels der sakramentalen Einrichtungen, zuströmt. Ja die Tugend wird grundsätzlich als die »Ordnung der Liebe« definiert, d. h. als die rechte Richtung oder das rechte Maß der Liebe; auch die Werke sind nicht zu entbehren, weil der Mensch als Glied der Gemeinschaft seine Gesinnung auch zu betätigen hat. Die erforderlichen Werke aber sind nach Seite der Religion die Teilnahme an den kirchlichen Einrichtungen, besonders den Sakramenten, nach Seite der Moral hauptsächlich die Erweisung der Barmherzigkeit, die Sorge für die Armen und Bedrängten. Augustin beschränkt sich dabei nicht auf die Förderung der Individuen, er preist die Wirkung des Christentums und der Kirche auf den Stand der ganzen Gesellschaft: die Besserung des Verhältnisses von Herren und Sklaven, die Verbrüderung der Stände, Nationen, aller Menschen, die innere Verbindung von Herrschern und Völkern.
Bei solcher Erziehung der Menschheit bleibt der letzte Gedanke der Kirche immer das Jenseits, eine weltflüchtige Stimmung beherrscht ihre Diener. Aber sie kann nicht im Diesseits das Jenseits vorbereiten, ohne auch eine Herrschaft über die Welt zu üben und sich die anderen Gewalten zu unterwerfen. Nicht aus Liebe und Lust an weltlicher Macht – denn der eigenen Neigung würde viel mehr eine völlige Zurückziehung von der Welt entsprechen –, sondern aus Fürsorge für das Ganze der Menschheit, zur Rettung der gefährdeten Seelen. Aber mag das Streben nach Behauptung solcher Höhe noch so ehrlich sein, die Gefahr ist kaum zu vermeiden, daß das Irdische das Geistliche bei sich festhält und zugleich in seine Zwecke verwickelt. Nicht nur das Individuum mag leicht der Herrschsucht verfallen, auch das Handeln der Kirche nähert sich sehr einer weltlichen Politik. In der schlechten Welt, deren Zustand auch Augustin sich nie wesentlich bessern kann, vermöchte die Kirche ohne eine Rücksicht auf die bestehenden Verhältnisse nichts auszurichten. Daher muß sie wohl oder übel mit ihnen paktieren, sie muß und darf manches dulden ( tolerare), was sie von sich aus anders wünscht. So wird sie mehr und mehr auch ein Reich dieser Welt, unter den Sorgen um die Leitung der Welt droht ihr religiöser Charakter sich abzuschwächen, und über den Erwägungen der Zweckmäßigkeit ihr moralischer Charakter zu sinken.
Eine derartige Kirche kann unmöglich den Staat als gleichwertig anerkennen. Wenn von Anfang an im Christentum eine zwiefache Schätzung des Staates entsprechend der Doppelstellung zur »Welt« bestand, einmal eine willfährige Anerkennung als einer von Gott gesetzten Ordnung, andererseits eine grundsätzliche Verwerfung als eines Erzeugnisses der schlechten Welt, so blieb doch der Vorzug immer der religiösen Gemeinschaft, der »Gottesstadt«; diese Überzeugung mußte sich bei Augustin durch seine Vertiefung des Kirchenbegriffes noch steigern. Auch das Christlichwerden des Staates hebt den Gegensatz nicht auf, obschon es ihn praktisch mildert; der Staat wird schroff abgewiesen, sofern er der Kirche widersteht und auch geistig herrschen will; er wird innerhalb seiner Schranken geschätzt, sobald er die höhere Aufgabe der Kirche anerkennt und fördert. Denn das Bedürfnis des Lebens verlangt eine den Gläubigen und Ungläubigen gemeinsame Ordnung. Namentlich hat der Staat für Ruhe und Frieden zu sorgen, auch die Kirche steht nicht an, in zeitlichen Angelegenheiten seinen Gesetzen nachzukommen. Augustin gewährt in dieser Richtung dem Staate so viel Selbständigkeit, daß in den mittelalterlichen Kämpfen sich Freunde des Staates auf ihn berufen konnten. Aber es beschränkt sich solche Anerkennung auf weltliche Dinge, für das ewige Heil und die geistigen Güter hat allein die Kirche zu sorgen, ihr liegt es ob, die Menschheit für ein höheres Leben zu erziehen. So wird ihr vornehmlich die Seele des Menschen gehören.
Ähnlich steht es mit Volk und Vaterland. Die Kirche verfolgt auf Erden ihren himmlischen Zweck, unbekümmert darum, was in Sitten, Gesetzen, Einrichtungen voneinander abweicht; von dem, was bei verschiedenen Nationen in verschiedener Weise dem Zweck des irdischen Friedens dient, zerstört sie nichts, sondern erhält und befolgt es, soweit es die wahre Religion nicht schädigt. Die geistige Aufgabe aber bleibt davon unberührt, nur in dem niederen Kreise des weltlichen Daseins wird die Nation als etwas Naturgegebenes geduldet.
Zu den Verwicklungen aus dem Zusammenstoß mit der Welt gesellen sich Gefahren im eigenen Leben dieser Kirche, die alles Göttliche an ihre Ordnung bindet. Sie kennt keine Freiheit der Einzelnen, keinen Zwang der Wahrheit, der aus der Tiefe der Seele quillt und den Menschen auf seine eigene Überzeugung stellt. Alle Abweichung und Absonderung erscheint als ein Ausfluß bösen Willens und hochmütiger Selbstüberhebung; der Ungläubige ( infidelis) – niemand hat mehr als Augustin diesen Namen in Schimpf und Schande gebracht – ist ein solcher, der dem göttlichen Wort nicht glauben will, ein Häretiker einer, »der um eines zeitlichen Vorteils und namentlich um seines Ruhmes und Vorranges willen falsche neue Meinungen entweder aufbringt oder annimmt«. Wenn zugleich solche eigenwillige Absonderung die unentbehrliche Autorität erschüttert und damit das Ganze schädigt, so muß ein gewaltiger Haß aufschießen, ein glühendes Verlangen nach Ausrottung des Übels mit Stumpf und Stiel. Kaum irgend bricht die Leidenschaft Augustins so wild und verzehrend hervor als hier, wo sich alle Glut des religiösen Verlangens auf die Verfechtung des kirchlichen Systems überträgt; wohl soll dabei die christliche Liebe erhalten bleiben, indem die Gegenwirkung auch dem eigenen Seelenheil der Betreffenden frommt, aber die Liebestätigkeit erhält einen Zwangscharakter: man soll die einmal dem Christentum Zugehörigen einzutreten nötigen ( compelle intrare), auch gegen ihren eigenen Willen diejenigen zum Guten zwingen, die Feinde ihrer selber sind. »Tötet die Irrtümer, liebet die Menschen«, so heißt es, und es wird Gott angerufen: »Möchtest du die Feinde der heiligen Schrift mit einem zweischneidigen Schwerte töten, und sie aufhören, ihr feindlich zu sein. Denn so wünsche ich sie getötet, daß sie dir leben.« So vermengen sich die Gefühle in höchst widerwärtiger Weise, alle niederen Affekte drohen, unter Versetzung auf den Boden der Kirche, wiederaufzuleben, der wildeste Haß hüllt sich in den Deckmantel christlicher Liebe, der Fanatismus gibt sich als heilige Pflicht. Das führt auf den Weg der Glaubensverfolgungen, der Inquisition und der Ketzergerichte, das ergibt einen Tiefstand des Lebens, eine böse Kehrseite dieses kirchlichen Christentums.
Auch der Gehalt der Moral leidet Schaden durch jene Allgewalt der Kirche und die Alleinherrschaft ihrer Zwecke. Die Moral erscheint nicht als ein selbständiges und an sich wertvolles Reich, sondern als eine Summe von Einrichtungen der Religion und, da Religion und Kirche hier zusammenfallen, der kirchlichen Ordnung. So gibt es sittlichgute Handlungen im wahren Sinne nur innerhalb der katholischen Kirche; den Nichtkatholiken nützen auch die aufopferndsten Liebeswerke nichts, sind sie doch, weil außerkirchlich, auch außergöttlich und daher überhaupt keine guten Werke.
Ferner unterwirft solche Abhängigkeit von der kirchlichen Ordnung die Moral unvermeidlich dem Wechsel und Wandel der Zeit. Daß im Lauf der Geschichte Veränderungen der Lebensregeln erfolgten, erweist jener Zeit vor allem der Unterschied des Alten und Neuen Testaments; am deutlichsten ist die Wandlung in dem Fortschreiten von der früher gestatteten Vielehe durch die Einehe hindurch zu der nunmehr, wenn auch nicht geforderten, so doch empfohlenen Jungfräulichkeit. Bei solchen Wandlungen sind nach Augustins Überzeugung nicht die Meinungen der Menschen, sondern die sittlichen Gebote selbst verändert; was früher erlaubt war, ward später verboten.
Bei dieser Beweglichkeit des Sittlichen können Handlungen pflichtgemäß werden, die den allgemeinen Moralgesetzen direkt widersprechen, wenn nur feststeht, daß ein göttliches Geheiß sie verlangt. Wie die Naturgesetze, so werden auch die Sittengesetze zu bloßen Regeln, die jeder Augenblick zugunsten der Religion durchbrechen kann. Das Gefährliche dieser Wendung bemerkt auch Augustin; so verlangt er sicherste Beweise dafür, daß die Ausnahme von Gott geboten sei, er ist behutsam in der Anwendung der Regel auf einzelne Fälle; behutsamer als andere christliche Denker seiner Zeit. Aber seine Erhebung der Sache ins Prinzip hat besonders dahin gewirkt, die Selbständigkeit der Moral zu erschüttern und die Sorge für sie der für die Kirche unterzuordnen.
In allem diesem sehen wir das Kirchensystem ins Unermeßliche wachsen, die Religion an sich ketten, das Leben nach seinen Zwecken gestalten, die Gegner niederwerfen. Aber bei Augustin selbst wird alle Autorität und alle Entwicklung kirchlicher Macht vom stärksten persönlichen Leben umfaßt und durchwirkt, die Persönlichkeit mit ihrer unmittelbaren Beziehung auf Gott gibt dem Ganzen eine belebende Seele. Das Leben mit Gott, wie es sowohl in mystischer Versenkung zum letzten Grunde alles Wesens strebt als im persönlichen Verkehr eine innere Gemeinschaft erzeugt, führt der kirchlichen Ordnung unablässig Kraft, Wärme und Innigkeit zu und bewahrt sie vor einem Sinken in einen seelenlosen Mechanismus der Zeremonienübung und Werkheiligkeit. Die Autorität selbst wirkt hier nicht als eine starre Tatsache durch das bloße Schwergewicht ihres Daseins, sondern es treibt zu ihr und erhält bei ihr ein inneres Bedürfnis, eine zwingende Notwendigkeit der glücksdurstigen, einen festen Halt verlangenden Persönlichkeit. Aus dieser belebenden Tiefe schöpft das kirchliche System zum guten Teil die unermeßliche Macht über die Gemüter, die es bis zur Gegenwart ausübt. Aber kann alle Größe der Leistung den Widerspruch verhüllen, daß der Mensch zu einem so ursprünglichen, so selbständigen, so umwälzenden persönlichen Leben erhoben und zugleich zu unbedingter Unterwerfung unter das kirchliche System angehalten wird? Der Widerspruch ward hier beschwichtigt, aber nur einstweilen, nur für eine besondere Zeit; schließlich mußte er zur Empfindung kommen und dann zu einer Weiterbildung des Lebens drängen.
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f. Rückblick.
Die eingehende Betrachtung Augustins sei nicht noch durch weitschichtige Reflexionen belastet. Nur daran sei kurz erinnert, wie sehr das Ganze den Reichtum, aber auch die Unfertigkeit von Augustins Wirken und Wesen gezeigt hat. Drei Lebenskreise, den allgemeinreligiösen, den christlichen und den kirchlichen, sahen wir große Reiche bilden, das Ganze der Wirklichkeit an sich ziehen, das menschliche Dasein eigentümlich gestalten. Indem diese Wirklichkeiten sich teils verbinden und ineinander schieben, teils innerlich widerstreben und durchkreuzen, entsteht eine großartige Weite und Fülle des Lebens, aber es ergeben sich auch schroffste Widersprüche. Derselbe Mann, der, in Abschüttelung alter Überlieferung, das Selbstleben der Seele zum beherrschenden Mittelpunkt der Wirklichkeit machte, hat zur Begründung eines Systems unbedingter Autorität mehr als irgendein anderer getan; der Mann, dem die Liebe zur Seele des Lebens, ja zur weltbewegenden Gotteskraft wurde, hat mit seiner Rechtfertigung des Fanatismus unsäglichen Haß entzündet; er, der in wesenerneuernder Umwälzung die gründlichste Befreiung des Geistigen und Sittlichen von aller bloßen Natur vollzog, ist in anderer Richtung einer Vermengung von beidem, auch einer groben Materialisierung des religiösen Lebens verfallen. Vornehmlich zeigt sein ganzes Wirken eine entgegengesetzte Behandlung des Subjekts, indem dies einmal zu kühnster Betätigung aufgerufen wird und sich siegesgewiß über alles gegenständliche Dasein hinaushebt, andererseits aber immer wieder von peinigendem Zweifel über das eigene Vermögen befallen wird und stürmisch eine sichere Anlehnung fordert, alles Heil an eine äußere Ordnung bindet.
Das Schlimmste bei dieser im einzelnen ebenso durchsichtigen wie im ganzen rätselhaften Natur ist die Verschiedenheit der geistigen, namentlich der moralischen Höhenlage; bei keinem großen Denker liegen Höhe- und Tiefpunkt so weit auseinander wie bei Augustin. Einerseits erscheint eine wunderbare Innigkeit, das tiefste Mitempfinden aller menschlichen Geschicke, ein Beleben des Besten und Edelsten im Menschen, ein Ergriffensein von göttlicher Kraft; andererseits aber reißt der ungestüme, gegen das Eindringen niederer Triebe wehrlose Glücksdrang alles Streben mit sich fort und erzeugt namentlich da unheimliche Gebilde, wo er die eminente logische Kraft des Mannes in seine Dienste zieht und sich gegen allen Widerspruch des unmittelbaren Gefühles abstumpft. Jene unerquickliche Verschmelzung von glühender Leidenschaft mit kalter und eiserner Konsequenz, welche die späteren Glaubenskämpfe oft zeigen, sie beginnt mit Augustin.
Aber die Schwäche in der Sache wurde für die Wirkung zur Stärke. Die verschiedensten Richtungen fanden bei Augustin nicht nur eine Anknüpfung, sondern eine deutliche, ja klassische Verkörperung, er ist der beredteste Dolmetsch dessen, was sie alle fühlten und wollten. Zugleich kann hier das eine das andere ergänzen, auch schützt vor unliebsamen Folgerungen das stete Offenstehen neuer Wendungen. Für das Verständnis aller Richtungen hat Augustin einen eigenartigen Wert, insofern sie bei ihm ihren Ursprung aus dem Ganzen des Menschenwesens aufs deutlichste zeigen und ihre Triebkräfte mit voller Klarheit enthüllen. Namentlich erhellt hier, wie tief das System des mittelalterlichen Katholizismus in seelischen Bedürfnissen des Menschen wurzelt, und wie sicher es dadurch gegen alle Angriffe sowohl brutaler Gewalt als kleinlicher Spottlust geschützt wird.
Augustins historische Stellung zu bezeichnen, ist keineswegs leicht. Augenscheinlich bildet er die geistige Höhe des alten Christentums und beherrscht er das Mittelalter. Aber auch das neue Christentum hat unablässig aus ihm geschöpft und die Reformation sich auf ihn in ihren Hauptsätzen berufen; ja es ist kaum paradox, zu sagen, daß, wenn die Gegenwart sich anschickt, das Grundproblem der Religion wieder selbständig aufzunehmen, sie zur geschichtlichen Orientierung ganz besonders auf Augustin zurückgreifen muß, als auf den Punkt, wo das Ganze des Gewordenen sich noch mitten im Werden befindet und daher sein Recht wie sein Unrecht einer unbefangenen Prüfung kundgeben mag. Auch jenseits der Religion findet der moderne Mensch bei ihm vielfache Anknüpfung, sobald er über die oft fremdartige Einkleidung zum Kerne der Sache vordringt. Es gibt Fragen, wo Augustin mit seiner weltbewegenden Subjektivität uns näher steht als irgendwelcher moderne Denker.
Trotzdem möchten wir ihn nicht mit hervorragenden Gelehrten unserer Zeit schlechtweg einen modernen Menschen nennen. Gewiß hat Augustin viel Modernes, er hat es vor allem in jener glühenden, alle Tiefen aufwühlenden Subjektivität, in seiner die schroffsten Gegensätze umspannenden dämonischen Natur. Aber stempelt ihn das schon zum modernen Menschen? Ihm fehlt vieles, was zur modernen Art unentbehrlich dünkt. Er kennt keine deutliche Scheidung von Subjekt und Objekt, kein Verlangen nach einer Welt reiner Sachlichkeit, affektloser Wahrheit, gegenständlicher Arbeit, wie es die Neuzeit durchdringt; er hat noch das subjektive Erlebnis mit seinem unmittelbaren Befunde rasch ins Weltall hineingetragen und dort festgelegt. Auch gestattet die ausschließliche und direkte Richtung seines Denkens und Strebens auf die Religion kein Eingehen in die Weite und Breite der Wirklichkeit, keine Bildung eines universalen Menschen im Sinne der Neuzeit. Endlich wirkt in ihm das Altertum mit starken Zügen fort: von der klassischen Zeit her in der kosmischen Spekulation, der plastischen Gestaltung der Wirklichkeit, der Scheidung eines esoterischen und eines exoterischen Lebens, von der Ausgangszeit her in der Sehnsucht nach einem sturmfreien Hafen, einem sicheren Ruhen in der Ewigkeit, auch in der Überspannung des Gegensatzes von Sinnlichem und Geistigem. In anderem endlich – und das im Besten – folgt er allein seiner eigenen Art und erreicht er eine unvergleichliche Größe. So ist es wohl besser, ihn keiner besonderen Gruppe und Epoche einzureihen, sondern in ihm eine der wenigen Persönlichkeiten anzuerkennen, aus denen die Zeiten schöpfen, und an denen sie sich über ewige Aufgaben orientieren, die selbst aber über dem Wandel der Zeiten stehen.