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XIX.
Im Schildkrötenpanzer.

Wie ins Dämmer des halbwachen Traums gehüllt
  Zogen Blätter und Vögel fröhlich vorbei;
Ihre Seele fühlte von Glück erfüllt
  Sich im Sommerglanze des Lebens frei.

ANONYM.


Währenddessen befindet sich Ruth in ihrem eigenen Zimmer, wo sie in einiger Aufregung umher flattert. Sie hat sich vom Anblick von Barbaras enttäuschtem Gesicht entfernt und schämt sich ein wenig für ihre eigene Feigheit.

»Ich hätte wohl bleiben und versuchen sollen, sie bei Laune zu halten,« denkt sie, »aber das ist egal. ›Wer durch Flucht sich retten mag, kämpft doch weiter am nächsten Tag;‹« Im amerikanischen Original: » He who fights and runs away, lives to fight another day«, ein beliebtes Sprichwort. und mit diesem tröstlichen Gedanken öffnet sie ihre Schranktür und schaut nach ihrem Gefangenen, der lebhaft auf dem Boden auf und ab wandert.

»Oh ja, jetzt bist du richtig flott,« sagt sie. »Wird es auch so sein, wenn ich möchte, dass du ein wenig Leben zeigst?«

Während sie spricht, bringt das Geräusch von Jeans zugeschlagener Tür Ruth zu sich. Wie überrascht ist sie, als sie sieht, wie ein fröhlicher Reiterhut, den sie gut kennt, die Treppe hinunter verschwindet. In einem Augenblick folgt sie und trifft Jean am Hauseingang.

»›Wo willst du hin, du hübsche Maid‹, und warum strahlst du so? Hast du jemanden gefunden, der diesmal dein ganzes Vermögen akzeptieren wird?«

Jean errötet bis zu den Haarwurzeln, aber sie wendet ihr glückliches Gesicht ihrer Freundin zu:

»Ich gehe, um einen Doktor zu holen.«

»Wie viele brauchst du? Es ist schon einer da.«

»Aber ich hole den Doktor,« versetzt Jean heiter.

Ruths Blick wirkt ein wenig leer. Damit hat sie nicht gerechnet. Sie wünscht sich, dass die metaphorische Friedenspfeife ihrer protégés in ihrer unmittelbaren Gegenwart geraucht wird.

»Wird er es nicht ein bisschen seltsam finden?« traut sie sich zu sagen. »Warum schickst du nicht Jabe?«

»Weil,« sagt Jean feierlich, »es das Mindeste ist, das ich tun kann, selbst hinzugehen, Ruth. Dr. Dart hätte völlig Recht, nicht auf Geheiß eines Bediensteten zu kommen, nachdem das alles passiert ist. Er weiß, dass Barbara ihn nicht unbedingt braucht, und es geschieht mir recht, dass ich verpflichtet bin, zu ihm zu gehen und ihn um einen Gefallen zu bitten.«

»Oh!« ruft Ruth stark beeindruckt, »du … es scheint dir nicht viel auszumachen, Jean!«

»Ich habe keinerlei Recht, meine eigenen Gefühle in dieser Angelegenheit zu berücksichtigen,« erwidert Jean großartig.

Ruth steht in der Tür und beobachtet ihre Freundin, wie sie ihre Handschuhe zuknöpft, während sie auf ›Feuerflug‹ wartet. Ihre Augen sind rund vor Staunen, und doch weiß sie: es ist nur eine oft wiederholte Erfahrung, dass sie einen Ball ins Rollen bringt und Jean ihn auf ihre eigene willensstarke Weise mitreißt, oft in eine ganz andere Richtung als die von ihr selbst beabsichtigte.

Während sie nachdenklich dasteht, hört sie ein Geräusch, das für Jean, die draußen auf dem Hofplatz steht, glücklicherweise unhörbar ist. Das Geräusch ist ein leises, in Intervallen stoßendes Bum – Bum – Bum, wie ein Ball, der langsam auf den Stufen einer Treppe hinunterrollt. Ruths Gesicht verfärbt sich, sie dreht sich schnell um, rennt nach oben und trifft auf halbem Weg auf ihren Gefangenen, der gerade eine scharfe Kurve macht und nur knapp einem Sturz am Geländer entkommt.

»Du unbeherrschteste aller unbeherrschten Kreaturen, die ich je gesehen habe!« ruft sie schwer atmend aus. »Wie ich Mr. Barnum jetzt verstehe! Ein Tier mehr wäre mein Tod,« und damit stürzt sie sich auf die unglückliche Schildkröte und steckt sie in ihre Tasche.

Die Aktion gibt ihr eine Idee, eine verzweifelte Hoffnung, dass die Prüfungen, die sie mit ihrer Beute ertragen musste, doch noch zu etwas gut sind, – Prüfungen von dem Tag an – vor etwa einer Woche – als sie das Tier sah, wie es sich in vermeintlicher Sicherheit auf einem Felsen am Bachufer sonnte. Wie vorsichtig sie sich, wie der berühmte Truthahn, von hinten anschlich und es aus seiner Ruhestätte fortriss!

»Und nun bin ich entschlossen, dass du neben der Läuterung durch Leiden noch einen anderen Zweck erfüllen musst,« denkt Ruth, als sie die Treppe hinunterläuft.

Jabe hat ›Feuerflug‹ hergebracht, und Jean steigt auf. Ruth geht hinaus und stellt sich neben sie und ordnet den Rock des Reitgewands ihrer Freundin in anmutigen Falten an.

Jean beugt sich vor, dreht den Kopf weg und versucht, unter den Schatten eines der Wohnzimmerfenster zu blicken, um Barbara zum Abschied zuzunicken.

Dabei spürt sie einen plötzlichen Ruck auf ihrem Rock und schaut zurück.

»Jetzt muss du los,« sagt Ruth sehr rotgesichtig und glättet zupfend Jeans Gewand.

»Also auf Wiedersehen,« sagt Jean und berührt ›Feuerflug‹ mit der Peitsche.

Ruth schaut ihr nach, während sie die Straße hinunter reitet.

»Ich hab's geschafft,« denkt sie mit Genugtuung. »Ich hoffe nur, dass sie nicht nach ihrem Taschentuch sucht, bevor sie dort ankommt. Mr. ›2. Juli‹ ist von den Widrigkeiten so entmutigt, dass er sich lange Zeit nicht rühren wird, es sei denn, sie bringt ihn dazu. Nun, ich muss die Zukunft dem Schicksal überlassen. Ich habe bestimmt schon genug mit Jean und ihren albernen Streitereien durchgemacht. Wie froh wird Dr. Dart sein, sie zu sehen!«

Und dann lehnt Ruth sich an einen schlanken Pfeiler und lässt ihrer Phantasie freien Lauf, um eine Reihe von Szenen heraufzubeschwören, die zu Dr. Dart's mildem und anständigem Liebeswerben führen, das nach Ruths sanguinischster Vorstellung etwa zu der Zeit beginnen soll, wenn es Barbara wieder gut geht und die Gesellschaft in die Stadt zurückgekehrt ist, während im goldenen Dämmerlicht einer Vision das Brautjungfernkleid über allem schwebt. Ruth wartet auf dem Hofplatz gerade lange genug, um ihre Spitzen von pointe duchesse zu valenciennes neu zu arrangieren; dann geht sie ins Haus, um nachzuschauen, wie Barbara Dr. Fanning erträgt.

 

Inzwischen ist Jean weiter geritten. Die Temperatur ist etwas kühler geworden, aber sie merkt es nicht. Sie ist in einer zu seltsamen Stimmung, um Wärme und Kälte zu unterscheiden. Die schnelle Bewegung ihres Pferdes gefällt ihr. Es trägt sie in einem Tempo, das ihrer eigenen Begeisterung entspricht – ein seltsamer Rausch, als ob ein entzückendes, neues Vergnügen im Begriff wäre, sich ihrer zu bemächtigen. Alle angenehmen Dinge ihres Lebens scheinen ihr gegenwärtig zu sein, all das Unangenehme zu Kleinigkeiten zu verblassen. Sie geht zu Kenneth Dart ohne den Anschein, die Feindschaft weiter aufrecht zu erhalten. Sie wird ihren Frieden mit ihm machen. Zuerst wird er ernst und verletzt aussehen, aber sie wird wissen, was sie sagen soll. Er wird ihr verzeihen, und – und – und – oh ja; er wird mit ihr zu Barbara zurückkehren. Jean erkennt, dass sie Barbara beinahe vergessen hätte, und noch vor dem süßen, geduldigen Gesichtsausdruck ihrer Freundin, an den sie sich mit etwas reumütigen Skrupeln erinnert, werden sich ein starker Kopf und ein Gesicht erheben, mit tiefgrauen Augen, die sie auslachen, und einem Mund, der sie liebt. Jean kennt sein Aussehen so gut. Sie lächelt unbewusst, als sie mit ›Feuerflug‹ über die staubige Straße eilt. Der Reiterin kommt nicht der Gedanke, dass das Objekt ihrer Suche das Dorf verlassen haben könnte; und das Funkeln und Strahlen beglänzt noch immer ihre Augen und ihre Wangen, als sie ihr Pferd vor Tante Allens Tür zügelt, den sonnigen Gartenweg hinaufgeht und anklopft.

»Treten Sie ein, Miss Ivory,« sagt Tante Allen beim Öffnen der Tür und strahlt beim Anblick ihres Besuchs über ihr fettes Gesicht.

»Danke, ich darf heute nicht bleiben, um einen Besuch zu machen. Ich möchte bitte den Doktor sprechen.«

»Pah, jetzt?! Das wird ihm aber leid tun, dass er nicht da war,« beginnt Tante Allen.

»Er ist nicht da?« unterbricht Jean, im Ton höflicher Ungläubigkeit. »Dann werde ich auf ihn warten.«

»Ich würd' mich geehrt fühl'n, wenn Sie 'rein kommen würden, Miss Ivory; aber, um ehrlich zu sein, ich glaub' nicht, dass er zurückkommt. Ich hab' gesehn, wie er mit einer Art Bündel in der Hand 'rausging, und da wurde mir klar, dass er in die Stadt fahr'n wollte. Das is' so seine Art, einfach abzuhauen, ohne es mir zu sagen. Wie blass und müde Sie aussehen! Geht's Miss Waite sehr schlecht? Sie könnten bei Dr. Fanning vorbei schau'n, bevor Sie nach Hause gehn.«

»Nein, Miss Waite ist nicht besonders krank. Die Hitze war so groß heute, und ich bin schnell geritten. Ich hätte gern ein Glas Wasser, wenn ich darf,« antwortet Jean mit einem gezwungenen Lächeln.

Es hat keinen Sinn, sich mit den Erinnerungen daran zu trösten, dass Boston ganz in der Nähe ist, dass ein oder zwei Tage keinen Unterschied machen können. In ihrem überreizten Zustand wäre es kaum schlimmer gewesen zu hören, dass Dr. Dart nach Europa gesegelt wäre.

Sie trinkt das Wasser und geht den Pfad wieder hinunter. Das Gesicht der Natur hat sich für sie verändert. Sie fand den Garten heiter und köstlich, als sie ihn vor wenigen Minuten durchquerte; jetzt tun ihr die Sonnenblumen in den Augen weh. Sie hat keine Geduld mit dem Summen der Bienen in den dicknervigen Stockrosen, und die Ringelblumen sehen aus wie aus gelbem Papier geschnitten.

»Wir sind der Zeit hinterher gehinkt, ›Feuerflug‹,« sagt sie und bindet das Pferd los; dann steigt sie auf und reitet davon. Sie kennt die Straßen in Pineland gut und verlässt die staubige Durchgangsstraße so schnell wie möglich, um einen grünen, schattigen Weg zu finden.

»Er ist länger, aber dir ist heiß, und du bist müde, armer alter Kerl, und es ist jetzt noch viel Zeit,« murmelt sie schließlich mit richtigem Zittern in den Lippen.

»Das ist alles sehr lächerlich, diese tiefe Enttäuschung,« sagt sie sich selbst; aber das Bewusstsein für die Lächerlichkeit ihrer Situation scheint nicht viel zu helfen.

Die sommerliche Stille im Wald macht einsam statt zu trösten. Jean wünscht sich, die Vögel würden nicht gerade Urlaub machen. Der Gesang einer Amsel oder einer Spottdrossel wäre die beste Begleitung und würde ihr helfen, die Wunde zu heilen, die ihr Stolz ihr zugezogen hat.

»Denn natürlich fühle ich mich nur wegen meines Stolzes so angeschlagen,« denkt sie. »Vielleicht geht es mir besser, wenn ich mich nicht mehr um Mr. Kenneth Darts Sorgen kümmere, egal ob Armut oder Empfindsamkeit sie verursachen.«

Ob dieser halb ausgesprochene Sarkasmus Mr. »2. Juli« nun besonders anspricht oder nicht, sicher ist, dass Ruths Gesandter in diesem Moment Mut fasst, sich selbst zu rühren; und Jean bemerkt plötzlich ein heftiges, geheimnisvolles und ganz und gar erschreckendes Kratzen und Zupfens irgendwo unter ihrem Gewand.

Schnell überkommen sie unangenehme Visionen von Eidechsen, Vogelspinnen und anderen Waldbewohnern, doch ein Krachen im nahen Gebüsch kündigt Hilfe an.

»Oh, Jabe, du bist's. (Ho, ›Feuerflug‹.) Es da ist irgend 'was auf mir! Das macht mir furchtbare Angst!« ruft sie und zieht sich zusammen, während sie auf eine Stelle ihres Gewandes hinunterschaut, die sich unerklärlich hebt und senkt.

Jabe läuft an ihre Seite – sein Grinsen ist vorübergehend verschwunden.

»Ich fühle mich ganz schwach. Ich traue mich nicht nachzusehen, was es ist!« sagt Jean und wird immer blasser.

Der Junge berührt die erregte Stelle.

»Ach, das is' doch Ihre Tasche, oder?« fragt er und taucht kurzerhand seine Hand hinein und zieht den schwarz-goldenen Abgesandten heraus, der jetzt ganz ruhig ist.

»Na, ich hätt's nicht geglaubt, wenn ich's nicht gesehn hätt',« versichert Jabe. »Wie zum Kuckuck konnt' 'ne Schildkröte in Ihre Tasche klettern? Is' auch noch was zu lesen d'rauf,« fährt er fort und schielt aus der Nähe auf den Panzer.

Jean durchschaut das Rätsel sofort. Sie erinnert sich an Ruths zarte Aufmerksamkeiten am Anfang und den Ruck an ihrem Gewand, als sie losritt. Ihre Wangen röten sich vor Schreck, und ihre Augen tanzen.

»Es ist seltsam, Jabe. Es muss eine verwandelte Fee sein.«

Jabe lässt die Beute fallen, als ob sie plötzlich glühend heiß geworden wäre.

»Heb sie auf, du böser Junge,« befiehlt Jean mit leicht erregtem Lachen. »Ich hoffe, du hast ihr nicht weh getan.«

Jabe gehorcht und hält die Schale mit zarten Berührung.

»'ch hab' gehört, dass dieser Wald voll von Feen is',« sagt er ziemlich beklommen.

»Natürlich,« erwidert Jean mit majestätischer Gebärde, »ich bin selbst eine.«

Jabe schaut auf und grinst über den Scherz. Es ist eine wunderbare Herablassung von Miss Ivory, so viele Worte mit ihm zu wechseln.

»Is' das so?« kichert er. »'ch werd' Dr. Dart sag'n, dass ich im Wald 'ner Fee begegnet bin. Er is' hier g'rad' irgendwo beim Angeln.«

Dann ist er nicht außer Reichweite! Jeans Herz hüpft vor Glück.

»Ja, ich kann dir sagen, was auf dem Panzer dieser Schildkröte eingeritzt steht, ohne dass du es dir ansehen musst,« fährt sie fort.

»In Ordnung! Nur zu,« erwidert der Junge interessiert.

»›2. Juli‹«, sagt das Mädchen leise.

»So weit, so gut,« erwidert Jabe. »Was noch?«

»Was noch? Sonst nichts,« schreit Jean hastig.

»Oh, was für 'ne Einhorn-Fee sind Sie bloß?« lacht Jabe und führt spöttisch einen Synkopentanzschritt aus.

»Ach, sag mir schnell, was steht da noch?«

Jabe wendet seinen Kopf auf die entsprechende Seite.

»›Ihr … treu … Er–ge–be–ner‹«, liest er mühsam.

Jeans große braune Augen betrachten den unschuldigen Panzer in einer Art Schrecken, damit nicht weitere verräterische Inschriften über sie hereinbrechen. Doch sofort wird ihr klar, dass auch dies Ruths Werk ist. Die Heiterkeit entschwindet aus ihrem Gesicht.

»Das ist eine böse, höhnische Fee, wenn es überhaupt eine ist,« sagt sie, halb zu dem Jungen sprechend.

»Ach, das muss Ihn' nich' weh tun,« entgegnet er tröstend; »die Art beißt nich'. Der ganz alte ›Kratzer‹, der schnappt zu, aber die gesprenkelte hier is' so unschuldig wie'n Hühnchen.«

»Oh, ich habe keine Angst, Jabe,« antwortet Jean mit halben Lächeln, »aber ›Ihr treu Ergebener‹ stimmt jetzt nicht mehr, und – ich wünschte, es wäre so – das ist das Problem,« und das brennende Gesicht versinkt in ihren Händen.

»Nee, tun Se das nich', Miss Avery,« versetzt Jabe sehr beunruhigt, als er plötzlich irgend etwas jenseits der gebeugten Gestalt erblickt; »es gehört Ihn'n, wenn Sie's woll'n. Ich schätze, hier 'rum gibt's nichts, was Se sonst ha'm könn', wenn …«

Jean hat die Gestalt nicht gesehen, die plötzlich von hinten heran gekommen ist und mit einer befehlenden Handbewegung Jabe fort rennen und zum Fluss springen ließ.

Kenneth Dart nähert sich, halb im Zweifel, jedoch voller Erwartung.

»Schauen Sie mich an,« fleht er. »Wünschen Sie – wünschst du es dir wirklich? Ist es möglich, dass du mich nicht hasst – dass du – mich liebst, Jean?«

Denn langsam sind die weißen Hände herabgekommen, und die tiefen, weichen Augen, die seinem glühenden Blick begegnen, halten für Kenneth Dart eine wundersame Offenbarung bereit.

Jeans ganze bewundernswerte Gestalt drängt sich ihrem Geliebten entgegen.

»Verzeih mir,« murmelt sie mit der Hand in seiner und einem schwachen Lächeln auf den Lippen. »Ich bin mit der Absicht gekommen, dich darum zu bitten.«

»Und um mich für immer glücklich zu machen!«

»Und um dich für immer glücklich zu machen,« so das Echo der freigiebigen Jean.

 

Am späten Nachmittag steht Ruth am Wohnzimmerfenster und trommelt auf die Scheibe.

»Hier kommt dein Doktor, Barbara,« bemerkt sie kühl, während Jean langsam die Straße hinauf reitet, mit Kenneth Dart an ihrer Seite.

»Ich bin so froh, ihn zu sehen,« sagt Barbara. »Jean ist die liebste Freundin, die es gibt.«

Mrs. Erwin eilt zum Fenster und schaut hinaus.

»Was für eine absurde Art, aus der Stadt zu kommen – zu Fuß neben diesem Pferd zu wandern,« sagt sie.

»Vielleicht ist es Jean, und nicht ›Feuerflug‹, neben der Dr. Dart geht,« schlägt Ruth vor.

»Nun, das ist seltsam,« sagt die Witwe, die sich langsam verfärbt, als ihr ein Verdacht in den Sinn kommt – ein Verdacht, der sich bestätigt, als einige Minuten später ihre Hand von der ›ihres lieben Freundes‹ ergriffen wird, mit einem Druck, der sie aufschreien lässt.

»Inez!« sagt er nur, während er ihre Hand drückt, ohne von den seelischen und körperlichen Qualen, die er ihr zufügt, zu wissen.

»Ich freue mich auf jeden Fall seh' für dich, Kenneth,« sagt die Witwe zitternd, und die Zeit wird kommen, wo sie es tatsächlich tut.

 

In einer ruhigen Ecke des Hinterstübchens stehen Jean und Ruth allein beieinander.

»Ich kann es kaum glauben, nicht einmal von dir, Jean,« sagt Ruth. »Ach, woran denkst du gerade?«

»Gerade in dieser Minute? – An Barbara und Nettie. Von diesem Moment an ist B. Netties Gouvernante! Begreifst du, was das für eine schöne Lösung ist?« fragt Jean warmherzig; sie ist froh, das Gespräch von sich abzulenken. »Ein Internat ist kein Ort für Nettie, und was kann aus ihr unter Mausies Einfluss nicht alles werden?«

»Ja, ich verstehe,« sagt Ruth, »und von nun an wird es wenig Arbeit und viel Geld für Barbara geben. Das ist alles schön und gut, aber, Jean, was hat das zu bedeuten – du hals-über-kopfige Maid – dass du auf solche Extreme verfällst?«

Jeans Augen glänzen. »Ruth, Emerson sagt: ›Mit Beständigkeit hat eine große Seele schlechterdings nichts zu tun‹«. Beliebtes Zitat aus dem Essay » Self-Reliance« (1841) von Ralph Waldo Emerson.

Ruth sinkt auf einen Stuhl und schaut zu ihrer Freundin auf.

»Wenn die Meinung von jemand anderem als Herrn Emerson noch von Bedeutung ist, darf ich dann fragen, was deiner Einschätzung nach deine Mutter dazu sagen wird?« fragt sie resigniert.

»Sie wird sagen, dass es mit meinem sonstigen impulsiven Verhalten zusammenhängt,« antwortet Jean.

»Und,« fügt Ruth hinzu, »dass sie hofft, dass Dr. Dart besser auf dein Geld aufpassen wird, als du es bisher tatest. Was wird dein Vater sagen?«

»Dass er immer gewusst hat, dass man mir vertrauen kann,« antwortet Jean stolz und blickt hinüber zu Kenneth, der sich tapfer bemüht, seine Gedanken auf Barbaras Knöchel zu lenken.

»Ich glaube, er wird genau das sagen,« bemerkt Ruth abwesend; denn die Kompassnadel weist nicht genauer auf den Nordpol, als ihre Gedanken auf die herzförmige Taille jenes blau getönten Kleides gerichtet sind. Dann verpasst sie ihrer Freundin unerwartet eine Umarmung:

»Lieber alte Jean! Bist du nicht etwas sehr leicht in die Falle getappt, die wir dir gestellt haben?« fragt sie.

»Du doppelzüngiges Mädel!« ruft Jean aus und lacht in Ruths blitzende Augen zurück. »Ich habe davon gehört und endlich alle eure Intrigen durchschaut.«

»Oh, ich habe jetzt einen Beruf,« sagt Ruth mit ernstem Nicken, »ich habe meine Nische im Leben gefunden. Ich werde mir verzweifelte Liebende vornehmen und ihnen aus ihren Schwierigkeiten heraus helfen; wenn dann die wahre Liebe rund läuft und das Geschäft langweilig wird, kann ich in einer Tierschau assistieren. Und nun, Jean, in Anbetracht all dessen, was ich für dich getan habe …«

»Für mich getan! Mich fast zu Tode erschreckt mit dieser armen Schildkröte!«

»Arme Schildkröte?« Ruth rollt vielsagend die Augen. »Wenn du überflüssiges Mitgefühl hast, kannst du es für mich ausgeben. Hast du jemals mit dieser buchstäblichen Amphibie das Zimmer geteilt?«

»Nein, sondern ich habe es beherbergt,« versetzt Jean lachend.

Ruth schiebt sie weg.

»Bilde dir nicht ein, dass deine Leiden irgendwie mit dem zu vergleichen sind, was ich ertragen habe. Ich verstehe den Charakter dieser Kreatur, und sie hat überhaupt keinen, auch kein geistiges Gleichgewicht und keinerlei Selbstbeherrschung, aber das macht nichts, ich werde dich nicht mit all dem veralbern, was du mir schuldest, denn ich nehme meinen Lohn als erste Brautjungfer, und Barbara, Mabel und Polly können ›antreten‹, wie man bei der Kavallerie sagt. Nicht wahr, Mädels?« fragt sie, als sich Mabel und Polly nähern. »Apropos Kavallerie, was nützt es dir, dass du diesen Winter ›'rauskommst‹, Jean, wenn du so schnell wieder ›'rein‹ Siehe Anm. 19. – Die Heirat bedeutet traditionell das » settling« und damit die Bindung an das Haus (» go in«), was aber von der modernen junge Dame zugunsten einer offeneren Lösung verweigert wird, wie deren Antwort zeigt. musst?« schließt Ruth mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Ich habe nicht die Absicht, ›d'rin‹ zu bleiben,« antwortet Jean. »Ich werde Partys für euch Modeschmetterlinge geben und euch zu denen anderer Leute begleiten.«

»Oh, Jean! Das wird schön werden,« sagt Polly, während Mabel, die Miss Bounce auf dem Weg nach oben entdeckt, ihr entgegen eilt.

Miss Hopeful ist gerade von der Beerdigung ihres unglücklichen Schwagers zurückgekehrt, und alle Vorzüge Miss Ivorys sind in ihrem Gedächtnis gegenwärtig, als Mabel mit der Nachricht auf sie zustürmt.

»Für – immer!« ruft sie aus und hält beide Hände hoch; dann folgt sie Mabel in stillem Erstaunen in den Salon.

»Miss Avery,« sagt sie, nähert sich mit der ganzen Würde ihrer Chip-Haube und nimmt Jeans Hand, während das schöne Mädchen freundlich auf sie hinunter schaut, »'s wär' mir 'n bisschen lieber gewes'n, dass Se kein'n Mann heirat'n würd'n, denn es könnt' sich als riskant erweis'n; aber Sie ha'm den einz'jen gekriegt, auf den man sich 'n bisschen verlassen könnt'. – Das Spinnrad is' von diesem Moment an Ihres.« Als sie dann hinüberschaut und das selige Gesicht über Barbaras Bandagen gebeugt sieht, nickt sie in wachsendem Zutrauen mit dem Kopf: »Ich bin sicher – sicherer als jemals, dass man nicht oft solche wie ihn macht … Ich glaub', Miss Avery, Liebes, ich würd' – ich würd' Ihn'n gern gratulier'n!«

»Genau!« schreit Ruth mit schwimmenden Augen, »das hatte ich vergessen. Jean, Liebste, ich gratuliere dir!«

 

ENDE.

 


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