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XVII.
Spannung.

Dich selbst hast du beleidigt, da du schriebst
In solchem Fall.

JULIUS CÆSAR. Shakespeare, Julius Cæsar, IV, 3. Übersetzung: Shakespeare's dramatische Werk, übersetzt und erläutert von Johann Wilhelm Otto Benda. Neunter Band. Leipzig 1825. S. 93.


Jabe galoppiert, den Brief, der ihm mit so vielem Entgelt gegeben worden ist, fest in seiner Hand, fröhlich die Straße entlang und genießt durchaus die ungewöhnliche Erregung, ein feurigeres Ross als Dolly zu reiten.

Er blinzelt und schüttelt wissend dabei seinen Kopf.

»Die Sache kommt allmählich in Schwung zwischen dem Dokter und Miss Avery,« denkt er; »er hat se 'ne halbe Stunde besucht, und dann ha'm se auch noch Briefe gewechselt, alles an ei'm Nachmittag; da geht's los, was, ›Feuerflug‹?« fragt er laut und tätschelt dem Pferd den Nacken.

»Verflixt, und was, wenn se nu alle auf den jungen Kerl fliegen? Ich glaub' fast, dass sie am Ende auch noch auf ihn fliegt,« und das soeben heraufbeschworene Bild von Miss Bounce, wie sie auf einen jungen Mann »fliegt«, veranlasst bei Jabe einen Kicheranfall, der bis zu Tante Allen Haus anhält, wo er absteigt.

»Hallo Jabe, stimmt irgendwas nich' mit Mandy?« will Tante Allen wissen, die beunruhigt herauskommt, um ihn zu begrüßen.

»Nein; Mandy geht's gut,« versetzt der Junge, umfasst den kostbaren Brief fester als je und blinzelt und nickt so bedeutungsvoll, dass Tante Allen ihn staunend anschaut.

»Was is' dann los? Was willst du?«

»Ich will zum Dokter; 'ch hab' 'was für ihn.«

»Ich werd's nehm'n.«

Die Tante streckt eine fette Hand aus nach dem Brief, den sie gerade erspäht hat.

»Nee, das tus' de jetz' besser nich',« bemerkt Jabe grinsend. »Ich muss es ihm in seine Händ ge'm. Wo is 'r?«

»O'm. Lass es mich anschauen, Jabe, dann darfs' de 'rauf.«

Darauf hält der Junge den zerknautschten Umschlag fest an den oberen Ecken.

»Es is' von ihr, Miss Avery,« sagt er mit heiserem Verschwörerton.

»Dann kommt er von einem Engel,« erklärt Tante Allen, fummelt in drei Taschen nach ihrer Brille und zieht sie endlich vom Oberkopf auf die Nase, »'n Engel, Jabe. Weißt du, was sie alles für Alice Allen in Pineland Zentrum getan hat? Drei ihrer Kinder gehn jetz' jeden Tag zur Schule und sehn dabei so nett aus wie sonstwer. Die meisten hatt'n gedacht, es hätt' nich' viel Sinn, so viel Geld auszuleg'n, damit se neue Sach'n krieg'n, denn Allen würd' se doch nur wieder verkauf'n für Rum; hat er aber bis jetz' nich' gemacht: is' ziemlich schlecht d'rauf dieser Tage. Vielleich',« fährt Tante Allen mit geheimnisvollem Nicken fort, »vielleich' ha'm w'r Glück und er kommt Alice endlich aus'm Weg. Du sollt'st Alice red'n hör'n, wenn de Miss Ivory richtig einschätz'n willst, und ich glaub', wenn Hopeful Bounce herkommt und das alles mitkriegt, wird se sich nur noch wie'n kleiner Fisch vorkomm'n.«

»V'leich' sollt' ich's ihr erzähl'n,« schlägt Jabe vor.

»Das läss' de besser blei'm. Überlass alles Miss Ivory und der Frau, die sie beglückt hat. 's wird alles zur rechten Zeit 'raus komm'n. Geh hoch, Mr. Dart is' im Vorderzimmer, 's is' seins.«

Und so stiefelt Jabe, seinen Hut in der einen Hand, den Brief in der anderen, trampelnd die Treppe hinauf. Ein lautes »Herein!« beantwortet sein Klopfen an der Tür; er gehorcht und sieht das Ziel seiner Suche in Hemdsärmeln vor einem offenen Fenster sitzen, sein Stuhl ist nach hinten gekippt, seine Füße liegen gekreuzt auf dem Fensterbrett und der Rauch seiner Zigarre kräuselt sich hinaus in die freie Luft.

»Ich dachte mir schon, dass ich deinen zarten Elfentritt gehört hätte, Jabe,« bemerkt der Gentleman, ohne seinen Kopf zu wenden; »komm 'rein und setz dich.«

»'ch hab' 'n Brief für Sie,« sagt Jabe, tritt näher und legt die angeschmutzte und zerknüllte Botschaft in die Hand des Gentlemans.

»Ist vom Herbringen nicht gerade schöner geworden,« erwidert Dr. Dart lächelnd, wobei er seine Zigarre zwischen zwei Fingern hält und den Umschlag herumdreht.

»Ich hab' 'n ziem'ch festgehalt'n; sie hat gesagt, wenn ich 'n verlier', komm ich in'n Knast,« sagt Jabe grinsend.

»Wer hat das gesagt?«

»Miss Ex'ter; aber der Brief is' nich' von ihr, er is' von Miss Avery, hat se gesagt.«

Dr. Dart nimmt seine Füße herunter und schmeißt seine Zigarre aus dem Fenster. Jabe fühlt intuitiv, dass er ihn nicht beobachten sollte, und, zwischen den Ansprüchen von Neugier, Interesse und Zartgefühl hin- und hergerissen, geben ihm seine rollenden Augen und der offene Mund ein dümmlicheres Gesicht als gewöhnlich.

»Es ist jedenfalls nicht viel Zeit verloren worden,« murmelt der Gentleman nach einem Schweigen, während er den Brief in seiner Hand wiegt.

»Nee, Miss Avery is' 'ne wirklich prompte Brieffreundin, find' ich,« entgegnet Jabe im Konversationston.

»O, du wartest, nicht wahr?«

»Ja; gibt's keine Antwort?«

»Hoffentlich, Jabe, aber ich bezweifele, dass du sie überbringen kannst.« Das Lächeln ist aus Dr. Darts Gesicht verschwunden, und er sitzt da in stiller Betrachung des versiegelten Briefes.

»Wieso? Ich werd' vorsichtig sein,« sagt Jabe mit sinkenden Gesichtszügen. »Ich werd' ihn nich' so schmutzig mach'n wie den da,« sagt er, auf den Brief zeigend.

»Darum geht's nicht. Niemand kann für mich die Antwort hierauf überbringen. Das muss ich selbst tun. Also,« seufzt er, »nun dazu;« und öffnet den Umschlag, nimmt mit großer Gelassenheit die Banknoten heraus und legt sie vor Jabes erstaunte Augen auf den Tisch.

»Miss Avery hat Miss Waites Arztrechnung bezahlt,« beschließt er. »Oho! Da möcht' ich auch 'n Dokter sein!«. Aber das Erstaunen des Jungen wird noch größer. Die Art, wie seine Fischer-Bekanntschaft diesen Liebesbrief aufnimmt, ist, gelinde gesagt, originell.

Kenneth Dart macht sich mit einer Serie vergnüglicher Ausbrüche Luft, als er die wenigen Zeilen langsam und sorgfältig liest, und als er fertig ist, lehnt er sich in seinem Stuhl zurück mit einem Ha-ha-ha, das durch das kleine Haus vom Speicher bis in den Keller erklingt, und es bedarf Jabes mitfühlenden Grinsens und seiner verblüfften Augen, um dieses Lachen wieder unter Kontrolle zu bringen.

Er hat sehr befürchtet, dass Jean sein Recht, mit ihr wegen des früheren Vorfalls seinen Scherz zu treiben, leidlich ruhig und kühl zurückweisen würde. Dass sie seine Mühe jedoch in gutem Glauben aufnehmen würde, erscheint ein überaus großes Glück.

»Jabe, du hast mir etwas gebracht, das einen dieser Scheine wert ist. Nimm dir einen!«

»Aber doch nich' zehn Dollar – für mich?« japst Jabe.

»Ja, zehn Dollar für dich. Nimm ihn. Es gibt keine Antwort. Du kannst gehen.«

Dann stützt der junge Doktor seine Ellbogen auf den Tisch, den Brief vor sich, und erneut schütteln sich vor Lachen seine Schultern über dessen Inhalt.

Jabe verlässt langsam das Zimmer, wie aus einem Glückslabyrinth heraus taumelnd; und als er zu Hause angekommen ist, versichert er Ruth heimlich und mit feierlichem Blick, dass Dr. Dart, als er ihn verlassen habe, sich immer noch »kaputtgelacht hat; und dann, denken Se, Miss Ex'ter, zehn Dollar hat 'r mir gege'm, für nix – für gar nix, verstehn Se!«

»Also, wenn dir schon zehn Dollar schuldig war, dann schuldet er mir zwanzig,« antwortet Ruth mit herzlichem Lachen.

 

Als am nächsten Tag die Stunde für die Arztvisite näher rückt, entdeckt Jean Ivory zum ersten Mal in ihrem Leben, dass sie nervös ist.

»Wird er kommen,« fragt sie sich, »oder werden Demütigung und Wuth ihn für immer fern halten?«

Während sie sich mit Barbaras Toilette befasst und alles wie gewöhnlich für den sachkundigen Besuch herrichtet, fühlt sie sich wie eine Erzheuchlerin.

»Nichts hat je so wundervoll gewirkt wie diese Medizin,« bemerkt Barbara und greift zu einem Fläschchen auf dem Tisch. »Ich nehme an, es handelt sich dabei um eine Art Stärkungsmittel, das nur zeitweise gut tun kann.«

»Was am Ende ein Nachteil wäre,« wirft Jean salbungsvoll ein.

»Nein, das glaube ich nicht. Ich habe Vertrauen zu Dr. Dart, und Vertrauen hilft bei der Selbstüberwindung. Weißt du das nicht?«

Jean, die Barbaras Haar zu einem festen, glänzenden Zopf flechtet, stimmt zu.

»Oh, er war mir ein solcher Trost, Jean. Durch seine Hilfe bei der Verstauchung meines Knöchels hat er mir mehr Interesse zugewandt, als ein Fremder je gezeigt hätte. Ich habe manchmal so gute Gespräche mit ihm geführt, wenn du nicht im Raum warst, und er hat mir klar gemacht, dass, während ich glaubte, dass es mir sehr gut gehe und ich fröhlich sei, es mir in Wirklichkeit sehr schlecht ging und ich niedergedrückt war. Er hat mir so viel Mut gemacht.«

Barbaras ernster Tonfall berührt Jeans Ohr geradezu schmerzhaft. Sie ist sich so sicher, dass Dr. Dart heute einen Ersatz schicken wird und dass Barbara ihn zum letzten Mal gesehen hat.

Arme Jean! Sie hat ihre Freundin aufrichtig und zärtlich geliebt, und jetzt, in einer Art Panik, erkennt sie, was sie getan hat.

»Es war alles nichts als Egoismus«, sagt sie sich selbst. »Ich dachte, ich spreche für Barbara, als ich diesen gehässigen kleinen Brief schrieb, aber es war alles nur meinetwegen.«

»O, zieh doch nicht so, Jean!« ruft Barbara aus.

»Entschuldige, ich habe nachgedacht.«

Als Mrs. Erwin und Nettie hereinkommen, um mit Barbara zu sprechen, hat Jean Gelegenheit, weiter nachzudenken, und ihre Gedanken sind höchst unbehaglich.

In den vergangenen Tagen hatte sie einen kleinen Plan im Kopf, der sowohl Barbara als auch Nettie zugute kommen sollte und bei dem sie die Mitarbeit von Dr. Dart benötigte. Es ist fraglich, wie schnell sie sich dazu hätte durchringen können, ihn um etwas zu bitten, wenn alles in seinem natürlichen Lauf weitergegangen wäre. Nun steht es außerhalb ihrer Macht, hierbei noch um Gefälligkeiten zu bitten.

Sie setzt sich hin und ist ganz von Reue überwältigt, als sie Barbaras bleiches, lächelndes Gesicht anschaut.

Die Witwe ist Barbara gegenüber sehr liebenswürdig geworden.

Sie hat bald herausgefunden, dass es bereits in den Gesetzen der Meder und Perser festgeschrieben war, dass ihr ›seh' lieber Freund‹ der hingebungsvolle Arzt des Mädchens sein sollte, und sie ist Frau von Welt genug, um die Situation würdevoll zu akzeptieren und keinen Einspruch zu erheben, außer wenn, wie vorgestern, eine besondere Gunst von dem jungen Mann verlangt wird, was ihren Zorn ausbrechen lässt, denn sie betrachtet ihn als ihr Privateigentum. Die strenge Wachsamkeit, die sie gestern getreu ihrem Entschluss auf Ruth Exeter richtete, hat kein klärendes Licht auf die kabbalistischen Worte geworfen, die sie zwischen dieser jungen Dame und dem Arzt gehört hatte; und schließlich tröstet sich die kleine Witwe mit dem Gedanken, dass Dr. Dart dieser einen nicht mehr Aufmerksamkeit schenkt als irgend einer anderen von dieser hübschen, frischen jungen Hausgemeinschaft, während sein Benehmen ihr selbst gegenüber unverändert blieb.

»Ja, gib mir ein rosafarbenes Band, Jean,« stimmt Barbara zu. »Lass mich so gut wie möglich ausschauen, um dem Arzt Mut zu machen. Außerdem sollten wir feiern, denn ich werde ein wenig humpeln, wenn er kommt,« schließt sie zufrieden.

Jean erhebt sich langsam. »Ich denke, zwei Jahre Zuchthaus wäre für mich in etwa das Richtige,« beschließt sie im Geiste, während sie das Band holen will, das an den verschnupften alten Arzt, der ihr einmal gezeigt wurde, bestimmt verschwendet ist.

»Sie sind müde, Miss Ivory, lassen Sie es mich für Sie holen. Ist es oben?« fragt Nettie eifrig.

»Ja, Liebes, in meiner Farbbandbox. Du weißt schon wo,« antwortet Jean sanft.

Nettie fliegt die Treppe hinauf, zwei Stufen auf einmal, ›wie ein schrecklicher Wildfang‹, wie Mrs. Erwin sich ausdrücken würde.

»Sie hat ›Liebes‹ gesagt, sie hat ›Liebes‹ gesagt,« wiederholt sie freudig erregt. »Das muss ich Kenneth erzählen.«

Tatsächlich hat sich Nettie in den vergangenen Tagen einer ungewöhnlichen Gunstbezeigung seitens Miss Ivorys erfreut. Da Jeans Selbstvertrauen durch die ständig wiederkehrenden Wortgefechte zwischen ihr und dem Arzt erschüttert worden ist, hat ihre Demut zugenommen, und sie erkennt in dem unartigen jungen Mädchen einen Hauch verwandter Natur.

Als das Band zur Zufriedenheit aller angebracht ist, verlässt Jean Mrs. Erwin, um Barbara zu sagen, dass es sehr gut zu ihrem Gesicht passe, dass es zu den Pflichten einer Frau gehöre, solche Dinge zu beachten usw. und geht auf den Hofplatz hinaus, um möglichst ihr Unbehagen zu los zu werden. Ruth ist da, Ruth und Mabel und Polly, denn der altmodische Hofplatz ist zu dieser Tageszeit sehr angenehm und kühl.

»Ruth, komm mal kurz her,« befiehlt Jean entschieden.

Ruth gehorcht, und die beiden wandeln Arm in Arm.

»Ruth, du – du hast mich gestern verführt, das weißt du doch,« sagt Jean abrupt.

»Gestern?« wiederholt Ruth, runzelt die Stirn und scheint ihr Gedächtnis zu strapazieren.

»Ja, ich glaube nicht, dass ich es ohne Dich getan hätte.«

»Jean, meine Liebe, ich fürchte, du hast dir etwas von Barbaras Eierflipp gegönnt. Deine Augen sehen wild aus, und deine Brauen …« hierbei legt Ruth ihre Hand auf Jeans Stirn. Jean schiebt sie fort.

»Ja, es ist heiß,« fährt Ruth fort. »Ich werde Dr. Dart fragen müssen …«

»O, Ruth, du wirst keine Chance haben; er wird nicht kommen, nach meinem beleidigenden Brief. Ich habe darüber nachgedacht. Der, den er mir schrieb, war selbst im Vergleich dazu von edler Freundlichkeit und Zartheit.«

»Ist es das, worauf du dich bezogen hast? Und du denkst, ich hätte dich dazu gebracht, das zu schreiben, obwohl ich ihn nur gelobt und vor dir die ganze Zeit entschuldigt habe? Alle konnten über ihn nur Lobendes sagen – außer dir. Ja,« sagt sie nachdenklich, »dein Brief muss ihm ziemlich grob vorgekommen sein.«

Jean beißt sich auf die Lippe, ihre Augen werden feucht, und es tritt eine Minute des Schweigens ein. Dann spricht sie, und ihre Stimme zittert ein wenig.

»Ich habe mich so sehr bemüht, Barbara zu helfen, und es ging ihr so gut, als er auf der Bildfläche erschien und alles verdarb; und doch ist er für sie doppelt so viel wert wie ich, sie setzt ihr Vertrauen ganz auf ihn, und ich, der alles für sie tun würde, habe sie seiner beraubt.«

»O, vielleicht nicht,« schlägt Ruth mit schwachem Trost vor.

Jean lässt ihren Arm sinken und wendet sich ungeduldig ab. »Ich weiß aber,« sagt sie hartnäckig, »wenn du mir eine Minute Bedenkzeit gegeben hättest, dann hätte ich diesen Brief nicht abgeschickt;« dann geht sie zurück ins Haus.

Ruth schaut ihr nach.

»Du hast völlig Recht, du schöne Kreatur, und wenn das nicht gut für dich ausgeht, nachdem ich dich wegen B. und mich selbst mit einer privaten und undisziplinierten Menagerie so unglücklich gemacht habe, dann reicht's mir einfach,« denkt sie; »aber wenn Dr. Dart tut, was ich vorgeschlagen habe, wird Jean genau in der richtigen Verfassung sein, ›um all das Unrecht, das ihr begegnet ist, zu vergeben und zu vergessen‹, und dann, wenn er ihr sanft und anständig seine Liebe zuwenden will, – ach, dann bin ich ganz versöhnt;« und Ruths Augen werden wieder träumerisch, und erneut beginnt in ihrem Kopf der Streit, ob die Taille dieses hinreißenden, blau getönten Kleides hoch oder herzförmig sein soll.

 

Jean bewegt sich müde durch den Flur, als Miss Bounce auf sie zu stürzt, sie mit beiden Händen in den leeren Speisesaal zieht und die Tür schließt.

Sie setzt sich hin, und Miss Bounce nimmt ihr gegenüber einen Stuhl. Ein offener Brief liegt auf dem Tisch.

Eine Minute lang kann die kantige und meist ungerührte Frau nicht sprechen, während Tränen über ihre faltigen Wangen laufen und ihre Lippen und ihr Kinn zucken und zittern.

»Zuerst war ich sauer auf Sie, könn' Se mir glauben, Miss Avery,« ist ihre erste Bemerkung, als sie zu sprechen vermag, »und das zeigt, was für 'ne verhärtete, bockige Sünderin ich gewesen bin.«

Da dies für Jean unverständlich bleibt, sitzt sie da und wartet geduldig; ihre weiten, glänzenden Augen sind direkt auf das Gesicht von Miss Bounce gerichtet. Inmitten dieses Schweigens tickt laut die Uhr. Die alte Dame hebt den Brief mit zitternden Händen auf, zögert einen Moment und beißt sich auf die Lippen; dann brechen die Schleusen.

»Oh, Sie war'n gut zu ihr – so gut zu ihr, Miss Avery. Sie hat mir in diesem Brief alles darüber erzählt«, schluchzt sie abgehackt; Jean hat begriffen, dass die Frau des armen Trinkers geschrieben und all ihr Leid und Glück erzählt hat.

»Sie fängt so an: ›Wenn mein Vater und meine Mutter mich verlassen, dann wird der Herr mich aufnehmen‹, und, oh, ich hab' das verdient; aber es schmerzt mich – es tut mir weh, Miss Avery.«

Noch ein kurzes Schweigen.

»Ich wusste nich', wie schlimm es war, obwohl das keine Entschuldigung ist, denn ich hätt' es wissen müssen, wenn ein Fremder es so leicht herausfinden konnte; aber Alice war stolz mir gegenüber, das arme Ding! Ich hab' ihr Grund dazu gegeben, und sie hat sich immer von der besten Seite gezeigt und die Dinge vor mir zurückgehalten, und Sie könn'n sich gar nicht vorstell'n, was Sie da getan haben, niemals, obwohl dieser Brief es ziemlich gut sagt. Sie könn'n ihn lesen.«

»Das möchte ich lieber nicht,« erwidert Jean; ihr Bemühen um Selbstkontrolle dabei könnte durchaus als Kälte verstanden werden.

»Und nun, Gott sei gepriesen, obwohl der Herr mir verzeihen möge, wenn ich das sage: Allen is' von uns genomm'n …«

»Ihr Mann ist tot?« fragt Jean entsetzt.

»Ja, die Beerd'jung is' morgen. Dann kann ich Alice und die Kinder hierher hol'n und ein wenig nachholen, was ich in der Vergangenheit nicht getan habe. Ich bin jetzt an Gesellschaft gewöhnt. Ich glaub' nicht, dass ich so leben könnte wie früher, bevor Sie alle kamen, und das Wohnzimmer wird so leer sein, wenn Miss Waite nich' mehr da ist. Ich nehm' an, dass es ihr bald wieder gut gehn wird, wo Dr. Dart sich um sie kümmert. Ich wusste nich', dass es solche Männer wie ihn gibt, und ich schätze, an den meisten Orten tut es das auch nicht,« sagt Miss Bounce und wischt sich die Augen.

Jean erhebt sich. »Ich habe in diesem Sommer viele Fehler gemacht, Miss Bounce,« sagt sie in seltsam bescheidenem Tonfall, der Tränen allenfalls andeutet. »Ich kann gar nicht dankbar genug dafür sein, dass mein Einsatz für Ihre Schwester nicht einer davon war.«

»Und da ist noch etwas,« sagt Miss Bounce und schaut dabei ziemlich verschämt drein. »Tante Allen hielt sich nur die Seiten und lachte und lachte, als ich ihr meine Haube zeigte und ihr sagte, Sie hätten sie für drei Dollar überarbeiten und trimmen lassen. Sie sagt, zehn Dollar würden nicht ausreichen. Ich habe nicht gesehen, wie se's gemacht ha'm; aber ich bin schrecklich unerfahren in solchen Dingen.«

»Bitte verzeihen Sie mir das. Es war vielleicht dumm von mir, Sie zu täuschen. Ich bin bestenfalls ein sehr dummes Mädchen; aber es war mir eine solche Freude, sie Ihnen zu besorgen.«

»Nun, es wird mir immer ein Vergnügen sein, sie zu tragen und mich an Sie zu erinnern. Es war rundum ein gesegneter Tag, als Sie zum ersten Mal einen Fuß in Pineland setzten.«

»Danke, Miss Bounce,« entgegnet Jean mit sanften Lächeln; dann geht sie hoch zu ihrem Zimmer, um am Fenster Ausschau zu halten; aber die Abendschatten versammeln sich, und kein Arzt, weder aus dem Land noch aus der Stadt, kommt auf die Rote Farm.



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