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VI.
Der andere Pensionsgast.

Welch' ewige Enttäuschung ist tatsächliche Gesellschaft.

EMERSON. Aus dem Essay » Friendship« des amerikanischen Philosophen Ralph Waldo Emerson (1803-82).


Die jungen Damen haben ihr Zimmer gesehen und gebilligt, haben die Witwe und ihre Nichte getroffen und einer reichlichen Mahlzeit zugesprochen.

»Glauben Sie, dass Miss Bounce nie Gebrauch macht von ihrem Wohnzimmer?« fragt Mrs. Erwin, die Witwe, Jean mit ihrer leise jammernden Stimme, als sie sich vom Tisch erheben. »Es ist so stickig da drin – wenn man ein bisschen Luft hereinlassen könnte! Aber ich bin so schüchtern und trau' mich nicht, einfach zu fragen.«

»Ich denke, wir können uns hier so verhalten, wie es uns gefällt,« erwidert Jean in ihrer direkten, ernsthaften Art, die einen so großen Gegensatz bildet zu der verschwommenen, kindischen Sprechweise der Witwe; dann wendet sie sich an die grimmige Gastgeberin.

»Es ist zu dieser Stunde drinnen angenehmer als draußen,« sagt sie; »dürfen wir uns ganz wie zu Hause fühlen?«

»Ja,« antwortet Miss Bounce etwas resigniert.

Es ist eine größere Veränderung, als sie sich vorgestellt hat: die Stille der Roten Farm wird von fröhlichen jungen Stimmen gestört, und diese Mädchen nehmen sich Freiheiten heraus, indem sie durch ihr friedliches Eigentum streunen – das wirkt auf die einsame Frau zuerst eher verwirrend als erfreulich.

Jean geht voran in jenes Verlies von einem Wohnzimmer und öffnet der frischen Luft die Fenster.

»Ich danke Ihnen, Miss Ivo'y, Sie sind eine wahre Wohltäterin,« murmelt Mrs. Erwin, die anscheinend außer Stande ist, das ›r‹ zu artikulieren.

»Es weht heute eine kräftigere Brise als gestern,« bemerkt Jean und steckt den Musselin an den Fensterseiten gut fest, damit nur Luft herein dringt. Unterdes haben Ruth, Mabel, Polly, Barbara und die Fremde, Nettie Dart, einen Kreis in der Nähe des Fensters gebildet und eine lebhafte Unterhaltung in Gang gebracht.

»Ich bin froh, dass Ihre Nichte nicht schüchtern ist, Mrs. Erwin,« sagt Jean; »sie geht mit meinen Freundinnen so ungezwungen um, als würde sie sie schon ihr ganzes Leben kennen.«

Die Witwe macht eine kleine Gebärde der Verzweiflung.

»Quälen Sie mich nicht damit, darüber zu sprechen, Miss Ivo'y; Nettie ist so wild.«

Jean lässt ihren Blick über das schlichte junge Mädchen mit ihren hellen Augen und der stumpfen Nase gleiten; sie findet es sehr erfreulich, dass sie sich so gut amüsiert, und sagt das auch.

»Natü'lich ist das ganz gut für Nettie, sich zu amüsieren,« versetzt die Dame seufzend; »einzuwenden ist nur, dass sie sich zu jeder Zeit amüsieren zu dürfen glaubt. Wenn sie zum Beispiel etwas falsch gemacht hat, weiß sie gar nicht, wie man sich ganz kleinlaut verhält, sondern ist immer so, wie Sie sie jetzt sehen.«

Jean findet, dass sie so, wie sie sie jetzt erlebt, sehr erfreulich ist, und muss einfach das helle Gesicht der Nichte mit dem fahlen Antlitz und dessen hervortretenden Augen und beginnenden Falten der vor ihr Stehenden vergleichen.

»Wie ich zu meinem seh' lieben Freund, Mr. Dart, sagte, als wir hier ankamen: es bedeutete für mich keine ge'inge Selbstverleugnung, mich an diesem Ort den größten Teil des Sommers zu vergraben, aber einer musste sich um Nettie während ihrer Ferien kümmern, und es schien sonst keinen zu geben. Davon abgesehen, macht es gerade jetzt nicht so viel aus, weil ich bei dieser Jahreszeit jedenfalls Ruhe haben möchte.«

Mrs. Erwin berührt dabei ihr Trauerkleid, während für Jean diese kleine Handlung ihrer affektierten Äußerung eine gewisse Würde verleiht und ihren eigenen Kummer um die Mutter neu entfacht, deren Verlust sie nie in Trauerflor beklagt hat. Zu ihrem Erstaunen fährt Mrs. Erwin in geschäftsmäßigem Ton fort:

»Ein weite'er Trost ist, dass man an diesem Ort so gut alte Kleider auftragen kann. Er ist überhaupt gut für alle, denen Schwarz steht und die es bis zur allerletzten Minute tragen können; aber bei mir ist das nicht so: nächsten Sommer werde ich kein einziges schwarzes Kleid mehr haben. Ich weiß, dass mir Schwarz nicht steht, und ich werde meine Kleidung jetzt allmählich etwas aufhellen. Ich weiß nicht, ob Sie es bemerkt haben, aber dieses Halstuch ist lavendelfarben unterfüttert; und obwohl ich die Farbe noch verborgen halte, werde ich sie Streifen um Streifen nach außen wenden, denn ich bin so schüchtern und empfindsam von Natur, dass ich mich erst selbst in Farbe sehen muss, bevor ich sie für meine Freunde in der Stadt herausstelle. Nettie, Nettie,« führt die Witwe fort, ihre Stimme erhebend, »nicht so laut;« dann zu Jean: »Ich kann sie nicht in die Gesellschaft einführen mit dieser überschwänglichen Art und diesem vulgären Lachen.«

»In die Gesellschaft? dieses junge Mädchen?« fragt Jean verwundert.

»Oh, ich weiß nicht, was man sonst tun könnte. Mr. Dart glaubt, sie sollte noch vier Jahre zur Schule gehen; aber sie ist schon sechzehn Jahre alt, und die Einflüsse der Schule würden sie nur schlimmer machen; und sowieso ist es viel wichtiger, dass Nettie die Figuren eines Cotillon lernt als die der Geometrie.«

»Trotzdem wird es doch immer noch ihr Vater sein, der dies entscheidet,« bemerkt Jean.

»Ihr Vater? Nettie hat ihn nie gesehen; und als ihre Mutter wieder heiratete, zog sie es vor, ihrer kleinen Tochter den Namen ihres zweiten Ehemanns zu geben; aber meine arme Schwester starb bald nach ihrer Hochzeit mit Mr. Dart. Sie war so hübsch; ich weiß nicht, wieso die Nase ihrer Tochter so nach oben gedreht ist!«

Mrs. Erwin schaut in kummervoller Missbilligung auf ihre nichts ahnende Nichte.

»Dann vermute ich, dass ihr Stiefvater sich auf Sie verlässt,« fängt Jean an, wird jedoch von der Witwe unterbrochen:

»Oh, er lebt auch nicht mehr. Der Mr. Dart, von dem ich sprach, ist sein Sohn und ein seh' guter Freund von mir. Für Nettie ist er wie ein Vater, so wie ich wie eine Mutter für sie bin – das heißt, wir kümmern uns gemeinsam um sie,« und dabei verfärbt sich langsam ihre Stirn, während sie ihre Worte in noch kindischerer Art fließen lässt und verlegen an ihrer Onyxhalskette zieht.

Jean langweilt sich sehr und schaut verlangend zu der Gruppe, die sich aus ihren Schulkameradinnen und deren neuer Freundin gebildet hat; aber zur Zeit ist eine Flucht ausgeschlossen.

»Was glauben Sie, Miss Ivo'y, weshalb Miss Bounce so gegen Gentlemen ist?

»Das weiß ich auch nicht,« entgegnet Jean geistesabwesend, während sie mitzubekommen versucht, was für eine Anekdote Ruth gerade ihren Zuhörerinnen erzählt.

»Glauben Sie, dass sie etwas gegen gelegentlichen Besuch einwenden würde?«

»Das könnte man herausfinden.«

»Ja, ich weiß; aber ich bin so schüchtern und mag sie nicht fragen. Würden Sie sie fragen, Miss Ivo'y? Ich habe schon erlebt, was für eine Macht Sie haben!«

»Aber ich erwarte keine Besucher, Mrs. Erwin; mein Vater könnte vielleicht vorbei kommen, und ich werde gewiss nicht um die Erlaubnis fragen, ihn zu empfangen. Wie lächerlich! Entschuldigen Sie, aber Sie sprechen von Miss Bounce, als wäre sie eine Art Drachen!«

»Ich freue mich, dass Sie sie nicht so empfinden; aber als wir kamen, hatte ich geglaubt, dass wir uns schweigend ihren merkwürdigen Ansichten fügen müssten. – Was kommt da den Weg herauf? Das muss der Wagen sein, der Ihr Gepäck bringt, und ich bin so froh, denn ich weiß, Sie werden mich zuschauen lassen beim Auspacken, ja? Ich bin ein richtiges Kind, wenn es hübsche Sachen anzuschauen gibt.«

»Aber sie ist ein äußerst frühreifes Kind, wenn es darum geht, etwas als Muster zu nehmen, Miss Ivory,« sagt Nettie Dart, die mit ihren Gefährtinnen heran gekommen ist, um die Ankunft des Expresswagens zu beobachten; »wenn Sie also etwas besonders Originelles haben, rate ich Ihnen, es außer Sichtweite zu bringen.«

Mrs. Erwin verfärbt sich wieder langsam:

»Wenn ich anfinge, mich für das abscheuliche Verhalten meiner Nichte zu entschuldigen, würde mich das so viel Zeit kosten, dass ich lieber die jungen Damen im Voraus bitte, nachsichtig zu sein, in der Hoffnung, dass Ihre Gesellschaft bei ihr einen Wechsel zum Besseren bewirkt.«

»Ich hab' schon immer gesagt, Tante Inez, dass Beispiele besser wirken als Gebote,« erwidert das Mädchen lächelnd; »wo ich jetzt erleben kann, wie eine wirkliche Dame sich verhalten sollte, ist nicht abzusehen, was noch aus mir werden könnte.«

Ob Mrs. Erwin in der Lage ist, auf diese unerhörte Rede zu antworten, muss offen bleiben, denn Miss Bounce macht unversehens die Tür auf, unterbricht sich jedoch bei der Ankündigung, dass das Gepäck angekommen sei, in gänzlicher Entgeisterung über die Szene in ihrer geheiligten guten Stube.

Einen Moment lang sagt sie gar nichts, schaut bloß auf die offenen Fenster, auf die aus ihren seitlichen Gimpen gelösten Musselinvorhänge, auf die von der Wand in geselligem Durcheinander abgerückten Stühle und – das Ruchloseste von allem – auf einen schmalen Streifen Sonnenlicht, der schräg über den Teppich fällt; dann holt sie tief Luft und ruft: »Bitte sehr!«

»Ich werde mich um den Boten kümmern, Miss Bounce,« sagt Jean, die ihren Auftrag und ihre Bestürzung erahnt, und die ganze Gesellschaft verlässt das Zimmer und überlässt Miss Hopeful der Betrachtung ihrer Trümmerstätte.

»Rot verblasst wahrscheinlich gar nicht, das ist ein Trost,« monologisiert sie, »aber der Teppich wird in diesem Sommer abgenutzt werden wie in zehn Jahren nich'. Warum in aller Welt musst du Sommergäste aufnehmen, Hopeful Bounce?« Und während sie sich diese Frage stellt, bückt sie sich, um ein Häkeldeckchen vom Boden aufzuheben; »und das ist nur der erste Tag; oh ja, sie wissen, wie man's anstellt, dass man sich wie zu Hause fühlt.«

»Es muss Ihnen doch wirklich Freude machen, Miss Bounce, dass von diesem hellen, hübschen Zimmer wieder Gebrauch gemacht wird,« sagt Jean, die leise eingetreten ist. »Verschlossene Wohnzimmer bekommen so eine enge, unangenehme Atmosphäre; trotzdem dürfen wir natürlich ihren Teppich nicht ruinieren. Mein Bursche kommt morgen her …«

»Keine Gentlemen,« murmelt Miss Bounce, die von Jeans Ansprache etwas perplex ist.

»Nun, Sam ist kein ›Gentleman‹,« sagt Jean, unwillkürlich lächelnd; »er bringt mir zwei Reitpferde, und ich werde ihn einen Leinenüberzug für diesen Teppich holen lassen.«

»Also, ich muss sagen: Sie sind sehr freundlich, Miss Avery,« versetzt Hopeful mit erkennbarem Aufleuchten in ihren verhärmten Augen. »Ich hab' g'rad' nur gedacht, dass ich v'leicht 'n bisschen viel riskiert hab'. Hatte 'n anstreng'nden Tag gestern mit Mis' Erwin; sie is' mit dem kleinen Mädel an'nander geraten und dann hysterisch gewor'n; und da hab' ich heut', als ich sah, wie's dem Teppich ging, fast 'n Schlag gekriegt. Hätte das aber jedenfalls 'ne Minute später schon weggesteckt. Wär' nämlich das erste Mal, dass ich 'was aufge'm würde, was ich angefangen hab'.«

»Jean,« sagt die plötzlich eintretende Mabel leise, »komm und mach deinen Koffer auf; Mrs. Erwin weicht ihm nicht von der Seite und verschlingt ihn mit den Augen. Die anderen Mädels haben schon ausgepackt, aber sie hat ihre Sachen nur flüchtig angeschaut. Ich bin überzeugt, dass sie durch die Deckel deines Koffer hindurch schauen kann und weiß, dass deine Kleider hübscher sind als unsere.«

»Dann wird sie eine Gelegenheit bekommen, ihr Zweites Gesicht anzuwenden,« entgegnet Jean, »denn ich werde nicht vor ihren Augen auspacken. Sag den Mädels, sie sollen sich beeilen und fertig werden, dass wir hinaus auf die Obstwiese kommen; es ist schön da.«

Mabel gibt diese Botschaft vom Fuß der Treppe rufend weiter.

»Aber Miss Ivo'y kann nicht ohne ihren Sonnenhut 'rausgeh'n, und der ist bestimmt in ihrem Koffer,« bemerkt Mrs. Erwin über das Geländer gebeugt.

»Vielleicht leiht Miss Bounce mir ihren,« sagt Jean mit einem fragenden Blick auf die Dame des Hauses.

»Ich benutz' kein'n Hut, aber Sie könn'n gern mein'n Shaker Gemeint ist der Shaker Straw Hat, der klassische Strohhut, wie er von den Frauen der amerikanischen Sekte der Shakers getragen wurde und wie er noch heute von den Amish People gefertigt wird. nehm'n,« erwidert Miss Bounce kurz angebunden.

Jean hat ziemlich nebulöse Vorstellungen davon, was ein ›Shaker‹ sein könnte, aber sie nimmt ihn mit Dank an, und bald darauf zieht ein Strohhäubchen mit Karo-Volants zur Obstwiese, neben ihr Ruths schmucke Kopfzier.

Unmittelbar hinter den beiden Freundinnen gehen Mabel, Nettie und Barbara, während die Witwe mit Polly Gunther folgt, deren lässiges Benehmen Mrs. Erwin überzeugt hat, dass sie gesellschaftlich akzeptabel ist.

»Wir können ja alle morgen früh ins Dorf gehen und ›Shaker‹ wie den von Jean kaufen,« schlägt Ruth vor; »sie schützen den Nacken so schön, und ihr könnt sicher sein, dass meiner so rot sein wird, dass niemand erkennen kann, wo mein Haar anfängt, wenn ich es nicht darunter verberge. Wäre das nicht für uns alle ein Spaß, zusammen in den Laden einzufallen?«

»Beinahe zu aufregend,« murmelt Polly ironisch. »Ruth vergnügt sich gern mit so uninteressanten Orten und Sachen.«

»Und Leuten auch?« fragt Mrs. Erwin.

Polly schüttelt den Kopf. »Keine Ahnung, sie ist ein seltsames Mädchen; ach, wissen Sie, als wir mit der Kutsche her fuhren, behauptete sie steif und fest, dass ein junger Gentleman hier sei,« fügt Miss Gunther hinzu, in deren Kopf diese erfreuliche Vorstellung sich eingenistet hat.

»Das hat sie bestimmt nicht ernst gemeint; dort ist der einzige junge Mann, den es hier gibt,« antwortet Mrs. Erwin und zeigt auf Jabe; er füttert in einiger Entfernung die Schweine, die in ihrem Stall unter der Scheune grunzen und quieken.

Der Junge dreht sich um, bemerkt die Gesellschaft und nickt Ruth grinsend zu, die das Nicken erwidert. Miss Gunther betrachtet das Gebärdenspiel mit Verachtung.

»Miss Ivo'y benimmt sich, glaub' ich, recht eigentümlich,« fährt Mrs. Erwin fort.

»Erben haben das Vorrecht ungewöhnlichen Benehmens,« versetzt Polly; »nur wir Mädchen, die wir nichts haben, müssen darauf achten, wie wir uns betragen.«

»Dann ist sie die Miss Ivo'y,« sagt die andere erleichtert; »ich hatte es mir gedacht, denn der Name ist kein gewöhnlicher. Ich hab' von ihr gehört. Wie glücklich muss sie mit all dem Geld sein! Im nächsten Winter ›kommt sie 'raus‹ Das traditionelle » coming out« bedeutet die offizielle Einführung junger Damen in die Gesellschaft gelegentlich eines Balls, das sog. ›Debüt‹. Mit Rücksicht auf das Wortspiel mit come out / come in, das Ruth im letzten Kapitel zum Besten gibt, bleibt die Übersetzung an dieser Stelle wörtlich., heißt es. Sagen Sie, falls Sie die Frage nicht unverschämt finden: Was hat Sie junge Damen in diese abseitige Gegend verschlagen?«

»Wir haben gerade zusammen den Schulabschluss gemacht,« erklärt Polly mit recht misslaunigem Lächeln – »wir haben mit allem abgeschlossen, außer mit der Herrschaft von Miss Ivory; sie und Ruth haben entschieden, dass wir möglichst Kraft für den nächsten Winter sammeln sollten, und so sind wir hierher gekommen und wecken gemeinschaftlich Kraft auf Vorrat ein.«

»Eine seh' gute Idee, Miss Gunther,« bestätigt die Witwe interessiert; »Sie können sich gar nicht vorstellen, wie gut sie ist, ehe Sie richtig in die Gesellschaft eingeführt sind und begreifen, was das für eine Arbeit ist. Ich werde selbst nächsten Winter dezent dahin zurückkehren,« fährt die Dame eifrig fort. »Empfänge und Tischgesellschaften in Lavendel- und Grautönen, wissen Sie – aber erzählen Sie weiter. Ich hab' Sie unterbrochen.«

»Ich wollte nur sagen, dass ich kaum weiß, warum Mabel und ich mitgekommen sind, es sei denn, aus Unterwürfigkeit gegenüber Jean.«

Mrs. Erwin ist bei weitem nicht so überrascht über diese Mitteilung wie Polly selbst, während sie sie macht, und letztere beeilt sich fortzufahren:

»Soweit es Barbara betrifft, so war sie natürlich nur zu dankbar, überhaupt irgendwohin zu gehen, auf Jeans Kosten; darum ist sie hier und hat gewiss nicht vor, dem geschenkten Gaul ins Maul zu schauen.«

Mrs. Erwins Neugier ist unersättlich, daher nimmt sie keine Notiz von Miss Gunthers entschwundener Zuneigung oder roher Eifersucht.

»Erben haben immer ihre Anhängerschaft, wissen Sie,« sagt sie. »Ich dachte gleich bei Miss Waites Erscheinen, dass sie nicht zu Ihrer Welt gehöre.«

Ihre Rede ist Balsam für Polly, der nichts in ihrer Welt in solch einem Ausmaß zusetzt wie Jeans zärtliche Rücksichtnahme auf Barbara.

»Ja, Barbara ist, glaube ich, sehr arm. Wir nennen sie manchmal Mausie, weil sie so klein und still ist. Kirchen-Mausie würde noch besser passen.«

Die Witwe wirft ihren Kopf zurück und lacht über diese Geistreichelei. Sie hat gute Laune und könnte über alles lachen. Sie ist zu diesem einsamen Ort gekommen, weil sie sich ihrem ›seh' lieben Freund‹ zu Liebe um ihre Nichte kümmern muss, und um ihre alten Kleider aufzutragen; und siehe da: zur Gesellschaft hat sie mehrere junge Damen bekommen, unter denen sie sich jünger als je fühlt, und darüber hinaus noch die Gelegenheit, ein vertrautes Verhältnis zu ›Miss Ivo'y‹ anzuknüpfen, deren Bekanntschaft kommenden Winter so wünschenswert sein wird.

»Ich fürchte, Sie sind etwas sarkastisch, Miss Gunther,« sagt sie, als sie zu den anderen bei der Mauerlücke am Obstgarten aufschließen.

»Schaut 'mal: ist das nicht ein bezaubernder Berghang?« fragt Ruth.

»Ja; aber sollen wir etwa durch das hohe Gras gehen?« fragt Mrs. Erwin furchtsam. »Es sieht so nach Schlangen aus.«

»Das glaub' ich auch, Tante Inez,« pflichtet Nettie bei und springt durch die Mauerlücke auf die Obstwiese; »und übrigens: wir gehen 'runter zu einem Bach, in dem es Schildkröten gibt, und du hast ja Angst vor Schildkröten. Ich würde an Deiner Stelle nicht mit kommen.«

»Haben Sie auch Angst vor Schildkröten, Miss Ivo'y?« fragt die Witwe, indem sie den Rat ihrer Nichte so gut wie möglich übergeht. »Es sind so häßliche Kreaturen!«

»Nein, gar nicht; Miss Ivory mag sie, hat sie gesagt,« wirft Nettie ein.

»Nettie, deine Grobheit mir gegenüber kann ich ertragen; aber lass freundlicher Weise Miss Ivo'y ihre eigenen Antworten geben,« äußert Mrs. Erwin, und ihr Tadel hätte würdevoll geklungen, hätte nicht der fehlende Konsonant Jeans Namen zu dem des Efeus » Ivy«: Efeu. verfälscht und die übrigen Worte entsprechend entwertet.

»Ich denke, ich kann Ihnen Ihre Sicherheit vor jenen Reptilien garantieren, Mrs. Erwin,« sagt Jean steif. »Wollen Sie nicht mit uns kommen?«

Die Witwe bejaht lächelnd und schiebt – ganz gegen den Willen der jungen Dame – ihre kleine Hand unter Jeans runden, festen Arm.

 

»Ruth,« sagt sie zu ihrer Freundin an diesem Abend zuletzt, bevor sie zur Ruhe gehen, »es gibt einen schlimmeren Einwand dagegen, den Sommer auf der Roten Farm zu verbringen, als die Kutschfahrt.«

»Du meinst die Witwe und ihre Nichte.«

»Ja; die eine ist oberflächlich und geistlos; die andere oberflächlich und herzlos. Wir sind zwischen sie geraten, und sie sind auf höchste Vertraulichkeit aus. Nun, Emerson sagt …«

»Jean, um Himmels Willen! Nein!« ruft Ruth entsetzt; sie hält ihre Haarbürste noch in der Luft, während ihr Haar im Lampenlicht funkelt, als sie sich plötzlich zu ihrer Freundin umdreht: »Genau dieser Gedanke ist mir heute durch den Kopf gegangen. Ich dachte: ›Was tun wir nur, wenn Jean darauf besteht, dass wir ein emersonisches Dasein Anspielung auf den Essay » Nature« (1836), in dem Emerson sein Bekenntnis vertritt, dass Menschen in einfacher Art und Weise und im Einklang mit der Natur leben sollten. führen?‹ Also, deine Neigung und Emerson würden dich dazu bringen, diese beiden Menschen zu behandeln wie …«

»Ruth, Emerson …«

»Ja, ich weiß alles darüber: ›erscheine als das, was du bist, und sei das, als was du erscheinst‹, und ›die Erhabenheit der Aufrichtigkeit‹. Ich lese das fast genauso gern wie du und fühle mich ebenso erhoben dabei, aber die simplen Fakten lauten doch: Wenn du mit Mrs. Erwin nicht zusammen sein kannst, ohne sie nach deinen wahren Gefühlen zu behandeln, wird entweder sie oder werden wir innerhalb einer Woche nach Boston zurückkehren müssen. Lass dir das gesagt sein!«

»Dann kommt alles darauf an, dass du sie in Schach hältst, damit sie mich nicht zu sehr strapaziert, und dass du mich rechtzeitig warnst; denn ich weiß genau: ich werde sonst garantiert etwas Unangenehmes zu einer von den beiden sagen, bevor viele Tage ins Land gezogen sind,« stellt Jean nachdrücklich fest, sammelt einige ihrer Sachen ein, wünscht ihrer Freundin eine gute Nacht und geht über den Flur zu ihrem eigenen Zimmer.



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