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III.
Eine ungnädige Antwort.

Wie ein Traum hat alles sich verflüchtigt.

ROGERS. Aus dem Gedicht » The Nun« (aus: Italy. A Poem. 1830. No. 36) des englischen Dichters Samuel Rogers (1763-1855).


Das Abendessen ist vorbei. Jean und Ruth sitzen mit Mr. und Mrs. Ivory in deren Wohnzimmer und unterhalten sie mit Schulgeschichten, die dazu noch frisch genug sind.

»Ich kann es noch gar nicht begreifen, dass wir im Herbst nicht wieder zur Schule zurück gehen,« sagt Ruth gerade, als sich die Tür öffnet und eine Dienstbotin einen Brief auf einem Präsentierteller bringt.

»Für Miss Ivory,« sagt sie.

Jean nimmt den versiegelten Umschlag und betrachtet die Aufschrift. »Miss Ivory. Persönlich.« steht da, in unbekannter Handschrift, offensichtlich aber die eines Gentleman.

Mrs. Ivorys neugierige Augen heften sich sofort darauf. Sie begreift, dass der verdutzte Ausdruck auf dem Gesicht ihrer Stieftochter nicht vorgetäuscht ist.

»Lies ihn ruhig, Jean,« sagt sie; »wir werden das entschuldigen.«

Jean nimmt ein Messer mit Perlengriff vom Tisch und öffnet den Brief. Sie mag lebhafter in ihren Bewegungen sein, als ihrem Protégé gefällt; aber sie ist anmutig in allem, was sie tut, im Größten wie im Kleinsten, und würde genauso wenig einen Brief einfach aufreißen, wie sie in ihrer Kleidung unordentlich wäre.

Sie drückt die Ecken des Kuverts zusammen, um das Blatt heraus zu ziehen, und erblickt etwas davon leicht Herausstehendes. Es ist Geld! In einem mächtigen Stoß scheint das gesamte Blut ihres Körpers in ihr Gesicht und ihren Nacken zu dringen; aber sie weiß sich zu beherrschen. Sogleich versteht sie, was da zu ihr zurückgekommen ist, kennt den Wert jeder einzelnen Banknote in dem Umschlag, weiß, wessen Hand die Aufschrift schrieb, und begreift auch, dass ihre Mutter, falls sie ein Anzeichen erhält, dass etwas Ungewöhnliches im Gange ist, sie über jedes erträgliche Maß hinaus befragen und kreuzverhören wird.

Die Gesichts- und Halsfärbung geht zurück und weicht schließlich dem gewöhnlichen reinen Weiß ihrer Haut, während sie mit einem achtlosen Klaps ihrer Hand den verdächtigen Inhalt wieder in den Umschlag zurück schiebt.

»Ich weiß, was es ist,« sagt sie gleichgültig; Mrs. Ivory hat jedoch ihre Verfärbung und das unfreiwillige Zusammenzucken bemerkt.

»Ist es eine Antwort auf die Mitteilung, die Sam gestern besorgte?« fragt sie.

»Es ist eine meiner kleinen Geschäftsangelegenheiten, die nun endlich erledigt ist. Ich möchte dich nicht mit Einzelheiten belästigen,« versetzt das Mädchen so kaltblütig, als trommle ihr Herz nicht gerade einen Quickstep gegen ihre Rippen, vor Aufregung, Enttäuschung, Demütigung und aus Neugier, ob nicht ein paar Zeilen mit im Umschlag stecken, und was in ihnen stehen könnte.

»Ja, die Einzelheiten würden mich wohl durchaus belästigen,« entgegnet Mrs. Ivory. »Ich denke, dein Vater ist derjenige, der deine Geschäftsangelegenheiten zu führen hat.«

»Dies erwähntest du bereits verschiedentlich, meine Liebe,« sagt Mr. Ivory freundlich. »Jean weiß, dass ich stets zur Verfügung stehe, wenn sie mich braucht.«

Jean, die neben ihrem Vater sitzt, drückt dankbar seine Hand, und weil Jeans Hand in Form, Farbe und Größe einfach vollkommen ist und sich wie feine Seide anfühlt, genießt ihr Vater die Liebkosung.

Ruth ist an diese Wortgefechte in Bezug auf Jeans Freiheiten gewöhnt, und an sie richtet Mrs. Ivory ihre nächste Bemerkung:

»Jean bedarf einer Kombination von Eigenschaften, die für ein Mädchen ihres Alters einfach unmöglich ist, um ihr Vermögen anständig zu verwalten; aber es ist ja nicht meine Angelegenheit, und ich wünschte, ich könnte mich dabei heraus halten;« und die Anwesenden wiederholen von Herzen diesen Wunsch der Dame. »Jeder weiß,« fährt sie fort, »dass Mr. Ivory nicht ganz zurechnungsfähig ist, wenn es um Jean geht, und glaubt, sie könne nichts Falsches tun.«

»Wenn das der Fall ist, Vater,« sagt Jean, »dann wirst du es vielleicht in Ordnung finden, wenn ich auf mein Zimmer gehe. Ruth und ich brauchen heute Nacht viel Schlaf, weil wir morgen einen Ausflug unternehmen.«

»Wohin?«

»Nach Pineland, einem Dorf etwa eine Stunde Fahrt von Boston; und wenn wir gewisse Informationen erhalten, werden wir dich mit einem Plan für den Sommer bekannt machen, der so vorbildlich, gesund und ökonomisch ist, dass sogar Mutter ihn billigen wird. Komm, Ruth.«

So sagen die jungen Damen also Gute Nacht und gehen hinauf zu ihrem Zimmer. Jean entzündet die Gasleuchten, schließt die Tür und setzt sich an den Tisch, während Ruth ein Poesiealbum nimmt und sich scheinbar in seinen Inhalt vertieft, um Jean Gelegenheit zu geben, ungestört ihren Brief zu lesen. Sie hat den Verdacht, dass die Mitteilung etwas zu tun hat mit dem Abenteuer, von dem ihre Freundin ihr berichtet hat; es ist aber eine von Ruths Besonderheiten, dass sie nie ungebührliches Interesse an den Angelegenheiten anderer zeigt, und darin ist sie als Frau ein wahres Wunder, so dass Miss Exeter, auch wenn Jean nichts mehr über ihren Brief sagt, dennoch ebenso süß schlafen wird, als wenn nichts geschehen sei.

Es herrscht ein kurzes Schweigen; dann zieht ein schwacher Klang Ruths Aufmerksamkeit auf sich, und sich umwendend sieht sie, dass Jean ihre Hände auf den Tisch gelegt hat und ihr Gesicht auf die Hände nieder gebeugt ist.

Ruth weiß nicht, was sie tun soll. Sie will nicht das Vertrauen ihrer Freundin erzwingen, aber Jeans Haltung deutet so klar auf Tränen und Kummer, dass es herzlos schiene, nichts zu sagen. Sie nähert sich und steht einen Moment unentschlossen da; dann legt sie eine Hand auf das schwarz glänzende Haar und fragt:

»Jean, weinst du?«

Die Plötzlichkeit, mit der Miss Ivory daraufhin auffährt, veranlasst ihre Freundin, einen Schritt zurück zu treten und erstaunt auf das gerötete Gesicht zu starren und die hellen, tränenlosen Augen, die sie anschauen.

»Weinen? Nein, ich weine nicht. Ich sterbe nur vor Wut und Demütigung!«

»Dann geht es doch um deinen Protégé mit dem reinen Gesicht?«

»Reines Gesicht? Wer behauptet, dass er ein reines Gesicht hat!? Ich kann mich jetzt erinnern – ein hochnäsiges, anmaßendes, unerträgliches Gesicht; und ich wünschte, ich hätte es nie gesehen.«

Eine Minute Schweigen, während Ruth sich bemüht, nicht zu lachen, und hofft, dass Jean nicht doch zu weinen anfängt. Aber das braucht sie nicht zu befürchten. Miss Ivory war nie weniger zum Weinen zu Mute.

»Kann irgend 'was – und wenn man ein ganzes Jahr darüber nachdenken würde – kann irgend 'was demütigender sein? Es ist schlimm genug, und erniedrigend und dazu noch lächerlich, wenn man versucht, anonym zu bleiben, und damit scheitert, ganz zu schweigen von … Oh, Ruth, ich halt' das nicht aus!«

Und damit sinkt der Kopf wieder auf die Hände.

»Aber ich hab' keine Ahnung, wovon du sprichst, Jean,« sagt Ruth; sie fürchtet, dass etwas sehr Schreckliches bei dem schönen Plan ihrer Freundin heraus gekommen ist.

»Du weißt es nicht!« ruft Jean, sich ebenso plötzlich wie zuvor aufrichtend; »aber in einer Minute wirst du es wissen, denn ich werde dir dieses ganze Dingsda vorlesen, aber ich will es nicht wieder anfassen. Reich' mir meine Pinzette aus der Schublade dort!«

Ruth gehorcht, und Jean nimmt den Brief mit der Pinzette an einer Ecke auf, hält sie so und liest mit klarer Stimme:

»›Boston, 2. Juli '78.‹

Das heißt: an dem Morgen, Ruth, als ich mich für das Essen bei dir fertig gemacht und die ganze Zeit gedacht habe, wie glücklich … aber egal.

›Obwohl Sie, ausgehend von dem irrtümlichen Gedanken, ich selbst sei in Not, ihr großzügiges Geschenk zu meinem Gebrauch bestimmten, würde ich es nicht aus diesem Grund an Sie zurück senden, weil ich vollständig begreife, dass es der Leidende war, den Sie unterstützen wollten, und nicht ich; aber ich kann mir kaum vorstellen, dass sie hinreichend Zeit hatten, um darüber nachzudenken, bevor sie den Betrag von fünfzig Dollar einem vollkommen Fremden sandten. Außerdem hat mein Freund besser für sich gesorgt, als ich es für ihn gekonnt hätte, und eine wünschenswerte Stellung erworben; daher sende ich Ihnen durch sichere Hände das Geld zurück, das ihre eigenen vielleicht besser nicht verlassen hätte ohne genügende Kenntnis der Tatsachen, und verbleibe

Ihr treu Ergebener. Im amerikanischen Original: » Yours truly«. In dieser Grußformel ist natürlich die wörtliche Bedeutung »Wahrlich der Deine« verblasst; sie schwingt jedoch im lustspielartigen Kontext des Plots für den Urtextleser mit. Die deutsche Übersetzung kann hier leider mit keinem perfekten Äquivalent aufwarten; das einst durchaus übliche »Ihr treu Ergebener« trifft zwar den Sinn ziemlich exakt, ist mit seiner doppelten Silbenzahl jedoch als Substitut eines Eigennamens eigentlich zu ungefüg. Das kürzere »Hochachtungvoll« besäße zwar die nötige Griffigkeit, ist aber zu formell und entkleidet den Sinn der latenten erotischen Komponente, die spätestens im letzten Kapitel benötigt wird.‹«

Jean hält inne und schaut mit beredtem Blick ihre Freundin an.

»›Ihr treu Ergebener‹ – und weiter?«

»Und nichts weiter. ›Ihr treu Ergebener‹; das ist alles; aber ich brauche keinen Namen für diesen selbstgerechten Schnösel, der im Stande war, einen solchen Brief zu schreiben!«

Jean schleudert das Blatt mit aller Macht von sich; mit der Willkür eines Briefbogens segelt es indes eine kleine Runde durch die Luft und landet dann auf ihrem Schoß.

»Wie zartfühlend von ihm, nicht mit seinem Namen zu unterzeichnen,« sagt Ruth. »Ich kann mir genau vorstellen, wie er sich das ausgedacht hat: dass du dich wahrscheinlich nicht an ein Gesicht erinnern würdest, auf das du kaum einen richtigen Blick geworfen hast, und dass du, wenn du seinen Namen nicht wüsstest, nicht in Verlegenheit gerietest, wenn du ihn später treffen solltest.«

»Glaubst du, dass es dadurch erfreulicher für mich wird?« fragt Jean scharf. »Ich weiß genau, was für eine Sorte Mensch das ist – er ist von erhabener Perfektion, vergisst nie etwas, woran er denken sollte, oder erinnert sich nie an etwas, das er vergessen sollte. Es gibt etwas, das ich am liebsten vergessen würde, aber das werde ich niemals schaffen, und das ist sein unsympathisches Gesicht.«

»Wie schade eigentlich, dass es so auffallend rein war,« bemerkt Ruth nachdenklich.

»Ruth Exeter, ich glaube fast, du ergreifst Partei für diesen Mann und hänselst mich.«

»Weißt du, ich kann nicht vergessen, dass er groß ist, und das lässt mich über eine Menge Sünden hinweg sehen,« sagt Ruth lächelnd. »Ich muss doch auf fast jeden Mann, der mir nahe kommt, hinab schauen; neben den meisten komme ich mir vor wie eine Riesin.«

»Wie schade, dass ich davon erzählt habe,« sagt Jean, finster in die Ferne schauend; »es wäre viel besser zu ertragen, wenn keiner außer mir davon wüsste.«

»Na, jetzt übertreibst du aber!« sagt Ruth in einem ganz anderen Ton, während sie sich an der Seite ihrer Freundin hinkniet und Jean ihre Ellbogen auf den Tisch stützt und ihr Kinn auf ihre Hände sinken lässt. »Was machst du denn so viel davon her? Du hast versucht, insgeheim eine großzügige Handlung zu vollziehen, und bist dabei entdeckt worden.«

»Ja, genau! Und während ich mir vorgestellt habe, ich würde ein herzliches Dankeschön von diesem ›treu Ergebenen‹ bekommen, mich selbst bejubelte und dir alles darüber erzählt habe, hat er bloß eine Augenbraue in hochnäsiger Verwunderung hinaufgezogen und mir schriftlich einen Rüffel erteilt, als ob ich seine Schutzbefohlene oder noch 'was Schlimmeres wäre. Nein, sag bloß nichts mehr darüber! Ich werde nie darüber hinweg kommen – niemals. Kluge Hopeful Bounce! Ich lasse mich einschreiben unter der Flagge derjenigen, die ›für jedes männliche Wesen, das uns auch nur einen Blick zuwirft, die Todesstrafe‹ verhängt. Lass uns zu Bett gehen und schlafen und von Pineland träumen,« sagt Jean abschließend und erhebt sich abrupt; Ruth hält sich weise zurück und sagt nichts mehr zu dem Thema.

Jean jedoch kann bis in die frühen Morgenstunden nicht schlafen. Ihre Enttäuschung ist riesig, und ihr Ärger steht in keinem Verhältnis zum Vorfall. Sie fühlt sich diesem Fremden gegenüber so sehr im Nachteil, der sie zu kennen scheint und nicht gezögert hat, seine Missbilligung ihrer impulsiven Großzügigkeit zu bekunden.

»Was würde Mutter nicht alles tun, um von diesem Abenteuer zu erfahren,« denkt sie; und dieser Gedanke ist so unangenehm, dass Jean von ihrer unbequemen Couch aufsteht und leise, um Ruths Schlummer nicht zu stören, den Brief selbst und alle kleinen Bruchstücke zusammen rafft, die auf ihrem Schreibtisch gestern zurück geblieben waren und Bezug auf das Thema hatten: die Anfrage an Mr. D****, ob er das Beigefügte einhändigen könne u.s.w., die Ermahnung an den Unbekannten, er solle nicht zögern, Gebrauch von dem Geld zu machen, wovon sie verschiedene Abschriften gemacht hatte, bevor eine sie zufriedenstellte, und die gelassene Antwort; dann knautscht sie alles rachsüchtig zu einem kleinen Ball zusammen, schaut umher, worin sie diesen verbrennen könne, leert am Ende eine bronzene Kartenbox, in die sie das Bällchen versenkt, es anzündet und dann beobachtet, wie es brennt und zu Asche wird.

»Wie überwältigt er von seinen dankbaren Gefühlen war!« denkt sie und erinnert sich mit Bitterkeit an ihre ungeduldigen Vermutungen. Umher schauend erspäht sie auf dem Boden liegend jenen Umschlag, der die Worte enthielt, die sie so sehr beunruhigt haben. Sie hebt ihn auf und schaut ihn an:

»›Miss Ivory. Persönlich.‹«

»Miss Ivory, du solltest das besser aufbewahren,« denkt sie. »Dies entkam der Massenvernichtung, wahrscheinlich deshalb, weil es noch immer einen Auftrag zu erfüllen hat; und wenn du dir je künftig auf eine Heldentat wer weiß was einbildest, dann hol dies hervor und wirf einen Blick darauf.«

Dann nimmt Jean die Geldscheine vom Tisch, verstaut sie locker in einer Schublade ihres Kleiderschranks, verwahrt den Umschlag an einem sicheren Ort und geht zurück ins Bett – diesmal, um zu schlafen.



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