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V.
Die Rote Farm.

»Leb wohl, du geschäft'ge Welt!« Aus dem Gedicht » The Retirement« des englischen Dichters Charles Cotton (1630-87).


» Wie gewöhnlich kommt Miss Ivory zu spät,« bemerkt Ruth, als sie mit Mabel und Polly am Abfahrtsmorgen im Damenwartesaal des Bostoner Bahnhofs sitzt.

Die anderen beiden jungen Damen haben sich entschlossen, Miss Bounce Unterkunft auszuprobieren, an der Ruth ziemlich ehrlich in ihrer Beschreibung eher das Beschränkte als deren Ruhe hervorgehoben hat.

»Wenn ihr euch selbst vergnügen könnt und süße Düfte liebt, dann kommt mit,« hat Ruth gesagt; und so sind sie nun hier und wundern sich, dass sie freiwillig einen Sommer ihres Lebens dafür erübrigen, fühlen sich aber doch vom Beispiel ihrer beiden Anführerinnen verlockt, von denen eine ziemlich auf sich warten lässt.

Doch kaum haben die Worte Ruths Lippen verlassen, als Jean Arm in Arm mit Barbara in Erscheinung tritt; das schüchterne Mädchen wird mit größter Überraschung begrüßt, und ihre grauen Augen leuchten in stillem Glück, das dem zu Erwartenden einen neuen Glanz verleiht.

»Du kommst auch mit, Barbara? Ach, dann ist die Sache ja komplett,« sagt Mabel; weil die Freundinnen den Wartesaal für sich allein haben, nimmt Ruth die beiden Neuankömmlinge dankbar in die Arme, und sogar Polly Gunther kann sich zum Mitgefühl mit »Mausies« Freude erwärmen.

»Ich hatte schon Angst, du würdest zu spät kommen, Jean,« sagt Ruth.

»Wäret ihr ohne mich gefahren, wenn das passiert wäre?«

»Nein, natürlich nicht; so grausam könnte ich nicht sein, dass ich dich des Anblicks von Mabs und Pollys Gesichtern berauben würde, während sie von Pineland Zentrum zur Roten Farm transportiert werden.«

Ruth und Jean wechseln Blicke, die den anderen ziemliche Rätsel aufgeben.

»Tut mir leid, dass ich dir die Fahrstrecke überlassen habe, Ruth,« sagt Jean; »ich hätte wissen müssen, dass du nicht widerstehen konntest, diesen Mädels …«

»Ungerecht wie gehabt,« unterbricht Ruth; »es ist mein Schicksal, von denen, die ich am meisten liebe, nicht verstanden zu werden.« Dann ändert sie ihren hochtrabenden Ton: »Ich fand heraus, dass es nur diese Fahrstrecke gibt, wenn wir morgens in Pineland ankommen wollten, und so habe ich mich für sie entschieden.«

»Und das mit größtem Eifer, da bin ich sicher,« fügt Jean hinzu.

»Keine Anspielungen, bitte! Also, meine jungen Damen, es sind noch fünf Minuten bis es losgeht; so haltet denn noch einmal Umschau,« sagt Ruth feierlich.

»Sag mal, Jean,« fragt Mabel, »warum spricht Ruth von Miss Bounces Farm immer als von ›jenem Ort, von dem kein Reisender zurückkehrt‹ Die Stelle bei Shakespeare, Hamlet, Akt 3, Szene 1 (» An undiscovered country whose bourne no travelers return – puzzles the will.«) spielt auf den Tod an.? Wir haben nichts unterschrieben, das uns zwingt dazubleiben, wenn wir nicht wollen; und wenn bei Miss Bounce keine wilden Tiere um das Hoftor rennen, weiß ich nicht, warum es so ein furchterregendes Unternehmen sein soll, dahin zu fahren.«

»Vielleicht wirst du in einer Stunde klarer sehen,« sagt Ruth mit verschmitztem Lächeln; »aber ich merke, ihr seid voll entschlossen.«

»Und ich glaube, ihr werdet es nicht bereuen,« fügt Jean hinzu.

»Ich kenne jedenfalls eine, die das nicht tun wird,« versichert Barbara nachdrücklich, als sie mit ihren vier schick angezogenen Gefährtinnen den Wagon besteigt.

Zu Ruths heimlicher Freude scheint dieser Wagon genau der zu sein, der damals die Probefahrt auf der ersten Bahnlinie, die von Boston hinausführte, gemacht hat, so altmodisch ist er, mit seinem großen Ofen in der Mitte und seinen kleinen Fenstern, deren Plazierung ohne jede Rücksicht auf die Sitze geschah; all diese Besonderheiten ihrer Beförderung werden, was Ruth etwas enttäuscht, gutgelaunt aufgenommen, und die fröhliche Gesellschaft zieht, obwohl sie sich bei ihrer Unterhaltung und ihrem Gelächter ziemlich dezent verhält, dennoch einige Aufmerksamkeit der anderen Passagiere auf sich.

Während ihre Station ausgerufen wird und die jungen Damen auf der Plattform stehen, erfüllen sich Ruths sehnlichste Hoffnungen, als sie den ungläubigen Ausdruck von Entsetzen erkennt, der sich auf den Gesichtern von Mabel und Polly abzeichnet, sobald der Bahnsteig von Pineland erscheint, und ist restlos zufrieden, als sie es fertig gebracht hat, dass diese beiden die Rückbank des Gefährts einnehmen und den quer gespannten Riemen vor sich haben. Dan, der Kutscher, lächelt Ruth leutselig an, als er ihr hinauf hilft.

»Dann ha'm Se also auf der Roten Farm gebucht, nich' wahr?« fragt er und lässt sich überhaupt nicht von dem hochnäsigen Blick stören, den Miss Gunther ihm zuwirft, die nichts Komisches und nur Unbequemes an ihrem Sitzplatz entdecken kann, deren Würde jedoch der Riemen gewiss beeinträchtigt.

»Ja, und ich hoffe, Sie werden uns so schnell wie möglich dorthin bringen,« versetzt Ruth, »denn es wird sehr warm. Jean, du und Barbara, ihr setzt euch bitte vor den Riemen, und ich werde anders herum Platz nehmen mit Blick auf euch alle.«

Dies wird ausgeführt, und die Kutsche fährt auf die glänzend weiße Straße.

Barbara lässt ihr kleines, leises Lachen erklingen:

»Unsere Klasse bildet eine ganz beachtliche Ladung, oder?«

»Wenn die Kutsche nur halb so beachtlich wäre wie die Ladung, wäre das ganz gut,« bemerkt Mabel, während Polly in beleidigtem Schweigen verharrt.

»Polly, in einer Stunde fährt ein Zug zurück nach Boston,« sagt Ruth. »Wir drehen um und bringen dich hin, wenn du willst.«

»Das tun wir natürlich nicht,« sagt Barbara beschwichtigend. »Wir könnten ohne Polly gar nicht auskommen, und wir werden so viel Spaß haben.«

»Oh, störe Ruth nicht,« bemerkt Polly, »für sie ist das der beste Teil dieses Spaßes, weißt du.«

Ruths Augen blinzeln, und sie singt leise:

»Weißt du, wer an diesem Ort
  Das süßeste Mädchen ist?
Das ist meine Polly, sie ist so drollig!
  Gott segne Dich! Bleib, wie Du bist!«

»Benehmt euch, Mädels!« befiehlt Jean herrisch. »Ruth, der Fahrer scheint ziemlich von dir angetan zu sein. Könntest du ihn dazu bringen, sich zu beeilen? Ich verspreche, es Mr. Bergh nicht weiter zu erzählen, wenn der Kutscher dem weißen Pferd ein wenig die Peitsche gibt. Das arme alte Pferd muss seinen Gefährten mit ziehen und die Kutsche noch dazu.«

Sobald die Straße aus der dicht besiedelten Stadt hinaus durch grüne Wiesen und unter sich wölbenden Weiden entlang führt und süße Düfte leicht die warme Luft durchziehen, werden die Geister der Sommergäste schnell wach.

»Übrigens, Mädels, wir haben vergessen, euch das Wichtigste überhaupt zu erzählen: Wir haben einen jungen Mann auf der Roten Farm getroffen.«

Während Ruth diese verblüffende Mitteilung macht, beobachtet sie deren Wirkung auf ihre Zuhörer. Pollys Stimmung ist noch zu argwöhnisch, um ein Interesse zuzugeben; aber Mabel ist ganz aufmerksam.

»Ist es möglich?« sagt sie. »Aber ich glaube, du scherzest, Ruth, und es war ein Verwandter von Miss Bounce.«

»Nein, wirklich nicht.«

»Zum Glück ist Ruths Tag fast vorbei,« sagt Jean, »denn wir haben unser Ziel erreicht, und ihr werdet bald genauso viel wissen wie sie.«

Währenddessen hat die holprige Kutsche die Lücke in der Steinmauer passiert und fährt den ansteigenden Weg hinauf zum Haus.

»Das ist ja viel hübscher, als du gesagt hast!« ruft Barbara. »Welch schöne Ulmen!«

Noch während Barbara dies sagt, bemerkt Jean, dass zwischen zwei Kastanienbäumen eine Hängematte aufgespannt ist und eine Dame, die darin liegt, sich vorsichtig erhebt, um das rumpelnde Gefährt zu betrachten, und dann erneut niedersinkt, während ihr prüfender Blick weiterhin durch die Maschen der Hängematte dringt.

»Ist das Miss Bounce?« erkundigt sich Mabel neugierig.

»Ruth, stell dir bitte vor, wie unsere Wirtin sich in einer Hängematte räkelt!« ruft Jean. »Das wird die Witwe sein.«

Als der Wagen auf dem Vorplatz hält, öffnet Miss Bounce die Vordertür und heißt die jungen Leute willkommen – das heißt, sie beabsichtigt, dies zu tun, sagt jedoch lediglich:

»Guten Morgen. Warum haben Sie nicht bis zum Nachmittag gewartet und sind die andere Strecke gekommen?«



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