Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
»Im Sommer, da die Tage waren lang.« Erste Zeile des Gedichts » Summer Days« von Wathen Marks Wilks Call (1817-90).
» Sind Sie sicher, dass Sie Ihre Meinung nicht ändern und mit uns kommen wollen, Miss Bounce?«
Der Heuwagen steht vor der Tür, und die Picknick-Gesellschaft ist bereit. Jean steht auf dem Hofplatz und knöpft ihre Handschuhe zu, während sie die Frage stellt.
Miss Bounce im Eingang schüttelt den Kopf.
»Mir reicht's, wenn ich Ihnen bei Ihrer Unternehmung helfen kann,« antwortet sie, »falls Sie mir das Vorrecht gestatten, zu Haus' zu blei'm. Jabe, hast du die Körbe so gestellt, dass die Sonne nicht d'rauf scheint?«
Und nicht zufrieden mit der Bestätigung von ihrer Sicherheit geht sie hinaus zum Fuhrwerk, steigt auf die Radnabe und prüft selbst deren sichere Position, während ihre grauen Locken im warmen Sommerwind wehen.
»Jabe, hol einen Stuhl,« lamentiert Mrs. Erwin, »es ist grauenhaft, da hinein zu kommen! Da ist mein Regenmantel: ich habe noch nie gepicknickt, wenn es nicht regnete.«
»Es tut mir leid, dass Sie sich so aufopfern um unteretwillen, Mrs. Erwin,« sagt Ruth.
»Nein, wirklich: ich würde um nichts in der Welt zu Hause bleiben ohne eine Seele, mit der man sprechen kann.«
Und die kleine Wittwe klettert in ihrem niedlichen schwarz-weißen Battist vorsichtig auf den Stuhl und von da in das Fuhrwerk.
Nach langer Beratung erklärte sie sich bereit, ihren sorgfältig gepflegten Teint in einem von Ruths ›Shakern‹ Siehe auch das im Folgenden von Ruth veranstaltete Wortspiel auf Mrs. Erwins Klage » dreadfully shaken«: » What else can you expect, … wearing a shaker for the first time?« zu versenken, in Anbetracht dessen, dass die Gesellschaft unmöglich jemanden treffen könne, dessen Urteil von Bedeutung wäre, und dass die Fahrt lang und sonnig sei; daher bildet das beladene Fuhrwerk einen eigentümlichen Anblick mit den frischen hübschen Sommertoiletten, gekrönt von von den ausladenden Hüten, die unentwegt herumtanzen.
»Wiedersehn, Miss Bounce,« ruft Ruth und winkt aufstehend mit der Hand, »es macht Spaß, soviel Lärm zu machen, wie man möchte.«
»Hurrah! Ganz genau!« schreit Jabe und zieht die Pferde an, die die los laufen und dabei ihre Köpfe schütteln und mit ihren Schwänze wedeln.
»Jabe, peitsch' die Gäule nich',« ist Miss Bounces Stimme beim verabschiedenden Kommando vernehmlich.
»Was ist das für ein seltsames Pferd?« fragt Ruth, die unmittelbar hinter dem Kutscher positioniert ist.
»Eins von der Farm. Sie hält drei davon auf 'r Weide; sie zieht nich' viel außer Heu hoch auf der Farm, und sie ha'm da 'ne faule Zeit. 'ch halt' nich' viel von Gäul'n, mehr von Maultieren.«
»Maultiere?«
»Ja. Sie benutzen nich' mehr viele davon in unserm Landkreis; los, lauf, Doll'! Oh, wir ha'm 'n braunes Maultier, das weiß mehr als die meisten Menschen. Verspielt is' 's! 'n verspielteres Maultier krie'n Sie in ihr'm Le'm nich' mehr zu sehn.«
»Hoffentlich nicht mit seinen Hufen,« lacht Ruth, die stets den Jungen zum Sprechen ermuntert.
»O, ganz und gar verspielt. Sie hätt'n 'ma' sehn soll'n, was er getan hat, als ich einmal fuhr. Wiss'n Se, 'ch war in Eile, weil: 'ch musst' zum Dokter. Meine Schwester Emma, sie hat dummes Zeug getrie'm, im Vorgarten an dem Morgen, war auf Bäume geklettert und so weiter, bis se schließlich 'runter fiel und sich das Schlüsselbein brach. Und da gibt's nu 'n Dokter in unserm Landkreis, der is' die Nummer eins bei Knochen, so wurd' ich zu ihm geschickt mit doppelter Geschwindigkeit. Also ich hatte Bub vorgespannt, – er heißt ei'ntlich Beelzebub, aber wir nenn'n ihn alle Bub, weil's kürzer is' – ich fuhr mit ihm grad' so schnell ich konnte, als w'r mit 'ner Schafherde auf der Straße zusamm'rasselt'n.«
Zu diesem Zeitpunkt hat Jabe die Aufmerksamkeit der gesamten Gesellschaft auf sich gezogen, da er seine Stimme erhoben hat, um über das Scheppern des ungefederten alten Fuhrwerks gehört zu werden.
»Jedes Schaf in dieser Herde war weiß, außer ei'm, und das war so schwarz wie Ihr Hut. Nu, was glau'm Se, hat das verspielte Maultier getan? Es macht' sich die Mühe, auf 'n Straßenrand zu gehn und dem schwarzen Schaf da 'n Stoß zu ge'm.«
Das Gelächter, das auf diesen Beweis von Bubs Humor folgt, verwandelt sich in einen Schrei, weil Jabe, im Freudenrausch des erfolgreichen Geschichtenerzählers, den Pferden ihren eigenen Weg zu gehen erlaubt hat – mit der Folge, dass eines der Räder auf einen Baumstumpf aufgelaufen ist, während das Fuhrwerk abgleitet und regelrecht umzukippen droht.
Nach Abwendung der Katastrophe richtet sich die Picknickgesellschaft wieder ein, und Mrs. Erwin versichert, dass sie »fürchterlich durchgeschüttelt« ist.
»Was sonst können Sie erwarten, Mrs. Erwin, wenn Sie zum ersten Mal einen ›Shaker‹ tragen?« fragt Ruth mitleidlos, die keine Nerven hat und folglich die Aufregung nur genießt.
Mrs. Erwin findet ein wenig Erleichterung, ihr Missvergnügen indirekt heraus zu lassen, indem sie an Nettie herumnörgelt, dass sie zu laut spreche, dass sie einen Buckel mache, dass sie lache und wegen verschiedener ähnlicher Vergehen: das sanfte Verhalten ihrer Nichte hat sie mutig gemacht.
Nettie schaut zu Jean hinüber, um von ihr Mitgefühl und Unterstützung zu bekommen, aber Jean scheint sich keiner Schwierigkeit bewusst, und das Mädchen muss sich auf die Lippen beißen und ohne fremde Hilfe Frieden halten; und sie tut dies mit Erfolg, bis sie durch die Ankunft am Platz von jenen kleinen Verfolgungen befreit ist.
»Keine Ahnung, wie 's Ihnen gefällt, aber das is' die Stelle,« bemerkt Jabe, indem er ins Gehölz auf einen Pfad einbiegt, der die Gesellschaft zu einer grasigen Lichtung am Ufer des Flusses bringt; dieser ist hier geschäftiger und weist mehr kleine Wasserfälle auf als an jener Stelle, die Jean und Ruth bereits erforscht haben.
»Ob sie uns gefällt? Natürlich mögen wir sie. Das ist ein idealer Picknickplatz!« ruft Jean. »Komm, Barbara, ich sehe den richtigen Fleck, den du und ich in Beschlag nehmen werden,« und sie hilft ihrer Freundin vom Fuhrwerk herunter und führt sie zu einer moosigen Neigung unter einem der edlen Bäume.
»Zuerst das Luftkissen,« fährt sie fort, nimmt es aus der Tasche an ihrem Arm und plaziert es nahe den Baumwurzeln; »dann dieser Schal, der darüber kommt – so; dann Barbara Waite, die sich auf ihm niederlässt – so – und diesen dünnen Schal um sich breitet – so;« und Jean schleudert die Haube ihrer Freundin und ihre eigne fort ins Gras, während sie neben Barbara niedersinkt.
Ruth hat Jean nicht von ihrer Unterhaltung mit Barbara berichtet, und jetzt, als sie auf das Paar schaut, weiß sie, dass sie klug gehandelt hat. Es ist besser, dass Jean nichts von Barbaras Wissen um ihren heiklen Zustand erfährt. So fühlt sie sich um so freier und hoffnungsvoller in ihrer Fürsorge für sie.
»Ich wünschte, wir hätten alle Kissen,« sagt Mrs. Erwin. »Jeder möchte gern schlafen, nachdem er eine halbe Stunde lang in diesem Fuhrwerk auf und ab geschleudert worden ist. Bring mir die Decke da, Nettie, und ich werde ein Kissen daraus improvisieren.«
»Dann versprich, dass du auch schlafen gehst. Nur unter dieser Bedingung will ich sie dir lassen, denn ich wollte sie gerade für Miss Ruth und mich ausbreiten, um darauf zu sitzen.«
»Dann behalt sie!« versetzt ihre Tante.
»Danke! Das werde ich. Ich werde einen Zauberteppich daraus machen, und wir werden ihn auf türkische Weise benutzen. Komm, Tante Inez, es ist Platz genug auch für dich!« und Mrs. Erwin, unfähig etwas Besseres zu finden, geht ziemlich ungnädig darauf ein.
»Wenn dies ein Zauberteppich wäre, wohin würdest du damit fliegen?« fragt Ruth, ihren Platz einnehmend. »Ich bin ganz froh, dass es keiner ist. Dieses Gehölz ist im Augenblick hinreichend für mein Glück. Jabe, du hast die Körbe in der Sonne gelassen.«
»Ich werd' nach ihnen schau'n. Ich konnt' noch nie mehr als zwei Sach'n zugleich mach'n,« erwidert Jabe gutmütig.
Mrs. Erwin sagt nachdenklich: »Es gibt eine ganze Menge Orte, die ich besuchen würde, wenn ich durch die Luft befördert werden könnte.«
»Oh, würden wir dabei nicht komisch aussehen?« unterbricht Nettie sie und klaubt die Enden der Rob-Roy-Decke Robert Roy MacGregor, auch bekannt unter dem Namen Rob Roy, war ein schottischer Volksheld und Geächteter des frühen 18. Jh. Walter Scott hat über ihn den gleichnamigen Roman (1817) geschrieben. – Die Decke im Roman hat also das bekannte Schottenmuster. zusammen.
»Es waren mal drei junge Frauen,
Die flogen hoch über die Auen.
Auch die Vögel war'n platt,
Doch sie hatten's bald satt:
Und bek… die Hüte der Frauen.«
»Siehe da! die große amerikanische Narrenkäpplerin!« ruft Ruth und tippt ihr auf die Schulter. »Du solltest ein Unsinnsbuch schreiben.«
»Das sollte sie tatsächlich!« stimmt Mrs. Erwin mit Schärfe zu. »Das habe ich schon oft gedacht.«
»Liebste Tante Inez, ich unterbrach dich: vergib mir; aber ich wusste schon, was du sagen wolltest. Du würdest zuerst zum – Krankenhaus fliegen, durch die erfreulichste Station streifen und dein Bedauern aussprechen, dass eine dringende Verabredung dich davon abhielte, zu bleiben und den Patienten vorzulesen.«
Mrs. Erwins beleidigter Gesichtsausdruck erinnert Nettie schlagartig daran, dass sie gerade das neue Blatt verunstaltet, das sie nur drei Abende zuvor der holden Jean zuliebe umgeschlagen hat, und sie schaut rasch auf ihr Idol, bereit, falls sie einen warnenden Blick empfängt, ihr Vergnügen hintan zu stellen; aber kein solcher Blick erscheint. Miss Ivory muss jedes Wort, das fiel, gehört haben, aber ihre großen verträumten Augen ruhen gleichgültig auf dem wirbelnd-strudelnden Strom. Offenbar ist Jean entschlossen, kein Band zwischen ihr und der mutwilligen Sprecherin zuzulassen.
Nettie stellt sich vor, die Gedanken ihres Idols zu lesen, und findet in ihnen Verachtung für sich.
»Sie wird sich nicht um mich kümmern. Dann soll sie wütend auf mich werden,« beschließt sie.
»Wie dankbar bin ich, dass deine Mutter nicht weiß, welch eine Prüfung du für mich darstellst mit deiner Impertinenz,« sagt Mrs. Erwin.
»Pah! Hast du nicht gerade an das Krankenhaus gedacht? Gib's ruhig zu.«
»Gewiss habe ich das,« antworte Mrs. Erwin mit Würde, unfähig Frieden zu halten und ihre beschwerliche Nicht zu ignorieren. »Du weißt ganz genau, wie zugetan ich –«
»Ja, dann komm' ich jetzt zu ihm,« fügt Nettie rücksichtslos hinzu. »Ich wollte gerade sagen, dass du, wenn du durch deine Station gewandelt wärst, sofort zu Mr. Dart's Büro weiterlaufen und ihm erzählen würdest, dass du den ganzen Vormittag im Krankenhaus gewesen wärst. Kenneth, würdest du sagen – und du ssagst ›Kenneth‹ sso ssüß!«
Nettie spricht, ihre Augen auf Jeans Gesicht gerichtet, ohne Rücksicht auf die Farbe des Zorns, die in dem ihrer Tante brennt, bereit, sobald sie einen überraschten Blick empfängt, einzuhalten; aber zu ihrer Demütigung spricht Jean Barbara mit einem Lächeln an, richtet deren Schal neu und schaut zurück auf den Fluss. Plötzlich unterbricht eine Erscheinung am Ufer, zwischen ihr und dem Wasser, ihre Vision und den Faden von Netties Rede.
»Da ist er, Tante Inez! Jetzt sag schon!« ruft sie, springt von dem Zauberteppich auf und blickt auf den Fremden, während Schuldbewusstsein sie hindert, zu ihm hinzufliegen.
Es ist ein großer Mann mit kurzgeschnittenem Haar und einem dichten blonden Schnurrbart. Ein breiter Hut ist in seinen Nacken geschoben, so er steht da, ohne Kragen, die Hose in seine Stiefel gestopft, die Angelrute über der Schulter, und mustert überrascht die Gruppe, die der unerwartete grasige Raum im Gehölz ihm entdeckt.
Mrs. Erwin springt auf, wirft die verhasste Haube ab und gibt ihrem Haar diverse sorgsame Klapse und versucht es über ihre Stirn herunter zu ziehen.
»Deine Perücke ist verrutscht,« bemerkt Nettie tröstlich.
Die Witwe errötet womöglich noch mehr, lässt den Finger über den Scheitel ihrer hübschen Locken gleiten, um die Unrichtigkeit dieser Feststellung zu prüfen, und geht dann auf den Fremden zu, der seinen Hut abnimmt und in den Baumschatten vortritt.
»Kenneth, du böser Junge!« ruft sie. »Du hältst dich an diesem Ort auf, ohne es mich wissen zu lassen?« Und indem sie ihre Hand in seine legt, nähert sie sich ihrem ›seh' lieben Freund‹, mehr als die Situation es eigentlich zulässt, und schaut hinauf in sein Gesicht wie ein betrübtes Kind.
Die Gruppe ist ein Modell für angehende Maler.
Barbara richtet sich halb auf und betrachtet die Figuren im Mittelpunkt. Jean, bleicher und verschlossener als je, hebt nach dem ersten Anblick nicht ihre Augen, legt jedoch ihre Hand zurückhaltend auf Barbaras Schulter, als wolle sie sie verhindern, dass sie sich aus ihrer bequemen Lage erhebe.
Mable und Polly schauen von ihrem etwas entfernteren Platz drein, als ob ein unbezahlbarer Goldklumpen aus den Wolken mitten unter sie gefallen sei, und halten in der Arbeit an ihren Eichenkränzen ein, um verstohlene Blicke auf den Neuankömmling zu werfen.
Ruth, mit geröteten Lippen und rosigem Gesicht, macht kein Geheimnis daraus, wie sie, erstaunt über die Enthüllung der Identität ihrer Angler-Bekanntschaft, mit offenem Mund diese anstarrt, und Nettie folgt nach einem Augenblick von Unentschlossenheit ihrer Tante.
»Wie geht es dir, Kleine?« sagt der Fremde, zum ersten Mal lächelnd, als er seine Hand zu Nettie ausstreckt, nachdem er sie vom Griff der Witwe zu diesem Zweck befreit hat. »Hat dich die Landluft nachdenklich gemacht, oder freust du dich nicht, mich zu sehen?«
»Kein Wunder, dass sie nachdenklich ist! Du hast nicht so rasch mit Mr. Darts Erscheinen gerechnet, nicht wahr? Was ich mit ihrer Impertinenz durchmache, Kenneth, würde ein ganzes Buch füllen.«
»Ich werde ihm erzählen, was ich gesagt habe, um dich zu beleidigen; dann mag er selbst urteilen, wie böse ich gewesen bin,« schlägt Nettie vor.
»Du wirst nichts dergleichen tun!« ruft eilig die erzürnte Mrs. Erwin.
Kenneth Darts hübsches Gesicht bewölkt sich wie von einem stets wiederkehrenden Ärgernis.
»Nun, ich werde dann meinen gewundenen Weg weiter verfolgen; wir sehen uns,« sagt er.
»Auf keinen Fall! Warum hast du meine Frage nicht beantwortet? Wie konntest du so grausam sein, mich nicht von deiner Anwesenheit wissen zu lassen?«
»Was hätte es mir denn gebracht? Miss Bounce hält einen abgerichteten Tiger, wie ich verstanden habe, um unerwünschte Besucher zu verschlingen. Hast du schon den Tag vergessen, an dem du ankamst, wo sie mich so gräulich anpfiff und mir nicht erlauben wollte, mit dir auf die Farm zu gehen?«
»O, sie würde nicht immer so unhöflich sein. Miss Ivory glaubt – O, verzeihen Sie mir, Miss Ivory, gestatten Sie mir, meinen seh' – meinen Freund, Mr. Dart, vorzustellen.«
Ruth beobachtet die Vorstellung. Wird Jean ihr überhebliches Verhalten, mit dem sie vor einigen Tagen begonnen hat, aufrecht erhalten? Nein; anscheinend ist die Einhaltung gesellschaftlicher Formen alles, wonach sie im Augenblick verlangt, und ihre Wiederbegegnung mit dem Angler verläuft hinreichend gnädig.
Einmal begonnen, stellt Mrs. Erwin ihren Freund jedem Einzelnen der Gesellschaft vor und ist überrascht, als sie bei Ruth ankommt, wie Mr. Darts formeller Verbeugung ein fragender Blick folgt, der von einem offenen Lächeln auf seiten Miss Exeters beantwortet wird, gefolgt wiederum von einem herzlichen Händeschütteln.
»Meine Güte, habe ich alte Freunde einander vorgestellt? Dauernd passiert mir das!« sagt Mrs. Erwin und schlägt die Hände zusammen; sie wirkt seit der Ankunft des Gentleman spürbar verjüngt.
»Alte Freunde eigentlich nicht, aber gute Freunde, hoffe ich,« antwortet er.
»Gewiss, Mr. Dart,« versichert Ruth. »O, der Luxus, das Wort ›Mister‹ auszusprechen! Sie wollen uns dessen doch hoffentlich nicht sofort berauben?«
»Natürlich nicht, Kenneth, bleib!« bittet Mrs. Erwin ziemlich zaghaft, weil sie nicht sicher ist, ob sie unter den gegebenen Umständen wirklich möchte, dass er es tut.
Mr. Dart wendet langsam seinen Blick auf Jean. Die junge Dame spricht mit ihrer Freundin und fügt ihrerseits keine Einladung hinzu. Vielleicht ist es dies, was zu seiner Entscheidung führt.
Er zieht den Riemen seines Korbes über die Schulter.
»Ich habe eine Verabredung mit einer Forelle weiter unten am Fluss,« sagt er mit einem Lächeln und einer halben Verbeugung, »und kann mir nicht vorstellen, sie nicht einzuhalten.«
»Pah, Kenneth!« ruft die kleine Witwe, »du hast schon genug Fische in dem Korb. Ich kann sie riechen – ekelhafte Dinger – uh!«
»Hab' 'ch mir gedacht, dass Sie heute draußen wär'n,« spricht Jabe, sich dem Fremden nähernd, den er die ganze Zeit schon beäugt hat. »Konnt' mir nich' vorstell'n, dass Sie hier vorbeikomm', sons' hätt' 'ch die nich' hierher gebracht,« und sein Daumen weist über die Schulter zu den Damen. »Hab' im Haus kein Wort von Ihn'n erzählt, seit Sie mir gesagt ha'm, ich sollt's nich',« fährt der Junge fort, ohne Rücksicht auf das ausdrucksvolle Stirnrunzeln, das sich auf ihn richtet. »Miss Bounce – sie hat mir 'n paar Fragen gestellt, aber ich hab' buntes Zeug gequatscht,« und Jabe gratuliert sich selbst mit einem Nicken. »Ich weiß, Sie …«
»Was hältst Du von denen, Jabe,« unterbricht ihn der Angler und öffnet den Deckel seines Korbes.
»Halloh! drei Stück – echte Schönheiten!« ruft Jabe und holt einen Fisch heraus. »Das is' aber hübsch jetz'! Miss Avery, die mag Fisch. Woll'n Se nich' helfen, die zu essen, Miss Avery?« und hält ihr den Fisch hin.
Jean hebt ihre schwarzen Brauen, lächelt und nickt.
»Ich meine, du solltest sie jetzt in Ruhe lassen, Kenneth,« beteuert Mrs. Erwin.
»Falls Sie ein so feuchtes und unbehagliches Geschenk annehmen wollen, Miss Ivory, wäre es mir mir gewiss eine Ehre.«
»Ich wäre nicht in der Lage, den Fisch von seinem Besitzer zu trennen,« erwidert Jean, der die doppelte Bedeutung, die ihren Worten anhaftet, nicht bewusst ist – sie ist nur darauf aus, sich diesem Mann gegenüber so zu verhalten, als hätte sie ihn nie zuvor gesehen.
»Oh, oh! Miss Ivo'y!« ruft Mrs. Erwin und spreizt ihren Fächer vor ihrem Gesicht. »Kenneth, sie möchte den Fisch nicht nehmen, ohne …«
»Dann werden Sie mir erlauben, ihn mit Ihnen zu speisen? Ich danke Ihnen,« sagt der Angler, legt seine Angelrute nieder, zieht sich den Riemen des Korbes über den Kopf und lässt seine Bürde neben dem Baum sinken.
»Jabe, kannst du diese Fische kochen?«
»Oh, klar kann ich das, 'türlich!«
»Gut, da liegen sie. Mein Kostümierung,« und er schaut hinunter auf seine hohen Stiefel, »ist passend für ein Picknick; aber mit Ihrer Erlaubnis kann ich ihr ein bisschen mehr Schliff geben«, und damit greift er in eine Tasche seiner blauen Wolljacke, holt einen Kragen und eine Krawatte hervor, womit er sich sodann bedächtig ausstaffiert. »Miss Ivory, Sie haben keine Ahnung, welch ein verzagtes Gefühl mich überkam, als ich Sie vollständig erkannte und mich daran erinnerte, dass mein Kragen in meiner Tasche steckte. Samsons Empfindung, als er sich selbst geschoren wiederfand Anspielung auf die altestamentliche Geschichte von Samson und Delila. Das ›Buch der Richter‹ erzählt, dass Delila von den Philistern bestochen wurde, dem als unbezwingbar geltenden Samson das Geheimnis seiner Stärke zu entlocken, die in seinen Haaren liegt. Als ihr dies gelang, lieferte sie Samson seinen Feinden aus, die ihn gefangen nahmen, ihm die Haare abschnitten, ihn blendeten und ihn damit kampfunfähig machten., muss von dieser Art gewesen sein; aber nun,« fügt er, seinen Kragen zuknöpfend, hinzu, »fühle ich, wie meine Stärke zurückkehrt. Nettie, komm her und binde mir die Krawatte um.« Das Mädchen gehorcht. »Und nun bin ich wieder ich selbst. Falls eine der Damen gern einen Baum oder zwei ausgerissen haben möchte, würde es mich glücklich machen, diesem Wunsch zu entsprechen. Miss Waite, ich bedaure, dass ich Sie gestört habe,« sagt er, als Barbara sich aus ihrer liegenden Position erhebt.
»Es sollte Sie vielmehr sehr freuen,« antwortet das Mädchen lächelnd; »ich brauchte etwas, das mich stört. Haben Sie eine Ahnung, wie faul die Rote Farm Leute machen kann, Mr. Dart?«
»Ich kann es mir vorstellen. Was hast du so getrieben, Inez?«
»Genau das, was ich erwartet habe, als ich hierher kam: ein bisschen genäht, ein bisschen gelesen, …«
»Und ganz viel geschlafen,« ergänzt Nettie.
»Und ganz viel Heimweh gehabt,« sagt die Witwe zum Schluss mit einem Seufzer zum Ausdruck ihres langen Leidens.
»Es war auf jeden Fall sehr gut, dass du hierher gekommen bist; aber mit so vielen jungen Damen kann es doch keinen Grund gegeben haben, dich nicht zu vergnügen. Ich nehme an, deine Langeweile rührt von der Tatsache, dass Sie allesamt Damen sind.«
»Das sind wir; aber gelangweilt sind wir keineswegs,« versetzt Mabel keck. »Ich denke, wir haben eine prächtige Zeit hier, stimmt's, Jean?«
»Ja. Wenn es nicht eine Schattenseite gäbe, wäre meine Zufriedenheit vollkommen.«
Der junge Mann, in voller Länge im Grass ausgestreckt, fragt sich in wildem Verlangen, was wohl diese Schattenseite sein möge.
»Ich bin ja nur froh, dass ich Mrs. Erwin und Nettie nicht auf dem Gewissen habe,« bemerkt Ruth kopfschüttelnd. »Ich habe den Rest dieser Unglücklichen durch Betrug dazu gebracht, hierher zu kommen, und jedesmal, wenn eine von ihnen etwas trübsinnig dreinschaut, empfinde ich das als persönlichen Vorwurf.«
»Dann freue ich mich um Ihretwillen, dass Sie sich nicht so abschreckend benehmen wie Nettie,« sagt Kenneth freundlich, während er die Hand dieses Mädchens streichelt.
»Lass das!« sagt sie ungeduldig und stößt seine Hand fort.
»Komm mit,« sagt er kurz, aber nicht unfreundlich, erhebt sich vom Boden und schlägt mit dem Taschentuch auf seinen Ärmel.
Nettie steht mit sehr trotzigem Gesicht ebenfalls auf.
»Wo ist dein Hut?«
Das Mädchen hebt ihren Sonnenhut auf.
»Du glaubst, ich könnte mit einer jungen Dame spazieren gehen, die so ein Ding trägt?«
»Das musst du, wenn du mit mir gehen willst.«
»Oh, nein, da opfere ich mich lieber selbst,« entgegnet Kenneth, setzt sich den Strohhut auf seinen eigenen Kopf und seinen schlackernden Hut auf Netties, die unwillkürlich lacht.
»Wenn Sie Nettie und mich bitte entschuldigen, ich denke, ein kurzer Spaziergang wird ihre Gesundheit und ihr Glück fördern,« sagt Mr. Dart; dann geht er fort neben seiner Begleitung unter den Bäumen; das Karotuch seines Kopfputzes hängt ihm über die breiten Schultern.
»Also, das ist der lässigste Mann, dem ich je begegnet bin,« lacht Ruth; »man sollte meinen, dass er uns schon sein ganzes Leben lang kennt.«
»Die arme Miss Nettie! Ich fürchte, sie wird eine Lektion erhalten,« sagt Jean.
»Ein Lektion! Mr. Dart erteilt niemals jemandem eine Lektion oder einen Verweis,« erklärt Mrs. Erwin.
»Nein?« Jean dehnt die Frage mit einem Unterton, der sie selbst auf eigentümliche Weise tröstet, aber für jeden anderen unverständlich bleibt.
Inzwischen hat Mr. Dart seine wunden Ohren von dem Sonnenhut befreit.
»Was ist los, Kleine? Pack aus!« sagt er, sobald sie außer Hörweite sind, bereut jedoch sofort seine Frage, denn das Kind bricht unkontrolliert in Tränen aus, läuft blind drauf los, bis sie mit ihrem Fuß an eine Baumwurzel stößt und gefallen wäre, wenn sein Arm sie nicht aufgefangen hätte.
»Lass es gut sein mit dem Weiterlaufen, wir wollen uns niedersetzen,« was sie auch am Fuß einer alten Eiche tun, wobei Netties breiter Hut hinten gegen den Baumstamm gedrückt wird und vorn über ihr verheultes Gesicht.
»Sollen wir die Tränen jetzt mal abwischen?« fragt Mr. Dart sie gleichwohl sanft neckend, als Nettie in ihre Tasche greift und kein Tuch findet. »Hier,« sagt er und drückt ihr sein seidenes Taschentuch in die Hand.
»O, Kenneth, wie gut du bist!« ruft sie, energisch ihre Augen wischend. »Du bist die einzige Person auf der Welt, die sich einen Deut um mich kümmert.«
Mr. Dart lehnt seinen großen blonden Kopf gegen den Teil des Baumes, der nicht von dem Hut eingenommen ist, zieht an seinem Schnurrbart und antwortet nicht. Was das Mädchen sagt, ist so wahr, dass Worte es nur verschlimmern können.
»Es ist so schwer für mich einzusehen, dass du nicht mit mir verwandt bist, sondern Tante Inez; und doch bist du irgendwie mein Bruder, oder? Dein Vater war der Mann meiner Mutter, und meine Mutter die Frau deines Vaters.«
»Ein Art von Stief-Schwieger-Nachbar,« schlägt Kenneth vor.
»Wenn Du nur nicht so viel älter wärst als ich! Wie alt ist Tante Inez, Kenneth?«
Der Gentleman macht eine entsetzte Gebärde und zieht geheimnisvoll die Brauen zusammen. »Mein Kind, woher soll ich das wissen?«
Nettie seufzt tief auf. »O, ich bin so erschöpft,« sagt sie überflüssigerweise.
»Wieso? War die Tante anstrengender als gewöhnlich?
»Nein, genau wie immer.«
»Was dann? Warst du ungezogen, und macht dein Gewissen dir Vorwürfe?«
»Das war ich, – o, sie würde es ›schlecht erzogen‹ nennen, glaube ich; aber das kümmert mich eigentlich nicht, es ist – Kenneth, warst du schon mal verliebt?«
Mr. Dart lächelt breit bei dieser unerwarteten Frage.
»Ist das nicht vielleicht eine ziemlich frühreife Frage für eine Person deines zarten Alters?«
»Nein, weil ich selbst betroffen bin.«
»Wovon? Von Liebe?«
»Ja, und was mich so unglücklich macht, ist, dass meine Liebe nicht erwidert wird.«
Kenneth schaut in missvergnügtem, ungläubigen Erstaunen auf dieses glatte Gesicht unter dem breiten Hut. Die geschwollenen Augen erwidern seinen Blick mitleiderregend.
»Und das Schlimmste daran ist: wenn ich sie hasse, dann erwidert sie meinen Hass nicht.«
Netties Begleiter bricht in ein herzliches Gelächter aus.
»Wer ist die hartherzige Halunkin?« fragt er.
»Ach, Miss Ivory natürlich,« entgegnet das Mädchen mit einer erhabenen Ignoranz gegenüber jeder anderen weiblichen Person.
»Und kann man nichts tun in einem so verzweifelten Fall?« erkundigt sich Mr. Dart mit launischem Grinsen. »Es müssten sich doch Mittel und Wege finden lassen, sie umzustimmen.«
»Aber du warst niemals in Miss Ivory verliebt,« erwidert Nettie in prägnanter Hoffnungslosigkeit.
»Ich bin froh, mit so etwas abgeschlossen zu haben; aber falls ich in sie verliebt wäre,« und dabei verschlingt der junge Mann seine Hände hinter dem Kopf und lehnt sich zurück, bis er auf dem Gras ruht, »dann kann ich mir nicht vorstellen, dass es mein Ziel wäre, dass sie mich hasst.«
»Doch, das wäre es. Es wäre dir lieber, sie hasste dich, als dass sie völlig gleichgültig wäre. O, ich kann ihre Gleichgültigkeit nicht ertragen.«
»Wer ist diese Miss Waite, der Miss Ivory so zugetan zu sein scheint?« fragt Kenneth, über Netties Kummer mit sträflicher Leichtigkeit hinweg gleitend.
»Sie ist eine alte Schulkameradin von ihr, und Miss Jean liebst sie ebenso sehr wie …«
»Sie dich nicht liebt?« schlägt ihr Gesprächspartner vor.
»Ja; und sie ist ja auch sehr lieb, aber sehr zart, und Miss Ivory wacht Tag und Nacht über sie und sorgt dafür, dass sie viel draußen ist, damit sie stärker wird. Was halten Sie von ihrem Aussehen, Dr. Dart?« sagt Nettie und beugt sich mit einem kleinen ansteckenden Kichern vor.
Mr. Dart schüttelt den Kopf.
»Ich bin fast ganz aus der Übung, die Symptome der Menschen aus ihren Gesichtern abzulesen.«
»Wann wird der alte Job abgeschlossen sein, damit du wieder frei wirst, um kleine Pillen für große Leiden zu verschreiben?
»Das weiß allein die Zukunft. Vielleicht werde ich zu der Zeit, wo ich davon befreit bin, mich Erbschaftsangelegenheiten zu widmen, schon zu alt sein, mir einen Namen in meinem Beruf zu machen.«
»Das macht nichts, solange du ein hübsches Haus hast und ich es für dich führen kann. Du hast doch nicht vergessen, dass ich deine angehende Haushälterin bin? Aber oh, Kenneth, was sollen wir mit Tante Inez anstellen?«
»Mit ihr? Ich glaube kaum, dass sie erwartet, dass wir etwas mit ihr anstellen. Warte, bis du noch einige Jahre auf der Schule gewesen bist, dann werden wir über die Zukunft sprechen.«
»Aber ich soll nicht mehr zur Schule gehen, sagt Tante Inez.«
»Tante Inez ist eine …« fängt der Gentlemen wüthend an, beendet den Satz dann aber vorsichtiger – »ist nicht sehr klug in manchen Angelegenheiten.«
»Sie hat mir erzählt, dass sie mit Miss Ivory darüber gesprochen hat,« fährt Nettie fort, eine Piniennadel kauend.
»Und wie lautete der Rat dieser wundervollen jungen Dame?«
»Was für eine Frage,« sagt Nettie und schüttelt mitleidig ihren Kopf über das Unwissen ihres Begleiters.
»Das war ziemlich dumm; ich geb's zu. Sie kann nur eines gesagt haben – Mädchen von sechzehn Jahren sollten noch nicht die Schule verlassen.«
»Oh, das meine ich nicht. Ich meine deinen Gedanken, dass Miss Ivory ›geruhen‹ würde, sich mit Tante Inez zu beraten, besonders um meinetwillen. Falls Miss Ivory sagen würde, es wäre das Beste,« fährt das Mädchen ungestüm fort, »dann würde ich auf ewig zur Schule gehen. Aber darin,« sagt sie mit erregter Gebärde, »darin erkennt man Miss Ivorys ganze Haltung zu uns: sie duldet Tante Inez – mich ignoriert sie. Sie sieht immer zu, dass sie von Tante Inez so schnell wie sie kann, ohne unhöflich zu werden, los kommt. Aber meine Anwesenheit nimmt sie gar nicht erst wahr. Jedenfalls,« fährt Nettie nach einer Pause fort, »ich hab' keine Lust mehr auf Schule. Ich bin's leid. Ich werde nächsten Winter abgehen. Tante Inez sagt, sie will mich ›chape'onieren‹ Das französische bzw. englische Wort » chaperone« bezeichnet eine Anstandsdame, die junge Mädchen zu ihrem Schutz begleitet; das Verb dazu in der entsprechenden Bedeutung. Eine eingedeutschte Form ist bis heutig im Gebrauch., wenn ich ein ›seh'‹ liebes Mädchen bin.«
Die gelungene Nachahmung von Mrs. Erwins Marotte scheint Kenneth Dart nicht zu amüsieren.
»Wie alt bist du – genau?« fragt er abrupt.
»Sechzehn, nächsten Oktober.«
»Dacht' ich mir's doch. Wir werden jetzt zurück gehen,« sagt er und, wie um das Thema zu wechseln, setzt er hinzu: »Es muss bereits Mittag sein, und meine Vernunft ruft nach diesen Fischen.«
Nettie hebt fragend ihre Augen.
»Hilf mir auf,« sagt sie, ihm ihre vierschrötige kleine Hand bietend.
Kenneth gehorcht.
»Deine Gunst bin ich also auch los. Oh je!« sagt sie, neben ihm her laufend.
»Warum sagst du nichts?« fragt sie nach einer langen Schweigeminute.
»Ich fürchte, du würdest mich nicht verstehen.«
»Wieso nicht? Das habe ich doch immer gekonnt!«
»Ich weiß; aber ich war der Meinung, dass dein gesunder Menschenverstand aussetzen könnte.«
»Weil ich das wegen der Schule gesagt habe? Also,« sagt sie nach einem langen Seufzer, »ich nehme an, ich muss dahin zurück. Es würde Tante Inez mehr als dir missfallen.«
»Du armes Kind!«
Nettie schaut unvermittelt auf, aber das ernste Gesicht verrät keinen Sarkasmus.
»Es tut mit leid: ich kann nicht mehr für dich tun.«
»Wieso? Du tust ja schon alles für mich … alles, Kenneth,« und das Mädchen schlingt ihr Hand um den Arm ihres Begleiters und drückt ihn voller Zuneigung.
Mr. Dart lächelt verhalten. »Konkurriere ich mit Miss Ivory in deinen Gefühlen?«
»Du kommst immer zuerst – immer; aber ich bin noch nie so behandelt worden, wie sie mich behandelt. Weißt du, die Leute haben mich immer für – na ja: schlau gehalten,« vollendet Nettie etwas schüchtern ihren Satz.
Ihr Begleiter nickt.
»Und sie hält mich wohl für schockierend, falls sie mich überhaupt für irgend etwas hält. Sie meint, ich sei ›schlecht erzogen‹. Ich hab' gehört, wie Miss Exeter so was sagte.«
Kenneth murmelt sich etwas in den Bart und runzelt die Stirn, während das junge Mädchen ihren Hut an den Seiten herunterzieht und unter dessen Krempe hervorlugt, um die Wirkung ihrer Worte zu erleben.
»Und Miss Ivory selbst tut nie etwas Dummes oder Ungezogenes oder Überschwängliches oder – Unkluges, – niemals,« fährt sie fort.
»Gückliche Miss Ivory!« stößt Kenneth aus, wobei das Stirnrunzeln von einem Lächeln verdrängt wird.
»Und also kann niemand einen Fehler an ihr finden.«
»Es gehört schon bedenkliche Kühnheit dazu, einen Fehler an ihr finden zu wollen. Recht haben Sie, Miss Dart.«
»Wieso? Was weißt du darüber?«
»Äußerst wenig; aber ich könnte mir vorstellen, dass sie so etwas bitter übel nehmen würde. Schon ihre Augen: zu welch vernichtenden Blicken sind Augen von dieser Farbe fähig,« entgegnet der junge Mann eingedenk des unerwarteten Zusammentreffens am Flussufer, wo er einen solchen Blick aus braunen Augen empfing, unter den Tiefen eines Hutes wie der, welcher jetzt an seiner Hand schwingt. »Und wird deine Meinung von der Vollkommenheit dieser jungen Dame von den anderen Mitgliedern des Haushalts geteilt?«
»O, ja. Sie ist sehr reich, weißt du – natürlich weißt du es nicht, aber sie ist es, sehr – und sie ist sehr großzügig und tut viel Gutes mit ihrem Geld.«
»Ah, eine Philanthropin. Ja?«
»Nun, worüber grinst du so? Glaubst du es nicht? Sie hat gerade Miss Bounces Schwester geholfen und ihr Geld und Sachen gegeben. Sie ist so schön impulsiv.«
»Das hab' ich, glaube ich, in ihrem Gesicht gesehen,« sagt Mr. Dart mit demselben amüsierten Lächeln.
»Also, sie mögen sie; ein paar von ihnen wegen des Geldes, und weil sie elegant ist und all das; aber ich liebe sie, weil sie sie selbst ist, und das tun Miss Exeter und Miss Waite genauso.«
»Dann hat die Erbin am Ende drei Liebhaberinnen,« sagt Mr. Dart. »Macht nichts, Kleine, geh wieder auf die Schule, wenn die Zeit kommt, und wenn du dann als junge Dame heraus kommst, kann du nachschauen, ob Miss Ivory dich vielleicht besser leiden kann.«
»Das arme kleine Ding,« denkt er, »was gäbe ich nicht, wenn ich nur wüsste, was ich noch für sie tun könnte,« und zum hundertsten Mal stöhnt er im Geiste über die Verantwortung, die sich gleichgültig ganz auf seinen Schultern niedergelassen hat, über die Vormundschaft für dieses seltsame, launische Mädchen. »Wenn Inez nur eine andere Frau wäre!«
Der unausgesprochene Wunsch wird unterbrochen von der vertrauten Stimme der Witwe.
»Da seid ihr ja. Der Fisch ist fertig, und wir warten nur auf euch.«
»Dann braucht ihr keinen Augenblick mehr zu zögern, ich bin ganz und gar bereit. Was für eine hübsche Festtafel! Ich habe keine gesehen, seit ich Harvard verließ, die meine feineren Gefühle so ansprach,« erwidert Mr. Dart, als er die grasige Lichtung betritt.
»Mach eine Verbeugung, Jean,« empfiehlt Ruth.
»Nein, sondern ich werde das Compliment an Miss Bounce weiterreichen, sobald wir nach Hause kommen. Hier sehen Sie, wie gut es uns auf der Roten Farm ergeht, Mr. Dart,« sagt Jean leichthin, und zum Glück kann der Gentleman nicht unter die die schöne, kühle Oberfläche schauen.
»Wie schade, dass Miss Bounce mich nicht herein lassen will,« antwortet er.
»Ich werde sie fragen, wenn du möchtest,« bietet Mrs. Erwin beflissen an.
»Zwecklos, das hätte keinen Sinn,« wozu Mr. Dart traurig seinen blonden Kopf schüttelt. »Ich kann gut Charaktere lesen, und Miss Bounces Gesicht besagt, – Jabe, worüber grinst du so?«
»Ich will hör'n, was ihr Gesicht sagt,« entgegnet Jabe völlig unverlegen.
»Und jetzt wollen wir endlich diese Fische haben. Miss Ivory, wie können wir drei Forellen auf einer Vorlegeschale servieren? Ich überantworte dies Ihrer Hand.«
»Das brauchen wir nicht zu versuchen. Schauen Sie, wir sind für jeden Notfall ausgerüstet. Dort ist eine große Platte; ich habe keine Ahnung, warum Miss Bounce sie eingepackt hat, es sei denn, sie erwartete, dass wir Sie treffen würden.«
»Was nicht wahrscheinlich ist, oder sie würde schwerlich erlaubt haben, dass Sie hierher kommen. Nun, wenn Sie alle sich niedergelassen haben, werde ich Ihnen zeigen, was ich als Kellner leisten kann.«
»Oh nein, ich werde mich selbst an der Tafel bedienen,« beteuert Ruth, »ich habe dafür eine besondere Begabung.«
»In diesem Fall weiche ich mit Vergnügen, denn ich bin meiner Kräfte ganz und gar nicht gewiss, außer, ich bin besonders hungrig. Man kann seine innere Ökonomie nicht an Apfelkuchen, Krapfen und Bohneneintopf zum Frühstück zur gleichen Zeit gewöhnen.«
»Das is' ganz Tante Allen. Sie macht den schlechtesten Kaffee,« kichert Jabe vor sich hin, aber Mr. Dart überhört das hämische Selbstgespräch.
»Junger Mann,« sagt er streng, »wenn du ein Wort wiederholst, das du heute hier gehört hast, stirbst du bei Sonnenaufgang. Verstehst du?«
Jabe nickt verständnisinnig.
»Meine Damen und Herren, das Essen ist serviert,« kündigt Ruth an. »Jabe, du bleibst still sitzen, und ich werde dich ebenfalls bedienen,« und dabei lässt sie Platten, Servietten und Butterbrote mit großer Herzlichkeit kreisen.
»Uh! Da ist eine scheußliche Grille auf meinem Kleid,« ruft Mrs. Erwin und schüttelt energisch ihren Rock.
»Wirklich, das ist äußerst vergnüglich,« erklärt Mr. Dart und setzt sich zwischen Jean und Barbara.
»Ich möcht' wissen, was ich zum Frühstück hatte, dass ich so'n Appetit hab',« überlegt Jabe.