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IV.
Hopeful Bounce.

Mit Lehrlingshand schuf sie den Mann,
Dann machte sie die Mädels, O.

BURNS. Aus dem alten schottischen Volkslied » Green Grow the Rashes O!«, zuerst 1549 veröffentlicht; von Burnham in der Fassung des englischen Dichters Robert Burns (1759-96) zitiert. Mit »sie« ist im Gedicht die Natur gemeint.


Am nächsten Morgen sind die beiden Freundinnen bereit, um zu ihrer Erkundung aufzubrechen. Jeans Augen strahlen noch mehr als sonst, aber sie gibt keinerlei Hinweis auf die Vorgänge des vergangenen Abends.

Mr. Ivory bringt die jungen Damen zum Zug und stellt keine Fragen, wie es seine sträfliche Gewohnheit ist.

Die Fahrt gestaltet sich ziemlich schweigsam, weil Jean in Gedanken versunken ist, und Ruth stört sie nicht.

»Nur noch fünfzehn Minuten, bis wir da sind, Ruth,« sagt Jean schließlich, auf ihre Uhr schauend, dann zum gerade vorbei kommenden Schaffner: »Wir kommen doch 11.30 Uhr in Pineland an?«

»Ja, Ma'am. Sie wissen sicher, dass wir nicht über Pineland fahren?«

»Nicht?«

»Nein, wir fahren über Pineland Zentrum. Dort können Sie eine Kutsche nach Pineland nehmen,« sagte er weitergehend.

»Na also, Ruth, die Sache wird langsam interessant.«

»Ja. Aber wenn es nun ein trostloser, einsamer Ort ist, von dem wir schon beim Anschauen Heimweh kriegen?«

»In dem Fall werden werden wir ihn nur so kurz es geht anschauen und sehen, dass wir weg kommen.«

»Oh, Jean, wie in aller Welt sollen wir dem Kutscher die Richtung angeben? Diese totale Männerhasserin hat nicht angegeben, ob sie Mrs. oder Miss ist?«

»Wir sind da,« sagt Jean anstelle einer Antwort; und Ruth folgt ihr auf den Bahnsteig.

Während sie aus dem Zug steigen, sieht erstere den Schaffner in der Nähe stehen:

»Zeigen Sie uns bitte die Pineland-Kutsche,« sagt sie.

»Oh, gewiss,« sagt er und führt sie zu drei Kutschen, die hinter dem Bahnsteig stehen.

»Hier, Dan,« ruft er dem Kutscher eines abgerissenen alten Gefährts zu, »hier sind zwei Fahrgäste für dich. Die da ganz hinten, meine Damen.«

Dann springt er auf den Zug, der sich schon in Bewegung gesetzt hat, und Jean und Ruth schauen einander erstaunt an.

»Dieses Dingsda, Jean? Wir können nicht diese Rappelkiste da nehmen!«

»Doch, können wir – wir müssen. Ach wie erfreulich urwüchsig dieses – Was-es-auch-immer-sein-mag – ist!«

»Warte bis der Zug außer Sicht ist,« fleht Ruth sie an und fängt an zu kichern; »tu so, als würden wir sonstwohin gehen wollen, bloß nicht nach Pineland.«

Der Kutscher kommt von dem schläfrigen alten Pferd her und hält die Tür auf.

»Da soll noch einer sagen, wir wären Sklaven des äußeren Anscheins,« murmelt Jean, als sie einsteigt; sobald die Mädchen sitzen, befestigt der Mann einen Riemen quer über das Vehikel direkt unter ihrem Kinn, während er ganz offen und ungezwungen dabei priemt.

»Das ist zuviel!« ruft Rhuth, als der Kutscher zu seinem Platz hoch steigt. »Fürchtet er, dass wir aus dem Sitz rutschen oder dass wir flüchten, ohne unseren Fahrpreis zu zahlen?«

»Keine Ahnung,« antwortet Jean; »aber ich bin entschlossen, keine Überraschung zu verraten, egal was die Ureinwohner mir antun. Ich komme mir vor wie Georgiana Podsnap Figur aus dem Roman » Our Mutual Friend« (Unser gemeinsamer Freund, 1865) von Charles Dickens., die über die Vorderseite des Wagens zu blicken versucht. Oh, Ruth, er ist losgefahren, ohne zu wissen, wohin er uns bringen soll!«

Ruths Antwort besteht nur in einem Lachen, und sie lacht immer weiter, bis ihr die Tränen das Gesicht hinunter rollen. Jean folgt den tränenüberströmten Augen ihrer Freundin zu der zerfetzten Überdachung, unter der sie sitzen, und muss auch lachen, ist jedoch in einer zu ernsten Stimmung, um ihre Beherrschung zu verlieren.

»Lehn dich zurück, Ruth, dann wirst du nicht gegen den Riemen geschleudert. Denk daran in den nächsten anderthalb Stunden. – Da will noch eine Dame einsteigen; hör auf zu lachen, du verletzt sonst ihre Gefühle!«

Und so setzt sich Ruth zurück in eine Ecke und hält sich das Taschentuch an die Augen.

Der Kutscher macht sich nicht die Mühe, für die neue Passagierin abzusteigen; diese hat einen gewaltigen Strauß Astern dabei, und während sie die Tür öffnet, sagt sie: »Lass mich 'n bisschen vor Damons' 'raus, Dan.«

Dan nickt, und Jean beugt ihren Kopf heraus.

»Wissen Sie, wo Bounce in Pineland ist?« fragt sie den Kutscher.

»Sie meint die Rote Farm,« springt die neue Passagierin lauthals bei.

»Jau; sollt' ich wohl wissen,« versetzt der Kutscher.

»Da wollen wir hin,« sagt Jean.

»Geht kloar,« erwidert der Kutscher.

»Man sitzt wie auf einem Chesterfield-Sofa!« flüstert Ruth.

Der Gebrauch des Riemens erklärt sich nun, als neue Fahrgäste kommen, die vor den Mädchen sitzen und sich an dem Riemen anlehnen.

»Wir blöd wir sind,« sagt Jean, »und wie staubig es ist!«

»Der Gedanke von dieser Bounce, dass sie fürchtet, von Gentlemen überrannt zu werden: wie viele Gentlemen würden diese Tortur jedesmal auf sich nehmen, wenn sie zu Stadt wollten?«

»Sie würden nicht zu Stadt gehen,« sagt Jean. »Anscheinend werden wir so abgeschieden sein, wie man nur wünschen kann. Ich komme mir schon vor, als fiele ich gleich in einen Rip-Van-Winkle-Schlaf Rip Van Winkle ist eine Erzählung des amerikanischen Schriftstellers Washington Irving (1783-1859), die erstmals 1819 erschien und als erste Kurzgeschichte der amerikanischen Literatur gilt. Sie erzählt von dem Bauern Rip Van Winkle, der zur englischen Kolonialzeit in den Bergen New Yorks in einen Zauberschlaf fällt, erst nach zwanzig Jahren wieder aufwacht und feststellt, dass er nun nicht mehr Untertan des englischen Königs, sondern Bürger der Vereinigten Staaten ist.

An dieser Stelle dreht sich die neue Passagierin, die eine Brille trägt, herum und schaut über diese hinweg eindringlich Ruth an.

»Waren Sie früher eine Miss Green?« fragt sie bedächtig.

»Nicht dass ich wüsste,« antwortet Miss Exeter, vor unterdrücktem Lachen scharlachrot werdend; Jean schaltet sich, um die Aufmerksamkeit von ihrer Freundin abzuziehen, in die Unterhaltung ein.

»Sind sie sicher, dass die Bounce Farm tatsächlich die Rote Farm ist?«

»Natürlich bin ich sicher,« sagt sie und richtet ihr bebrilltes Auge auf Jean: »Ich vermute, Sie kommen wegen der Anzeige?«

»Ja, so ist es,« erwidert Miss Ivory lächelnd.

»Was Sie nicht sagen!« ruft die andere. »Nun ja, ich hoffe, es gefällt Ihnen, um Hopefuls Willen. Ich hab' g'rad' ihre Schwester besucht, die zum Zentrum hin lebt. Sie hat den Bruder meines Ehemanns geheiratet, und das war das Schlimmste, was sie in ihrem Leben tun konnte.«

»Ist die Frau von der Red Farm verheiratet?« fragt Jean.

»Verheiratet? Hopeful und verheiratet?« Die Augen hinter der Brille schließen sich fest, während deren korpulente Besitzerin lacht, bis die Kutsche zu wackeln anfängt. »Nee, die is' nich' verheiratet. Mannsvolk wer'n Se da nich' erle'm, außer Jabe, und der is' so 'ne Art Kindskopf. Er macht die Hausarbeiten, wissen Se.«

Jean hält es für einen Akt der Klugheit, weitere Erkundigungen an Ort und Stelle einzuholen; und so werden auf der heißen, staubigen Fahrt, die über eine Stunde dauert, keine weiteren Worte mehr gewechselt. Dann durchfährt die alte Kutsche einen Durchlass in einer hohen Steinmauer und hält nach einer Fahrt von einigen Minuten vor dem Eingang eines weitläufigen, erfreulich altmodischen, roten Farmhauses.

Ihre Mitpassagierin hat schon »kurz vor Damons« die Kutsche verlassen, und die beiden Mädchen steigen nun aus. Jean vereinbart mit dem Kutscher, dass er sie in einer halben Stunde nach Pineland mit zurück nimmt, und klopft dann an die Farmhaustür.

»Denk bitte daran, dass wir noch eine Stunde mit dieser Kutsche fahren müssen,« sagt Ruth entmutigt.

»Ja, wir müssen es uns gut überlegen, ehe wir über diesen Plan eine Entscheidung treffen; aber ist das nicht ein hübsches altes Gehöft – so kühl und grün, nach der staubigen Straße? Warum kommt Miss Bounce nicht?«

Jean klopft wieder mit aller Kraft an die Tür.

Fast in demselben Augenblick wird die Tür geöffnet, und Hopeful Bounce steht in Person vor ihnen – eine große, sehr dünne Frau, mit langem Hals, den der Ausschnitt ihres Kleides vom Unterkiefer bis zum Schlüsselbein zeigt. Ihr Haar ist in einem festen Knoten zusammengefasst, bis auf zwei Strähnen, die zu beiden Seiten ihres faltigen Gesichts Locken bilden. Ihr Mund, der vom fast beständigen straffen Aufschürzen der Lippen ein zusammengeknautschtes, faltiges Aussehen erhalten hat, entspannt sich etwas beim Anblick ihrer Besucherinnen.

»Sie sind Miss Bounce, nehme ich an,« sagt Jean. »Wir kommen wegen Ihrer Anzeige.«

»Ja, kommen Sie 'rein,« sagt die alte Jungfer; dann unterbricht sie sich auf einmal: »Was ist das?!« ruft sie, als sie die Kutsche und deren Fahrer erblickt.

»Wir sind natürlich mit der Kutsche gekommen,« antwortet Jean, »und ich hab' dem Fahrer gesagt, dass wir in einer halben Stunde zurückkehren würden. Anscheinend hält er dies für einen netten Platz zum Warten.«

Jeans freundliches Verhalten bleibt jedoch auf die geistesabwesende Miss Bounce ohne Wirkung; ihr Adlerauge ist auf den in voller Länge auf ihrem Rasen ausgestreckten Dan gerichtet, der davon nichts mitbekommt.

»Sie schicken ihn besser weg,« sagt sie scharf. » Ich werd' Sie zum Zug bringen.«

Jean geht also zum Kutscher und bezahlt ihn; er rafft sich enttäuscht zusammen, erklimmt seinen Sitz, ergreift die Zügel und fährt ab.

»Er ist 'ne unwürdige Kreatur,« versichert die Wirtin. »Treten Se ein, meine Damen!«

Die Freundinnen folgen ihr in die abgedunkelte gute Stube, deren dumpfe Luft an diesem Julitag ziemlich stickig ist.

»Nehmen Sie uns dahin mit, wo Sie gerade gewesen waren, Miss Bounce. Wir wollen Sie nicht von Ihrer Arbeit abhalten,« sagt Jean.

»Oh, ich hatte nix besond'res getan. Das kann warten.«

»Aber es ist so dunkel und eng hier drin,« sagt Jean plötzlich.

Miss Bounce schaut sie erstaunt und zugleich erzürnt an; aber die vergangene Stunde hat Miss Ivorys Geduld merkliche Blessuren zugefügt, und obwohl sie Miss Bounce auf gewinnendste Art anlächeln kann, ist sie nichtsdestoweniger entschlossen, ihren eigenen Willen durchzusetzen und es bequem zu haben. »Vielleicht waren Sie gerade beim Essen? Ich hab' nicht daran gedacht,« fährt sie fort. »Wir werden draußen im Schatten warten, bis Sie fertig sind.«

»Nein, ich wollte gerade erst anfangen, Miss …«

»Ivory,« ergänzt Jean, »und dies ist Miss Exeter. Wir wollten schauen, was Sie zu bieten haben, ehe wir andere Pläne für den Sommer machen.«

Miss Bounce schaut ihre Besucherinnen erneut an; ihr Auftreten gefällt ihr offenbar, denn sie sagt herzlich:

»Na, dann legen Se 'mal ihre Hüte ab und essen Se mit mir. Es gibt sonst im Dorf nix, wo Sie 'n Bissen bekommen könn'n; also ess'n Se mit, und da könn'n wir alles in Ruhe besprech'n. Komm'n Se mit 'rauf, denn Sie wer'n sich bestimmt ziemlich verstaubt vorkomm'n nach dieser Kutschfahrt.«

Auf diese unerwartete Gastfreundlichkeit rührt sich Jeans Gewissen, dass sie die Luft der guten Stube kritisiert hat; sie folgt mit Ruth ihrer Gastgeberin die Treppe hinauf zu einem Schlafzimmer, wo sie ihre Hüte ablegen.

»Sehr freundlich von Ihnen, Miss Bounce. Es wäre sehr entgegenkommend, wenn wir Gesicht und Hände waschen könnten, aber wir wollen Ihnen weiter keine Umstände machen.«

»Kein Problem, Miss Avery. Wenn Sie mich entschuldigen, ich werd' 'runter geh'n und das Essen anrichten, und Sie komm'n 'runter, sobald Sie fertig sind.«

»Hast Du schon 'mal so 'was erlebt, Jean?« ruft Ruth verwundert, als sie allein sind. »Uns einfach so mit 'rein zu nehmen und einzuladen – völlig Fremde! Ich würd' mich schämen, wenn wir danach keine Zimmer bestellen, oder was meinst Du?«

»Oh, nein. Diese Gastfreundlichkeit ist nur eine Art addendum zur Anzeige. Sie verpflichtet uns zu nichts. Das ist ein nettes Zimmer. Ich hoffe, sie sind alle so.«

»Hoffe ich auch. Komm mit 'runter, wenn du fertig bist. Ich hab' Hunger.«

Jean gehorcht, und die beiden steigen hinab zu dem abgedunkelten Wohnzimmer, wo sie nur eine Minute auf ihre Wirtin zu warten brauchen.

»Na, dann komm'n Se 'mal mit,« sagt sie. »Sie sind unerwartet eingetroffen, da müssen Se mit mir Vorlieb nehm'n, wie ich g'rad' bin.«

»Das geht völlig in Ordnung,« versetzt Jean, während sie Miss Bounce zu dem reich gedeckten Tisch folgt; »hätten Sie das Essen sonst allein eingenommen?«

»Ja, ich leb' allein, und manchmal erscheint das alte Haus so groß und einsam, dann möcht' ich am liebsten weg geh'n und es verlassen; aber ich kann mich nicht dazu überwinden. Deshalb bin ich darauf gekomm'n, Sommergäste anzunehm'n,« erklärt Miss Bounce und bedient eifrig ihre Gäste.

»In der Kutsche war auch eine ihrer Freundinnen,« sagt Ruth; »eine stattliche Frau mit einer Brille. Sie hat uns gefragt, ob wir hier bleiben wollten.«

»Ich schätze, das war Tante Allen – nicht meine Tante, sondern die Tante des ganzen Dorfes, wissen Sie. Sie hat mich erst auf die Idee mit den Pensionsgästen gebracht. Sie war vor einem Monat 'mal hier, und da hab' ich ihr erzählt, wie groß und leer das Haus mir vorkommt, seit Jerushy tot ist. Jerushy war mein Schwester, und sie is' vor ei'm Jahr an Typhus gestorben. Ich hab' noch 'ne andre Schwester, is' verheirat't un' lebt auf Pineland Zentrum zu; ihr Ehemann is' 'n brutaler Kerl und behandelt sie auch so, aber sie is' so dumm, dass sie alles mit sich machen lässt, und da seh' ich sie nicht oft. Sie weiß, dass sie jederzeit hierher komm'n und hier blei'm kann, wenn sie ohne ihn kommt. Mein Vater war ein wohlhabender Mann, und er hat uns drei Mädels genug hinterlassen; aber Jerushy is' tot, und Alice is' so gut wie tot für mich, mein einziger Bruder is' im Krieg gefall'n, und darum bin ich allein hier – und, wie ich schon gesagt hab': es war Tante Allen, die mir den Rat gab: wer rastet, der rostet. Sie hat damals gesagt: ›Es is' 'ne Schande, dies große, gut eingerichtete Haus leer steh'n zu lass'n. Warum hols' de dir keine Pensionsgäste 'rein diesen Sommer?‹ sagt sie. ›Weil ich keine Männer bewirten will,‹ sag' ich. Sagt sie: ›Das brauchs' de nich', Hopeful. Du könnt'st sogar nur Kinder nehm'n und für sie sorgen, das wäre für dich gut und für sie, und viele Mütter wär'n se gern 'mal los und würden ohne sie ans Meer fahr'n!‹ Aber ich glaub', da hat se sich geirrt, denn für Kinder gab's keine Anfragen, und ich erwart' auch keine. Aber wenn junge Damen wie Sie mein'n, dass ihn'n so 'n ruh'jer Ort angenehm sein könnte, würd' ich se gern' nehm'n.«

»Wir haben ernsthaft darüber nachgedacht,« sagt Jean; »die Kutsche ist das große Hindernis.«

»Wenn das alles is': Sie müssen se nicht nehm'n,« sagt Miss Bounce. »Sie können durch Umsteigen direkt mit 'm Zug von Pineland nach Boston, und heut' nachmittag fahr'n Sie auch so nach Hause.«

»Das ändert die Sache,« erwidert Jean. »Könnten Sie Unterkunft für fünf bereitstellen?«

»Fünf, Jean?« wirft Ruth ein; »Barbara kommt nicht mit, wie du weißt.«

»Doch, sie kommt mit, wenn ihre Mutter sie lässt,« antwortet die andere.

»Ja, 'ch hab' nur eine Anmeldung sonst, von 'ner verwitweten Dame mit ihrer Nichte, aus Boston. Sie woll'n ein Zimmer; dann habe ich noch vier Zimmer, unter denen Se wählen könn'n, neben ein'jen kleinen Räumen, die kaum in Betracht komm'n. Is' 'n großes Haus. Wollen Se's anseh'n?«

Die jungen Damen sind einverstanden, und nach dem Essen wird ihnen jeder Winkel des alten Gemäuers gezeigt.

»Es könnte nicht bezaubernder sein,« ruft Ruth begeistert, als sie in die dunklen Ecken der Mansarde späht.

»Und auch nicht heißer hier oben, Ruth; deshalb besteh' jetzt bitte nicht auf weiteren Erkundungen. Wenn Sie diese Räume einen oder zwei Tage reservieren könnten, Miss Bounce, so werden Sie recht bald von mir hören.«

»In Ordnung,« entgegnet Miss Bounce; »jetzt bleibt Ihnen noch eine Stunde, bis der Zug fährt. Woll'n Se noch über die Farm schlendern oder im Haus wart'n?«

»Oh, wir werden auf jeden Fall ›schlendern‹,« erwiedert Ruth, Jeans Arm drückend; »sagen Sie nur rechtzeitig Bescheid.«

Und so nehmen die Mädchen ihre Hüte und gehen los, während ihre Wirtin ihnen von der Haustür aus nachschaut.«

»Ich werd' das Gefühl nich' los, dass die Schlacksige da lauter Dummheiten im Kopf hat,« denkt sie; »aber Miss Avery is' 'ne echte Schönheit – obwohl se was auf'm Kasten hat; aber wer weiß? Ach du meine Güte! die Lange springt 'rum wie 'ne Ziege!« (während Ruth hüpft und tanzt, ohne Rücksicht auf Anstand und Wetter) »Na ja, würd' ihr nich' schad'n, 'n bisschen mehr Farbe ins Gesicht zu kriegen. Ich würd' gern auch die andere 'mal hüpfen seh'n, aber so weit ich die menschliche Natur beurteil'n kann, is' sie g'rad' nicht in 'ner hüpfigen Stimmung.«

Und damit geht Miss Bounce in ihre Küche und macht den Abwasch; dabei vertieft sie sich prompt in die Überlegung, ob es hilfreich wäre, wenn sie Mandy Allen als Mitarbeiterin auf der Roten Farm anstellen würde wegen des künftigen Arbeitsandrangs.

Unterdes wandern Jean und Ruth hinter das Haus.

»Da ist ein Obstgarten, Jean. Ich wüsste gern, wo die Schweine sind, denn es gibt bestimmt welche. Es macht solchen Spaß, sie mit grünen Äpfeln zu füttern.«

»Bis jetzt sind noch keine aufgetaucht,« sagt Jean gleichgültig.

»Was – Schweine? oder Äpfel? Da ist jedenfalls ein Bach. Wer als erster unten ist!« ruft Ruth und rennt den Hügel hinunter, ohne bis zum Erreichen des Baches darauf zu achten, dass Jean ihre Bewegungen nicht im Geringsten beschleunigt hat.

»Wie langweilig,« denkt Ruth – jedoch nicht in Bezug auf ihr einseitiges Wettrennen. »Was könnte das für ein entzückender Ort sein, wenn Jean nur sie selbst wäre und sich nicht von dem albernen kleinen Experiment so quälen lassen würde. – Jean,« sagt sie laut, als ihre Freundin sich nähert, »wir nehmen diese Zimmer. Ist das nicht ein reizender kleiner Bach?«

»Ja, und jener rustikalen Bank nach zu urteilen hat es eine Zeit gegeben, als dieser lauschige kleine Schlupfwinkel unterhalb des Hügels sich einer größeren Beliebtheit erfreute.«

»Ja, der ganze Ort scheint überhaupt nicht benutzt worden zu sein, seit Mademoiselle zur Männerhasserin geworden ist,« pflichtet Ruth ihr bei. »Setz dich in einer einigermaßen anmutigen Stellung auf die Bank, und ich werde mich hinter dir aufbauen in der Pose eines –«

»Apoll,« schlägt Jean vor.

»Ja, oder deines ›treu Ergebenen‹.«

Während Ruth achtlos diese Wort spricht, sieht sie, wie das Gesicht ihrer Gefährtin vor Ärger rot anläuft, und beeilt sich, ihren Schnitzer zu vertuschen. »Was ist das da auf dem Wasser, Jean? Oh je, was machst du?« ruft sie, denn Jean hat sich neben dem Bach auf die Knie fallen lassen.

»Eine Schildkröte fangen,« entgegnet Jean, und hebt die strampelnde kleine Kreatur aus dem Wasser.

»Wie kannst du sie bloß anfassen?«

»Was könnte sauberer und hübscher sein?« versetzt Jean, den goldgetupften glänzenden schwarzen Panzer betrachtend, der wie ein Stein ohne Lebenszeichen in ihrer Hand liegt. »Ich habe als Kind oft mit Schildkröten gespielt, und ich werde mit dem hier machen, was ich manchmal mit jenen alten Spielkameraden getan habe.«

»Und was soll das sein?«

»Das Datum auf den Panzer ritzen. Wer weiß, wieviele Sommer wir hier verbringen mögen und wie oft wir genau diese Schildkröte treffen werden. Ich kenne eine Dame, die einen Namen und ein Datum auf einen Schildkrötenpanzer ritzte und die zwanzig Jahre später dieselbe Schildkröte bei bester Gesundheit wieder traf.«

Während des Sprechens nimmt Jean ein Taschenmesser aus ihrer Tasche und beginnt mit dem Eingravieren des Datums. Ruth ruft zuschauend:

»O, du Dummchen! Du hast dich vertan; du hast ›2. Juli‹ eingeritzt, dabei haben wir heute den 3. Juli; aber du kannst es leicht ändern.«

»Egal, ich lasse es so,« sagt Jean sorglos und setzt die verzierte Schildkröte an den Rand der Bank. »Schau nur, wie langsam und vorsichtig sie ihren Kopf heraus streckt; ach, das versetzt mich zehn Jahre zurück!«

Aber die plumpe Raschheit des Tieres (denn eine Schildkröte kann gelegentlich, trotz Æsop In dessen Fabel »Die Schildkröte und der Hase« besiegt jedoch erstere in ihrer beständigen Ausdauer den Schnellläufer, der sich wegen seiner vielen Seitensprünge ausruhen muss, einschläft und das Ziel verpasst., durchaus rasch sein), wie es sich ins Wasser fallen lässt und dort herumspritzt, entgeht Ruth völlig, die sich darüber wundert, wie ganz und gar Jean sich von ihrer schmerzhaften kleinen Erfahrung in Beschlag nehmen lässt.

»Wie schade, dass es nicht mir passiert ist,« denkt Miss Exeter, als sie kehrt machen und den Hügel wieder hinauf steigen; »so eine kleine Demütigung könnte mich nicht durcheinander bringen; im Gegenteil, sie würde mich veranlassen, den Tag, an dem sie passiert wäre, in den Schildkrötenpanzer zu ritzen.«

»Ich hoffe, Miss Bounce hat uns bei ihrer Nachmittagssiesta nicht vergessen,« sagt sie laut.

»Siesta! Vergiss diesen Gedanken im Zusammenhang mit unserer künftigen Wirtin; ich bezweifle, dass sie überhaupt je schläft. Ach, du liebe Zeit! Wer bist du denn?«fragt Jean, als ein grinsendes Gesicht über der Steinmauer unmittelbar vor den Freundinnen auftaucht.

»Ich bin Jabe, der bin ich, und Sie müss'n direk' komm'n, hat sie gesagt.«

Die letzten drei Worte, von nachdrücklichem Nicken begleitet, deuten an, dass, für Jabe zumindest, Miss Bounces Wort Gesetz ist. Jabe mit seinem Schopf sandfarbenen Haars, seinem sauberen karierten Hemd und den in die Stiefel gesteckten Hosenbeinen sieht genauso aus, wie Tante Allen ihn bezeichnet hat: »eine Art Kindskopf«.

»Ohne jeden Zweifel, Jean, hat er saubere Zähne,« sagte die unerschütterliche Ruth.

»Ja, das stimmt, allerdings!« ruft der Junge traurig. »Das is' ihre Schuld! Sie bürstet sie dauernd und lässt se mich bürsten. Sie hat se einmal für mich geputzt, und – na ja, seitdem hab' ich's selber gemacht.«

Jabe wendet sich den jungen Damen mit einem Zwinkern seiner kleinen grauen Augen zu, das mit seinem dummen Grinsen nicht zusammen passt.

»Ich nehme an, sie hat es sehr gründlich gemacht,« sagt Ruth.

»Weiß ich nich', hat se v'leich'; jedenfalls hat se mich fast umgebracht. Blei'm Se hier?« fragt er und starrt seine beiden Begleiterinnen mit unverhohlener Bewunderung an.

»Wir haben uns noch nicht entschieden,« fängt Jean würdevoll an, als Ruth sie unterbricht.

»Vielleicht tun wir's, Jabe, falls du nicht glaubst, dass Miss Bounce uns zu hart behandeln würde.«

»Also, nein, ich glaub' nich', dass sie das tut; alles was ihr machen müsst, ist eure Zähne putzen, die Hände waschen, nicht auf dem Kopf stehen und pünktlich beim Essen sein; damit nimmt se's sehr genau,« sagt Jabe, wobei er die Erfordernisse an den Fingern abzählt und schließlich seinen Daumen umklammert, in der Hoffnung, dass ihm noch eines einfällt; »und ich sag' euch was: ihre Pfannkuchen sind lecker!«

»Ah! du meinst, der Tisch sei zu empfehlen?« fragt Ruth ernsthaft.

»Wieso nicht? Ein Bein ging im Frühjahr ab, aber ich hab' d'ran 'rum gebastelt, bis es wieder wie neu war. Oh ja, der Tisch …«

»Jabe!« ertönt Miss Bounces Stimme, rasch gefolgt von ihrer sichtbaren Gestalt. »Willst du, dass die Damen ihren Zug verpassen? Es kommt mir glatt so vor. Geh jetz' zur Scheune, aber fix!«

Der Junge gehorcht aufs Wort und kehrt bald mit einem offenen Pferdewagen zurück, bleibt dann grinsend stehen, als die drei losfahren; Miss Bounce hält die Zügel, und Dolly, das sanftmütige alte Hauspferd, beweist durch sich selbst, dass es keine Ausnahme von der Regel gibt: alles, was mit der Roten Farm verbunden ist, steht vollständig unter der Fuchtel von deren Meisterin.

Auf dem Weg zum Bahnhof unterhalten sich Jean und ihre Wirtin, während Ruth allein auf der Rückbank sitzt und die Gewandung der letzteren studiert, um den anderen Mädchen eine anschauliche Beschreibung geben zu können. Eine schwarze Seidenmantille bedeckt die Schultern der alten Jungfer und ihren Kopf ein großer brauner Hut, während der Hals ebenso freizügig gezeigt wird wie bei ihrem Hausgewand.

Jeans Gleichmut wird stark auf die Probe gestellt, weil sie dankbar ist, dass Ruth bei ihrer Prüfung in einem Schweigen da sitzt, das ihrer Busenfreundin mehr sagt als Worte.

»Sehen Sie das kleine braune Gebäude da? Das ist der Bahnhof,« sagt Miss Hopeful, »und is' nich' sehr weit von mei'm Hof zu gehen, auch wenn's Stadtleuten wie Ihnen so scheinen mag; aber wenn eine von Ihnen, ohne dass ich's weiß, die Farm besuchen möchte – der Weg is' einfach: Sie müssen nur g'rad'aus gehn, bis Sie zu dieser großen Ulme komm'n, an der wir eben vorbeigefahr'n sind, dann halten Se sich rechts« – hier nimmt Miss Bounce beide Zügel in eine Hand und macht die entsprechende Geste dazu – »nur 'n kurzes Stück; dann geh'n Se weiter, bis Sie 'ne Steinmauer erreichen; da steigen Se 'rüber, dann links dem Fußpfad folgen; der wird Sie zu dem Bach bringen – manche nennen ihn ein'n Fluss – und da wird wahrscheinlich 'n Steg d'rüber liegen, aber es gibt 'n Haufen lästiger Jungs, die ihn schon 'mal wegnehm'n.«

»In diesem Fall,« sagt Ruth, »vermute ich, dass wir anhalten und eine Weile in dem Bach angeln sollen.«

»Nein, Ma'am; in diesem Fall sollten Sie am besten zurück gehn und über die Straße herkommen. Ich musste selbst 'mal diesen Weg nehm'n.«

»Wir werden nicht kommen, ohne es Sie zuvor wissen zu lassen, Miss Bounce,« sagt Jean.

»Das wäre am Besten; und jetzt, meine jungen Damen, sind wir da. Da kommt gleich 'n Zug aus der Stadt. Ich würd' mich nicht wundern, wenn da meine anderen Interessenten d'rin sind, die Witwen-Dame und ihre Nichte. Ihr Zug wird in drei Minuten da sein.«

Jean und Ruth steigen von dem hohen Wagen herab und hoffen, einen Blick auf die erwarteten Fremden werfen zu können – denn die »Witwen-Dame« und ihre Nichte könnte ihre Entscheidung noch ändern; aber da der Zug aus der Stadt Verspätung hat, kommen die beiden Züge gleichzeitig am Bahnhof an, und die jungen Damen können ärgerlicherweise nur flüchtig eine von Trauerflor verdeckte Gestalt wahrnehmen, die aus dem Zug gegenüber aussteigt, begleitet von einem großen Mann, dessen Anblick, so kurz und ungenügend er auch ist, dazu führt, dass Jean das Blut in ihr klares, weißes Gesicht steigt, um es danach noch weißer als zuvor zurück zu lassen.

»Was bin ich für ein Dummkopf,« denkt sie. »Hat mich dieses Wohltätigkeitsobjekt noch nicht genug beleidigt, dass ich es in jeder Person, die mir begegnet, sehen muss? Ich werde diese Schwäche überwinden!«

»Die Hitze und die allgemeine Ermüdung haben dich erschöpft,« bemerkt ihre Freundin; »aber ich glaube, es geschieht zu einem gut Zweck, denn wir haben einen Sommer vor uns, an den wir uns erinnern werden.«

Ruths Prophezeiung soll sich erfüllen.



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