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II.
Die Tischgesellschaft.

Schönheiten – jeder Ton von Braun und Blond.

DIE PRINZESSIN. Vers 415 des zweiten Gesangs aus dem Versepos » The Princess« (1847) des englischen Dichters Alfred Tennyson (1809-92).


» Mädels, was wettet ihr, dass Jean vergisst, ihren Klassenring Der » class ring« wird – zum Teil bis heute – von Absolventen der High School, des College oder der Universität als Erinnerungszeichen getragen. zu tragen?«

»Jean wird nichts dergleichen tun! Schon die Idee ist Ketzerei! Wir haben auf Treue gelobt, ihn immer zu tragen, wenn wir alle fünf zusammen wären; und glaubst du, dass beim ersten Mal einer von uns nicht daran denken würde? Vergiss es!« ruft Ruth Exeter, die Gastgeberin, und dreht den Ring an ihrem Finger.

»Also gut,« bemerkt die erste Sprecherin in neckendem Ton, »natürlich kennst du Jean besser, Ruth, als sonst jemand aus der Klasse; aber ich kenne sie gut genug: es wird bestimmt etwas passieren, dass sie doch nicht daran denkt, und wenn ich Recht habe, warum sollen wir den Sieg über sie nicht auskosten?«

»Wenn sie ihn vergisst, Mabel, braucht man sich nicht zu wundern, denn sie hat so viele Ringe,« sagt die bescheidene kleine Barbara Waite. »Ich bin auf meinen so stolz, dass ich ihn kaum jemals abnehme.«

»Polly, du bist die einzige, die noch nichts gesagt hat,« meint Ruth. »Wie lautet deine persönliche Meinung, öffentlich ausgesprochen, über Jeans Treue?«

Das träge Mädchen schüttelt auf diese Ansprache hin ihren Kopf:

»Ich sollte mir nicht anmaßen, sie anzuzweifeln. Ihr wisst, dass Ihre Hoheit mich immer von oben herab behandelt; da bleibe ich lieber neutral.«

»Da ist sie! Das ist ihr Wagen!« ruft Ruth. »Wir sind 'raus aus der Schule – ausgewachsene junge Damen, und das ist eine feierliche, erlesene Tischgesellschaft; aber ich werd' selbst zur Tür gehen,« sagt sie und tut es.

»Warum kommst du so spät, Jean? Trägst du ihn?«

»Trag' ich was? Wie geht es euch, Mab, Barbara, Polly?« sagt Jean, jede ihrer Schulfreundinnen küssend.

»Na, deinen Ring, du weißt schon. Du trägst ihn natürlich?«

Jean weicht einen Schritt zurück und schaut Ruth in aufrichtigem Kummer an.

»Du trägst ihn nicht, du Meineidige, obwohl wir es geschworen haben!«

»Das haben wir,« sagt Jean langsam. »Ich schäme mich schrecklich.«

»Wenn es unter dem Himmel einen bösen Geist gibt, dann ist es der, der immer spricht: ›Ich hab's euch ja gesagt‹; aber ich hab's euch tatsächlich gesagt, stimmt's?« sagt die gelbhaarige Mabel Grant, »und ich wünschte nun, wir hätten wirklich eine Wette abgeschlossen.«

»Was?! Ihr habt darüber gesprochen? Ich bin wirklich selbst entsetzt über meinen Treuebruch, und ich akzeptiere jede Bestrafung, die ihr für geeignet haltet – vom Gerolltwerden in einem Fass mit Nägeln bis hin zu einem Dutzend Handschuhe für jede von euch.«

»Wir erlassen dir solche schlimmen Strafen,« sagt Ruth und nimmt Hut und Handschuhe des Neuankömmlings, »nur,« fragt sie mit einem Blick auf die anderen Mädchen, » weshalb hast du es vergessen?«

»Warum ich es vergessen habe?« wiederholt Jean, zieht verblüfft die Braue hoch, und dann, plötzlich vom Hölzchen aufs Stöckchen kommend, ruft sie:

»Denkt doch mal, Mädels, wie aufgeregt wir vor einer Woche waren, wie wir uns mit Ruhm und Blumen bekleckerten, und wieviel besser als alle anderen Mausies Aufsatz war!« Und dabei kneift sie Barbara ins Ohr. »Wäre es nicht nett, wenn wir die anderen Mädels hier hätten? Ich hatte seitdem Laufereien von früh bis spät,« fügt sie ohne Zusammenhang hinzu, während sie den langen Salon entlang schwebt und über die Schulter auf ihr langes Kleid zurückschaut.

»Ja, wir probieren es jetzt alle mit langen Kleidern,« sagt Ruth, »bis auf Barbara, die zu empfindlich ist, irgend 'was zu probieren und ein kleines Mädchen bleiben wird, das wir nach Lust und Laune malträtieren können.«

Barbara schaute auf die groß gewachsene Ruth, dann auf ihren eigenen braunen Musselinrock und dachte zum dutzendsten Mal heute, dass ihre Klassenkameradinnen bestimmt die hübschesten Mädchen seien, die es gab. Die Stellung der kleinen Barbara hätte leicht unter ihren wohlhabenden Mitschülerinnen als aussichtslos gelten können, weil sie sehr arm, überaus bescheiden und empfindlich war; Jean hatte sich indes ihrer angenommen, und die anderen waren – zumindest dem Augenschein nach – diesem Brauch gefolgt. Und so befand sich, bei diesem ersten Wiedersehenstreffen der Bostoner Mitglieder der Abschlussklasse von 1878, Barbara Waite in einem schönen Haus auf der Commonwealth Avenue, genoss staunend dessen Luxus und wusste zutiefst die Herzlichkeit zu schätzen, die keinen Unterschied zwischen ihrem 10-Cent-Musselin und der Grenadinenseide der anderen spüren ließ.

»Solche Reminiszenzen sind ja zu gegebener Zeit schön und gut, Jean,« sagt Mabel; »aber du versuchst Ruths Frage auszuweichen. Sag uns, welche gewichtige Angelegenheit dich den Ring vergessen ließ?«

»Es braucht keine gewichtigen Angelegenheiten, mich alles vergessen zu lassen, woran ich denken sollte. Das wisst ihr!« erwidert Jean, setzt sich und macht Gebrauch von ihrem Fächer.

»Oh, sie wird rot!« bemerkt Polly neugierig.

»Leute werden immer rot im Juli, oder?« fragt Miss Ivory scharf. »Was für ein Wetterwechsel seit gestern! Wer wurde außer mir noch vom Regen überrascht?«

»Ich,« sagt Barbara, bemüht ihrer angebeteten Jean beim Wechsel eines unangenehmen Themas beizuspringen. »Was für ein merkwürdig kalter Tag für diesen Monat!«

»Ja, aber heute ist es richtig sommerlich,« sagt Ruth und erhebt sich, um ein Fenster zu öffnen. »Genau die richtige Temperatur für mich. Rothaarige mögen immer warmes Wetter, wisst ihr? Es passt zu ihrem hitzigen Temperament.«

»Seltsam, aber mir gefiel das Wetter gestern besser als das heutige,« sagt Jean mit schalkhaftem Leuchten in ihren braunen Augen. »Ich genoss es ganz und gar.«

»Schaut 'mal an, Mädels,« sagt Mabel; »Jean hat ein Geheimnis, und das verstößt gegen die Regeln. Sie muss es uns erzählen. Ruth, hilf uns!«

»Oh, Ruth ist das egal,« bemerkt Polly faul. »Sie weiß, dass Jean es ihr erzählen wird, sobald sie allein sind.«

»Also wirklich, ich hab' noch nie in meinem Leben so einen Haufen gesehen!« sagt Jean lachend. »Ich hatte angenommen, wir würden ein freundschaftliches kleines Treffen mit gegenseitiger Beglückwünschung veranstalten, und statt dessen wurde ich aufgezogen und kreuzverhört, sobald ich 'rein gekommen war. Vergesst nicht: wir sind jetzt alle aus der Schule 'raus, und der ganze Leichtsinn sollte Vergangenheit sein. Da ist Mrs. Exeter; wie ich mich freue, Sie zu sehen!« sagt Jean aufstehend, um Ruths Mutter zu begrüßen, die soeben den Raum betreten hat – ihr Ideal von Güte und Weiblichkeit.

»Dann bist du ja endlich da, meine Liebe,« sagt diese, nachdem sie die anderen begrüßt hat, und hält Jeans Hand einen Augenblick fest, während sie ihr liebevoll in das strahlende Gesicht schaut.

»Ja, Mrs. Exeter, wie uns Professor Laramie vor einer Woche zur Kenntnis gebracht hat, liegt ja nun die Welt vor uns und wir müssen uns entscheiden – jedenfalls sinngemäß – und Sie sehen, wie wir unser neues Leben anfangen. Unser Motto lautet: ›Zusammen sind wir stark, geteilt gehen wir unter!‹ Motto des US-Bundesstaates Kentucky: » United we stand; divided we fall«

»Ja, fünf gute Freundinnen, und das ist auch ziemlich seltsam,« sagt die Dame; »man sollte meinen, dass bei so einer Zahl eine das fünfte Rad am Wagen wäre.«

»Genauso ist das bei uns, Mrs. Exeter,« sagt Polly Gunther, ihre Räkelstellung aufgebend, mit heller Stimme; »aber es ist nicht immer dieselbe. Wenn Jean mich von oben herab behandelt, bin ich es; wenn Mabel mit ihren Neckereien zu weit geht, ist sie es, und wenn Ruth …«

»Meine Damen, bitte zu Tisch,« unterbricht Ruth mit lauter Stimme. »Polly, du warst gerade dabei, meiner Mutter mitzuteilen, dass ich nicht vollkommen bin. Der Schock dieser Entdeckung wäre zu viel für sie gewesen.«

Die Doppeltür am Ende des Salons öffnet sich wie von Zauberhand und offenbart die hübsch angerichtete Tafel im Esszimmer.

»Miss Waite, geben Sie mir die Ehre?« fährt Ruth fort, indem sie Barbara ihren Arm mit schwungvoller Geste anbietet.

»Wie prächtig und groß du bist, Ruth!« sagt die kleine Barbara, ihren Arm nehmend.

»Ja, wie eine Bohnenstange – ›gertenschlank‹ nennen's die Dichter. Dort, Barbara: du sitzst zwischen Jean und Mabel; wenn Mab dich dann hänselt, kannst du es Jean sagen.«

»Ich und hänseln, wo ich doch in so guter Gesellschaft bin!« sagt Mabel; »das verbietet mir meine Würde. Aber, Mrs. Exeter, glauben Sie, dass Jean ein Recht hat, vor uns Geheimnisse zu haben? Sie hat eins, das sie fast zum Platzen bringt, aber trotzdem …«

»Schon gut,« unterbricht Jean großherzig. »Ich werde es euch erzählen, weil ich ja weiß, wie ich an eurer Stelle empfinden würde; aber natürlich müsst ihr es geheim halten; ihr werdet es nicht aus diesem Esszimmer hinaus tragen?«

»Nein, nein!«

»Na schön; bereitet euch darauf vor, aus Neid jede Farbe des Regenbogens anzunehmen. Kein Wunder, dass mir der gestrige Tag besser gefiel als der heutige, trotz Wind und Wetter. Ich erhielt einen Brief von Professor Laramie, und was würdet ihr alle sagen, wenn ich euch erzähle, dass er mir den Titel eines › Bachelor of Arts‹ verliehen hat?«

»Jean! Du ein Bachelor!« rufen alle außer Ruth, die sich von den zusammengepressten Lippen und dem geheimnisvollen Nicken, womit Jean sich ihrer Zuhörerschaft gefällig zeigt, nicht täuschen lässt.

»Ich wollte euch das nicht sagen, meine Bescheidenheit ist so verletzlich; aber ihr wolltet es so haben, und ich war so dämlich nachzugeben und fühlte mich verpflichtet, es euch zu erzählen. Polly, dir ist doch hoffentlich nicht der Appetit vergangen?« fragt sie, Miss Gunther anschauend, die überwältigt schien.

»Lächerlich!« sagt Mabel. »Du machst Witze, Jean! Ich weiß nichts davon, dass unsere Professoren Titel verleihen, und wenn es so sein sollte, warum hast du deinen nicht letzten Donnerstag abend bekommen?«

Jean zuckte die Schultern. »Dann hoffe ich, dass ihr mich jetzt in Ruhe lasst,« sagt sie.

»Mädels, ich bitte um eure ungeteilte Aufmerksamkeit,« spricht Ruth im Befehlston. »Ich habe viel nachgedacht, seit ich wieder zu Hause bin, was wir alle diesen Sommer machen sollen; und ich werde euch nacheinander befragen, beginnend mit Barbara, weil sie die kleinste ist. Barbara Waite, du stehst unter Eid. Was wirst du diesen Sommer tun?«

»Kraft sammeln für den Winter,« entgegnet das Mädchen ohne Zögern; und Ruth brandmarkt sich selbst als ›dumm‹, dass sie sich vorgestellt hat, das kleine braune Vögelchen könne lustige Urlaubspläne verfolgen.

»Genau mein Grundsatz,« sagt sie laut. »Polly Gunther, sprich und lass uns das Schlimmste hören!«

»Tante Martha geht nach Newport. Ich würd' mal sagen, wenn ich sie genug piesacke, nimmt sie mich mit.«

»Mabel Grant; die Wahrheit, die ganze Wahrheit, und nichts als die Wahrheit,« fährt Ruth nachdrücklich fort.

»Meine Mutter und ich verbringen einen Monat mit Freunden in deren Landhaus am Meer.«

»Jean?«

»Mein Geist ist vollständig leer, meine Liebe, so weit es die Zukunft betrifft. Ich gehe davon aus, dass Mutter ihre Pläne hat; aber sie war letzte Woche so damit beschäftigt, mich nach ihren Vorstellungen einzukleiden, dass wir über das Thema nicht gesprochen haben. Jetzt aber, damit es ein faires Spiel gibt: was beabsichtigt die sehr Ehrenwerte Ruth Exeter diesen Sommer zu tun?«

»Ruhe!« ruft Ruth und klopft mit dem Gabelgriff auf den Tisch. »Ich habe das Wort und gedenke, es gegenwärtig weder einem Mädchen noch einem Bachelor, einem Benedikt oder sonst wem abzutreten. Meine Freundinnen, ihr seid alle unter zwanzig – das heißt, bis auf Ma – und seid daher jung.«

»Welch fabelhafte Sprachgabe!« ruft Jean mit einem Unterton und hebt dabei eine imaginäre Brille an ihre Augen, durch die sie bewundernd ihre Freundin anstarrt.

»Was wir alle brauchen, ist Ruhe nach dem beschwerlichen Bildungsgang, den wir soeben abgeschlossen haben,« fährt Ruth fort, und ich sag' euch, Mädels,« verfällt sie plötzlich von der Vortrags- in die Umgangssprache, »wenn wir sie nicht jetzt kriegen, werden wir sie ganz dringend nächsten Winter benötigen, und wie Barbara sagt: was wir tun wollen, ist, Kraft für die kommende Schlacht aufzutanken; und ein Kurbad ist dafür nicht das Richtige.«

»Hört! hört!« sagt Mabel.

»Denkt nur an die Erschöpfung und Aufregung, weil man sich die ganze Zeit in Schale werfen und die halbe Nacht herumhopsen muss, ganz davon zu schweigen, dass man sich den Tod holen kann, wenn man über die Piazza mit Gentlemen schlendert, die sich fragen, ob euer Vater wirklich Geld hat oder ob eure Diamanten nur geliehen sind! Wenn wir das machen, werden wir vielen schon Schnee von gestern sein, wenn wir im nächsten Winter gesellschaftlich das erste Mal 'raus kommen. Meine Schwester, Mrs. Fellows – Jean kennt sie – sagt, sie würde es an unserer Stelle unter keinen Umständen tun.«

»Ruthie, Liebling, sprich langsamer und und zeig etwas mehr, was was du bei Professor Laramie in Grammatik gelernt hast,« unterbricht Mrs. Exeter lachend.

»Jawohl, Ma'm. Also, Mädels, es gibt eine ›holdselige Weide‹, auf die wir alle diesen Sommer losgelassen werden könnten, um dann wie Meteore am Bostoner Gesellschaftshimmel nächsten Winter aufzublitzen. Ein ›Paradies von Milch und Honig‹ – und der ›Engel, der uns zuwinkt‹, heißt Hopeful Bounce aus Pineland, Massachusetts. – John,« sagt sie zum Diener, »bring mir bitte die Morgenzeitung!«

»Du nimmst deine Zuhörer ganz schön mit, Ruth!« sagt Polly.

»Das ist genau das, was ich will; jede Einzelne von euch mit mir nehmen,« versetzt Ruth, als ihr die Zeitung übergeben wird. »Hört euch das 'mal an:

›Gesucht: Weibliche Pensionsgäste für den Sommer, in einem Bauernhaus, schön gelegen an fließendem Gewässer. Kinder, deren Mütter sie für ein paar Wochen in gesunder Umgebung lassen möchten, sind ebenfalls willkommen; aber keine Gentlemen. Wenden Sie sich, entweder persönlich oder per Brief, an: Hopeful Bounce, Pineland, Mass. Keine Gentlemen.‹

Habt ihr das gehört, Mädels? Die Anzeige wiederholt die Warnung sogar in Kursivschrift, als ob Hopeful Bounce erwartet, von einer Männerhorde überschwemmt zu werden, sobald ihre reizende Anzeige von Vertretern des männlichen Geschlecht erspäht worden ist. Nun, was haltet ihr davon?«

Ruth lehnt sich in ihrem Stuhl zurück und hat das verlockende Eis und die Früchte vor ihr ganz vergessen.

Jean antwortet als erste:

»Wahrscheinlich irgendein Ort im Landesinneren, weitab von jeder Verkehrsstraße, wo es die ganze Zeit unerträglich warm ist und uns Mückenschwärme um die Köpfe schwirren und uns überallhin verfolgen.«

»Und keine Gentlemen,« bemerkt Mabel mit aufrichtiger Missbilligung.

»Wir würden uns gegenseitig innerhalb einer Woche auffressen, bloß um etwas Aufregung zu haben,« fügt Polly hinzu.

»Na gut. Barbara,« sagt Ruth, »du bist die Einzige, die meinen netten Plan noch nicht in der Luft zerrissen hat.«

»Ich finde, er klingt sehr erfreulich,« sagt Barbara herzlich, »aber natürlich geht er mich persönlich ja eigentlich nichts an.«

»Ruth,« sagt Jean nach einigem Nachdenken, »wenn man alles in Betracht zieht, ist deine Idee eigentlich gut. Ich hoffe, Pineland ist nicht ganz aus der Welt; aber ich werde ganz bestimmt mit dir kommen, und wir werden so viel Kraft und gutes Aussehen auftanken, dass wir diese Kurbad-Schönheiten komplett ausstechen, wenn im nächsten Winter der Einsatz bevorsteht.«

»Oh, wenn ihr geht, will ich auch mit,« sagt Mabel.

»Und ich natürlich auch,« fügt Polly hinzu.

Barbara schaut lächelnd auf. Für sie ist selbstverständlich, dass sie nicht bei den Ferien ihrer früheren Mitschülerinnen mitmachen kann – das hat sie so entschieden; aber sie freut sich für Ruth, dass die mächtige Jean die Sache erneut in die richtige Richtung gelenkt hat. Letztere sagt nun gelassen, aber wie jemand mit Autorität:

»Jede, die mit nach Pineland kommt, muss entschlossen sein, alle möglicherweise auftretenden Schwierigkeiten zu ertragen und zu erdulden, oder ihren kleinen Koffer packen und heimkehren; denn wir können keinen Unzufriedenen in Arkadien gebrauchen. Also: erst wägen, dann wagen!«

»Hast du schon 'mal jemanden wie Jean erlebt?« fragt Ruth, sich zu ihrer Mutter wendend. »Vor einem Augenblick war das noch mein Plan; jetzt wird sie die ganze Sache in die Hand nehmen, die Geschäftsangelegenheiten führen und Disziplin erzwingen.«

»Das ist der Unterschied zwischen Geist und Materie,« bemerkt Jean. »Ich bin die Maschine. Du verströmst dich einfach in die graue Materie des Gehirns, und ich bringe es in eine praxistaugliche Gestalt. Nun, ich möchte mich am liebsten persönlich an Hopeful Bounce wenden. Kommst du mit, Ruth, vielleicht morgen?«

»Impulsiv wie immer,« sagt Mrs. Exeter kopfschüttelnd.

»Warum nicht schmieden, solange das Eisen heiß ist?« fährt Jean fort. »Wenn die Mädels ganz sicher sind, dass sie mitkommen, brauchen wir mehrere Räume und können so die erste Wahl treffen.«

»Du rechnest mich aber doch nicht mit?« sagt Barbara.

»Warum nicht?« erwidert Jean bedächtig. »Fahren wir morgen, Ruth?«

»Ja – falls ich bis dahin wieder zu Atem gekommen bin. Ich kann dir nicht folgen, so schnell, wie du 'ran gehst.«

»Dann werde ich, Mrs. Exeter, mit Ihrer Erlaubnis Ihre Tochter heute nachmittag mit nach Hause nehmen; sie wird bei mir übernachten, und morgen werden wir unsere Reise antreten. Sollen wir nicht auch für Sie einen Pensionsplatz bestellen?«

»Nein, wahrhaftig nicht! Ich kann nirgendwo hingehen, wo man Ehemann und Ehefrau scheidet.«

»Hopeful Bounce muss eine Art moderne Prinzessin Ida Die Hauptfigur des o.g. Versepos » The Princess« von Alfred Tennyson. – Siehe Anm. 5. sein,« bemerkt Mabel. »Ich zweifle nicht, dass wir an ihrem Tor die Inschrift ›Eintritt für Männer bei Todesstrafe verboten‹ finden werden.«

»Da weiß ich nicht, wie Jean hinein kommen soll,« sagt Barbara lächelnd; »sie wird es geheim halten müssen, dass sie ein Bachelor ist.«

»Sie ist genauso wenig Bachelor wie ich,« versichert Miss Gunther verächtlich. »Mich kann sie nicht anschwindeln, falls sie es bei euch geschafft hat.«

»Dann hat uns Miss Ivory eine faule Geschichte erzählt,« sagt Mabel entschieden.

»Überhaupt nicht,« sagt Jean überrumpelt. »Ich hab' euch gefragt, was ihr sagen würdet, wenn ich ein Bachelor wäre, und keine hat mir geantwortet oder gesagt, dass es euch freut oder euch ärgert. Ich finde, ihr seid ziemlich unfreundlich!«

»Und Jeans Geheimnis, wenn sie denn eines hat, ist so sicher wie je,« stellt Mrs. Exeter fest.

 

Ja, Jeans Geheimnis, das sie so in Anspruch nimmt, ist sicher. Seit sie ihr anonymes Geschenk gestern abschickte, hat sie nur der Gedanke an ihren unbekannten Protégé beschäftigt: Was er dachte, als er das Geld sah; ob es zur rechten Zeit kam, um eine drückende kleine Sorge zu lindern; welchen seiner Freunde er für den Spender hielt; ob sein Stolz verletzt oder sein Herz mit Dankbarkeit erfüllt war? Diese Fragen und ein Dutzend andere lagen ihr auf der Seele. Nie zuvor hat eine Wohltätigkeit so ihr Interesse gefesselt, und sie hält dies für einen erfreulichen Beginn ihres neuen Lebens.

Jean Ivory weiß ihre Geheimnisse zu wahren; aber während sie mit Ruth am späten Nachmittag nach Hause fährt, ist die Versuchung zu groß, als dass sie widerstehen könnte, ihrer Freundin die ganze Geschichte zu erzählen. Es scheint keinen besonderen Grund zu geben, sie Ruth vorzuenthalten, denn die Exeters haben sich viele Male mit ihr zu wohltätigen Aktionen zusammengetan, und Jean hat sich daran gewöhnt, diese Dinge mit ihrer Freundin zu besprechen.

»Und er ist hübsch, sagst du?« war Ruths erste Frage, nachdem sie die Geschichte vernommen hatte.

»Oh ja, ich denke schon,« antwortet Jean zweifelnd und fügt dann begeistert hinzu: »sein Gesicht ist so rein.«

»Wie merkwürdig!« ruft Ruth. »Ob ich wohl je dieses achte Weltwunder zu sehen bekomme?«

»Pst!« lacht Jean; »kennst du das nicht, dass einem manche Leute so besonders rein vorkommen? Also bei ihm ist das so, seine Zähne sind so weiß, und seine Haut ist so gepflegt.«

»Ach Gott, segne sein kleines Herz!« murmelt die unbändige Ruth.

»Oh nein,« sagt Jean, zur Buchstäblichkeit entschlossen, »er ist ein sehr großer Unglücksrabe!«

»Groß genug für mich? Oh, wo ist er?« fragt Ruth, richtet ihren Hut und streicht über ihre Handschuhe, als wolle sie umgehend zum Sturmangriff übergehen. »Ich werde ihn aus der Armut emporreißen, bevor sein reines Gesicht Zeit hat, schmutzig zu werden, und ihn heiraten zum Lohn für das Verdienst, groß zu sein.«

»Benimm dich, Ruth! Glaubst du also, ich könnte zu Mr. D**** gehen und ihn vorsichtig fragen, ob er herausfinden kann, wer der Mann ist, und ihm dann eine Anstellung besorgen, ohne dass ich entdeckt werde?«

»Woher sollte Mr. D**** ihn kennen? Er war bestimmt nur einer von einem Dutzend Bewerber.«

»Mag schon sein,« sagt Jean enttäuscht. »Ich weiß nicht, warum, aber ich hatte es mir irgendwie in den Kopf gesetzt, dass Mr. D**** alles über ihn wüsste. Aus dem Grund will ich jetzt eigentlich gar nicht aus der Stadt weg; ich bin in Sorge um die Familie des jungen Mannes.«

»Dann bist du wirklich ein gutes, selbstloses Mädchen, wenn du dich für meinen Plan so einsetzst, obwohl dein Herz gar nicht daran beteiligt ist.«

»Oh doch, das ist es,« erwidert Jean, den neckenden Ton ihrer Freundin missbilligend; »du weißt, ich kann es nicht vertragen, mit etwas herumzutrödeln. Wenn ich einen Plan habe, will ich auch richtig damit voran kommen.«

»Egal ob gut oder schlecht, nehme ich an,« meint Ruth.

»So denkt meine Mutter,« entgegnet lachend die andere. »Wenn ich ein bisschen mehr herumtrödeln und mich einen Monat lang mit Pro und Kontra einer Idee herumschlagen würde, wäre sie zufriedener.«

»Du und Mrs. Ivory, ihr seid beste Freundinnen zur Zeit?« fragt Ruth mit einem raschen Blick auf ihre Freundin.

»Ja, wir stimmen in allen Fragen überein, außer beim Gebrauch von Geld,« antwortet Jean grinsend.



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