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Die Sonne verbarg ihre Strahlen.
ADELAIDE PROCTOR. Erste Zeile der dritten Strophe des Gedichts » Doubting Heart« der englischen Dichterin Adelaide Anne Procter (1825-64).
»› Ganz so wie einst; ganz so wie einst,‹« Aus dem Lied » I Made Another Garden« des englischen Dichters Arthur William Edgar O'Shaughnessy (1844-81). trällert Ruth; dann fügt sie hinzu: »das ist in etwa so, als ob eine von uns hors de combat Außer Gefecht. ist. Genau so wie unsere aufopferungswillige Barbara ihren Knöchel verstaucht hat, um uns ein wenig Aufregung zu verschaffen.«
Die Abgangsklasse ist wieder unter sich, weil Mrs. Erwin und Nettie nach Pineland Zentrum gefahren sind wegen Besorgungen, die mit der Garderobe der letzten zu tun haben.
Miss Bounces Wohnzimmer ist jetzt entweiht durch noch profaneren Gebrauch als je zuvor. Inmitten des Raumes befindet sich ein Sofa, das so aufgestellt ist, dass es die beste Luftzufuhr erhält, und auf diesem Sofa liegt Barbara Waite halb sitzend, den langsam sich bessernden Fuß auf einen Stuhl gestützt.
»Ich fürchte, ich habe, als ich mir den Knöchel verstauchte, nicht an euere Glückseligkeit gedacht,« entgegnet Barbara. »Kaum zu glauben, dass das erst drei Tage her ist! Übrigens, Jean,« wendet sie sich an ihre Freundin, die, den Kopf an den Fensterflügel gelehnt, auf den Boden sitzt: »Ich habe gar nicht gefragt, was aus ›Furchtlos‹ wurde.«
»Er ist zurück nach Hause gekommen, ganz von alleine. Ich glaube, Mr. Dart hat ihn gefunden, wie er im Wald gerade Beeren sammelte, nicht weit von der Stelle unseres Abenteuers. Ich wünschte, er hätte etwas Bilsenkraut Im amerikanischen Original: » deadly-night-shade«; dies entspricht dem Schwarzen Bilsenkraut ( Hyoscyamus niger), das toxisch und bei hinreichender Menge tödlich ist. Es ist auch in Nordamerika verbreitet. probiert.«
»Ich finde nicht, dass sich die arme Kreatur besonders schlecht benommen hat,« sagt Barbara. »Kein Wunder, dass er erschreckt war von dem Schwirren dieser Angelrute in der Stille! Man könnte ebenso Dr. Dart vorwerfen,« – Barbara ist die einzige des kleinen Kreises, die ihren neuen Freund stets mit seinen Titel nennt – »dass er nicht hätte dort sein und angeln dürfen.«
»Genau das tu' ich,« erwidert Jean, »oder zumindest hat er kein Recht, einen Hut zu tragen, der ihn vollständig von allem in der Natur ausschließt bis auf seine Angelausrüstung.«
»Niemand ist zu tadeln, außer mir selbst,« beteuert Barbara lächelnd. »Ich war so ein Hasenfuß, dass ich mich wie eine Wahnsinnige verhalten habe und einfach vom Sattel gesprungen bin, anstatt mich von ›Furchtlos‹ in den Wald schleppen zu lassen. Er wäre ja nicht weit gekommen.«
»Du wärst mit ihm auf alle Fälle nicht weit gekommen,« sagt Mabel. »Der Ast irgend eines Baumes hätte dich schnell herunter gefegt.«
»Na ja, ich hab's verbrochen; und jetzt zahle ich halt dafür,« sagt Barbara seufzend.
»Na klar, war alles nur dein Fehler,« sagt Jean ironisch.
»Vergesst den modus operandi!« sagt Ruth großartig. »B. ist eine Heldin. Sie hat das großartige Werk vollbracht, einen Gentleman in unserer Mitte einzuführen. Da ist nun einer, für den es sich lohnt, sich nachmittags aufzutakeln. Da ist einer, um den wir uns gruppieren können, wenn wir ängstlich zuschauen, wie von Barbaras Fuß der Verband abgerollt wird, und auf seine erstaunliche Größe und schönen Regenbogenfarben eine Minute lang starren, dann die Bandagierung betrachten, bis der Verband so mollig wie eine Mumie wieder ganz aufliegt, wonach wir uns allmählich entspannen und dem Doktor unschuldige Fragen stellen. Was glaubst du: wie lange kannst du dies aufrecht erhalten, Barbara? Welche Überlegung könnte dich dazu bringen …«
»Nichts wird mich dazu verleiten, dass ihr alle den Tag in diesem Zimmer verbringt,« sagt Barbara lachend.
»Pah, B.! Du willst doch nicht sagen, dass du so unfreundlich sein wirst? Ach, schau dir meine Garderobe an!« sagt Ruth und spreizt ihr graues Organdy Kleid aus transparentem Batist., das von kleinen blassblauen Verzierungen bedeckt ist. »Schau dir diese Fältchen an! Ich habe mich eine Viertelstunde lang nicht bewegt, damit ihnen nichts passiert.«
Barbara schüttelt nachdrücklich ihren Kopf.
»Nein, Ma'am; und keiner außer Jean soll bei mir bleiben.«
»Oh!« ruft Ruth und hebt ihre Augenbrauen mit erleuchteter Miene. »Da war ein fürchterlicher Slang-Ausdruck zu vernehmen, der diese Angelegenheit jedoch adäquat beschreibt. Es handelt sich augenscheinlich um einen eingefädelten Vorgang. Barbara und Jean haben ihn am Picknicktag schon geplant – natürlich haben sie das! Und jetzt versuchen sie das Ergebnis zu monopolisieren.«
Jean lächelt – halb verächtlich, halb traurig. Nichts von Ruths griffbereitem Geschwätz kann die Tatsache ändern, dass Barbara wieder einen Rückfall zu Blässe und Mattigkeit erlitten hat. Es scheint sogar, dass sie in diesen beiden Leidenstagen erkennbar dünner geworden ist. Wie soll sie sich so auf die Mühsal vorbereiten, die im Winter auf sie wartet? Was für einen Bericht kann Jean der geduldig in der aufgeheizten Stadt wartenden Mutter erstatten?
»Ich meine es immer gut, und mache es falsch,« denkt sie; »ich übernehme die Pflicht, Barbara nach draußen zu bringen, und dann lass' ich sie ein Pferd reiten, bei dem ich mir nicht sicher sein konnte.«
»Jean, ich werde den Mädels von unserem – du weißt schon – erzählen,« fährt Ruth mit geheimnisvoller Bedeutsamkeit fort und unterbricht damit die reuevollen Meditationen ihrer Freundin.
»Ja? Das ist nett! Ich will es auch hören, denn ich weiß überhaupt nichts davon,« entgegnet das Mädchen gelangweilt.
»Seht mal, Mädels: schaut Jean in dieser Position nicht ausgesprochen orientalisch aus? Beweg nicht deinen Kopf – so, ich hatte gedacht, ich könnte dich wieder zum Leben erwecken!« setzt sie hinzu, als Jean sich wieder aufrichtet und sie anschaut, »du bist so weit weg, meine Liebe! Wisst ihr, Mädels, Jean und ich hatten Mr. Dart schon vorher 'mal im Wald getroffen. Er angelte, wir waren auf Erkundungstour. Er unterstützte uns bei der Überquerung des Bachs über die Felsen – das heißt, er unterstützte mich. Jean kam alleine 'rüber, nicht wahr, Jean?« Und dabei schaukelt Ruth vor und zurück und lacht fröhlich bei der Erinnerung; als dann Jean nicht lächelt, sagt sie: »Ich glaube, du wirst zu einer Schülerin von Miss Bounce, Jean, eine regelrechte Männerhasserin. Hat nicht die liebe alte Hopeful wie versteinert geschaut, als Mr. Dart Barbara hier 'reinbrachte?«
»Aber wie freundlich sie war!« schaltet sich Barbara ein. »Sie nahm meinen Kopf richtig an ihre Schulter.«
»Ja! War das nicht ebenso komfortabel, wie sich auf einem Lattenzaun auszuruhen?« erkundigt sich Ruth. »Aber als sie erfuhr, dass Mr. Dart ein Arzt wäre, musste sie es aushalten, obwohl sie die von niemandem beachtete Bitte einwarf, dass man den Dorfdoktor holen solle.«
»Da ist das Fuhrwerk,« verkündet die bis dahin schweigsame Polly vom Fenster her. »Es befindet sich jemand neben Jabe auf dem Vordersitz. Es ist – nein, es ist nicht – doch, es ist – Mr. Dart.«
»Ich garantiere,« sagt Ruth, diskret näher kommend und aus der Fensterecke spähend, »Mrs. Erwin hat wahrscheinlich die Haupt- und Nebenstraßen nach ihm abgesucht.«
»Und wer, möcht' ich wissen, hat dazu mehr Recht!« versetzt Polly. »Ich glaube auch, dass es sehr aufmerksam von ihr war, ihn hierher zu bringen, wo sie wusste, er musste sowieso herkommen.«
»Ein Mädel mit trefflichem Herz!« sagt Ruth und tätschelt gönnerhaft ihre Schulter, »immer im Aufstand für die Unterdrückten.«
»Puh! Sei nicht albern! Natürlich muss Mrs. Erwin mit dem Mann, den sie heiraten wird, nicht auf Förmlichkeiten bestehen.«
»Vorsicht vor Übertreibungen, Polly. Sie sind nicht einmal verlobt. Ich fragte sie heute morgen rundheraus danach,« und damit verlässt Ruth das Zimmer und und geht hinaus zu den Angekommenen.
»Und wie geht es meiner Patientin, meinem Opfer, Miss Exeter?« fragt der junge Doktor, während er Mrs. Erwin und Nettie vom Wagen hilft.
»Ihrem Patientenopfer geht es, glaube ich, besser; aber es gibt nicht viel, woraus man das ablesen kann. Sie befindet sich in der gewöhnlichen chronischen Furcht, dass jemand den Stuhl berühren könnte, auf dem ihr Fuß liegt, und ist sehr gut darin, sich ruhig zu halten.«
»Meine Güte! Das nenne ich nicht gerade vorzüglich, dieses Wetter,« sagt Mrs. Erwin, die von Eifersucht auf Barbara und ihre Verstauchung gereizt und überhaupt geneigt ist, ihren Unfall als sorgfältig aufgebaute Falle zu betrachten, in die ihr ›seh' lieber Freund‹ mit generöser Kurzsichtigkeit getappt ist.
»Ich werde hineingehen und selbst nachschauen,« sagt Dr. Dart zum Haus strebend.
Mrs. Erwin wendet sich Ruth zu, die sich groß und huldvoll an einen der schlanken, altmodischen Pfeiler lehnt, die das Dach des Portikus Säulenvorbau am Eingang. tragen.
»Ich wollte Sie fragen, Miss Exeter,« sagt sie verdrießlich, »ob Sie es nicht auch für eine schreckliche Don-Quixoterie von Mr. Dart halten, dass er darauf besteht, seinen Geschäften fern zu bleiben, bloß um diese unbedeutende Verstauchung zu behandeln, als ob das der hiesige Doktor nicht ebenso gut könnte? Es ist das Albernste, was ich je erlebt habe.«
Ruth dreht sich zu Jabe, der langsam die Päckchen aus dem Fuhrwerk auf den Hofplatz stellt.
»Wie ist das, Jabe? Ist der hiesige Doktor ›eine Nummer eins‹ bei Knochen?«
Jabe schüttelt den Kopf.
»Weiß nich' viel von ihm. Glaub nich', dass 'r so gut is' wie unsrer. Unsere Leute meinen, 's gäb' niemanden wie ihn. Einmal, als 'ch noch 'n kleiner Kerl war, da bin 'ch aus 'm Fenster gepurzelt un' hab' mir die Schulter ausgerenkt. O mei! wie mein Vater sich da auf die Socken nach Dr. Stickby gemacht hat!«
»Und hat er dir weh getan, als er die Schulter wieder eingerenkt hat?«
»Nein, weil: eh' er Zeit hatt' anzukomm', bin ich dasselbe Fenster noch 'mal 'rausgepurzelt, und hab' se selbst 'rein gekriegt.«
Ruths Lachen beleidigt Mrs. Erwins Ohren.
»Dir ging's wie dem Brombeerstrauch-Mann
Dieser Anspielung liegt ein alter Kinderreim zugrunde:
There Was a Man in Our Town
There was a man in our town,
And he was wondrous wise,
He jumped into a bramble-bush,
And scratched out both his eyes;
And when he saw his eyes were out,
With all his might and main
He jumped into another bush
And scratched them in again., Jabe.«
»Ich bin überrascht zu erleben, wie Miss Waite sich derart opfert,« fährt die Witwe streng fort, als sich Jabe mit dem Fuhrwerk zur Scheune bewegt.
»Alles dummes Zeug, Tante Inez,« bemerkt Nettie, während sie eine geschlossene Prunkwinde aufwickelt; »wie wenn es dein Knöchel gewesen wäre?«
»Das wäre ja wohl hoffentlich etwas anderes,« entgegnet Mrs. Erwin würdevoll,« erwidert Mrs. Erwin mit Würde.
»Ja; das wäre eine viel bedeutendere Sache,« stimmt das Mädchen bösartig zu.
Ruth beeilt sich, einen Tadel der verärgerten Witwe abzufangen.
»Ich denke, es wird kaum ein großes Opfer für Ihren Freund sein, solange er ohnehin hier zu bleiben beabsichtigt. Man kann ja nicht die ganze Zeit angeln.«
»Natürlich, Sie betrachten den Fall eben von Ihrem Standpunkt und möchten, dass Ihre Freundin das Beste von allem erhält,« erwidert Mrs. Erwin, ihre Päckchen aufnehmend, »natürlich passe ich auf Mr. Dart auf, und es tut mir seh' leid, ihn in einer so unzuträglichen Lage zu sehen.«
Und nachdem sie sich so in eine bedenkliche Hitze gesprochen hat, kriecht Mrs. Erwin ins Haus mit einem alles durchdringenden Gefühl ihr angetanen Unrechts. Sie richtet einen flüchtigen, vernichtenden Blick auf die geschlossene Tür des Wohnzimmers und erklimmt die Treppe, um sich für ›ihren lieben Freund‹ zum Tee schön zu machen.
Inzwischen stattet Dr. Dart seinen ärztlichen Besuch ab – Polly und Mabel verlassen bei seinem Eintritt den Raum.
Er schüttelt Barbara die Hand und verbeugt sich vor Jean, deren Haltung und Benehmen nicht zu geringerer Förmlichkeit einlädt.
»Ich wünschte, ich könnte dieses Haus hochheben und es am Meeresufer oder auf den Bergen wieder hinsetzen,« sagt er, wischt sich mit dem Handtuch über die Stirn und setzt sich auf Barbaras Couch, hinter der Jean kühl wie eine Statur steht, aber bei diesen Worten errötet.
»Es wäre für Barbara besser gewesen, – Miss Waite hätte lieber in die Berge gehen sollen, nicht wahr?« fragt sie mit um so ängstlicheren und besorgteren Augen, je weniger die Kranke sie sehen kann.
Kenneth Dart empfängt ihren beständig fragenden Blick und bemüht sich, wie ein kluger Fachmann auszusehen, und nichts sonst. Nur einen Augenblick stellt sich ihm die Frage, ob er nicht mit nachdrücklicher Zustimmung antworten und Jean das Gefühl geben soll, dass sie unklug gehandelt hat – ganz recht gehend in der Vermutung, dass er genau in dem Maße, wie er Barbaras Lage zu verstehen scheint, selbst Bedeutung gewinnt in der Einschätzung ihrer ergebenen Krankenwärterin.
Nur einen Moment zögert er; dann wundert er sich über sich selbst, dass er einen augenblicklichen Gedanken zuließ, der dieser ihn selbstvergessend anschauenden empfindsamen Seele Schmerz zufügen könnte.
»Die Rote Farm wäre ein erfreulich gesundheitsfördernder Ort für Miss Waite gewesen, wenn sich nicht am Fluss solch gefährliche Charaktere herumgetrieben hätten,« antwortet er leichthin. »Ich versichere Ihnen, die Fische genießen jetzt einen Urlaubstag von mir. Wie geht es dem Fuß heute?«
»Geht so, denke ich,« versetzt Barbara heiter. »Es tut mir höllisch weh, ihn zu bewegen, also bewege ich ihn viel.«
»Na sehen Sie, es ist eben alles Geschmackssache,« entgegnet Dr. Dart lächelnd und entnimmt seiner Arzttasche eine Flasche und eine Verbandsrolle.
»Ich glaube, unter diesen Umständen sollte ich meinen Fuß ruhig halten.«
Jean beobachtet seine raschen, akkuraten Bewegungen und hält die ganze Situation entschieden für befremdlich.
»Er sieht überhaupt nicht wie ein Doktor aus,« beschließt sie, »mit diesem kurz geschorenen Haar und dem Schurrbart ähnelt er fast einem Dandy. Vielleicht ist er ein Hochstapler. Wer weiß?« fragt sie sich ernsthaft, obwohl sie die ganze Zeit vom Gegenteil überzeugt ist. »Nach eigenem Geständnis praktiziert er nicht regelmäßig, und ich verhalte mich falsch gegenüber Barbara, wenn ich nicht darauf bestehe, woanders besseren Rat zu suchen;« und so gestärkt, ist sie drauf und dran, dieses Thema mit ihrer gewöhnlichen alarmierenden Offenheit zur Sprache zu bringen, als der junge Mann selbst zu sprechen beginnt.
»Seien Sie bitte so freundlich, dies für mich zu halten, Miss Ivory,« sagt er; »ich habe diesen Verband befeuchtet und leider nichts, wo ich ihn hinlegen kann;« und so kommt Jean zum Fußende der Couch und steht neben ihm mit einem Gesicht, das nichts von Sanftmut andeutet.
»Sind Sie ganz sicher, dass Sie wissen, was am Besten in diesem Fall zu tun ist, Mr. Dart? Sie verfügen gewiss nur über wenig Erfahrung,« sagt sie.
Dr. Dart schaut rasch auf von den weißen Händen, auf die er den Verband gelegt hat, und Jeans Augen treffen auf seinen suchenden amüsierten Blick.
»Werden Referenzen gewünscht, Miss Ivory?« fragt er lächelnd; dann fährt er ernst und gewandt in seiner Arbeit fort, während Jean ungestüm und zornig wird.
»Falls Miss Waite nicht rasch Fortschritte macht,« fängt sie an – aber ein überraschter, tadelnder Blick von Barbara bremst sie.
»Ich verstehe,« sagt Kenneth langsam; seine gesamte Aufmerksamkeit ist auf die Regenbogenfarben des Knöchels gerichtet, auf die Ruth sich bezogen hatte, »falls wir hier nicht in der Lage sind, diese Verstauchung zu kurieren, brauchen wir ein Konklave der geschicktesten Chirurgen in Boston, die dazu eine Sitzung veranstalten.«
»Oh, schrecklich!« lacht Barbara unbehaglich; sie möchte die Sache mit einem Scherz erledigen, während Jean sich wieder lächerlich gemacht und gedemütigt fühlt und sich fragt, wieso der Fremde eine solche Macht hat, sie zu verwirren.
»Sie sehen, Miss Waite, ich habe das Gefühl, als könnte ich niemand anderen in dieser kummervollen Periode Sie behandeln lassen, denn es tut mit so sehr leid, den Ruin ihrer Sommerfrische verursacht zu haben.«
»Das haben Sie nicht, Dr. Dart,« widerspricht Barbara ernstlich; »und glauben Sie mir, ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie mich nicht der Gnade eines Landarztes ausgeliefert haben.«
Jean fühlt sich ausgesprochen unbehaglich, und die schöne Farbe, die das wahre Vorrecht einer Brünetten ist, erglüht auf ihren Wangen.
Dr. Dart nimmt weiter keine Notiz von ihr. Sie hat ihren Zweck als Ablage erfüllt, und da die Anlegung des Verbandes vorüber ist, kann sie zu ihrem alten Platz am Fenster zurückkehren.
»Sie sind niemals, auch zu Ihren besten Zeiten, sehr stark gewesen, schätze ich, Miss Waite?«
»Nein. Mein Vater starb an Schwindsucht, und ich fürchte, ich habe dieselbe Neigung,« antwortet Barbara ruhig.
Jean traut sich nicht, in die Richtung der Sprecher zu schauen. Es ist das erste Mal, dass sie Barbara von ihrer Gesundheit reden hört, und ihr sinkt das Herz, schwer wie Blei.
»Ah? Dann sollten Sie froh sein, dass Sie zu einer Generation gehören, die weiß, wie man diesem Erzfeind einen Strich durch die Rechnung macht,« entgegnet der Doktor heiter. »Ich würde sagen, Ihr Schulleben war für Sie zu einengend, aber damit ist es jetzt vorbei.«
»Nein, ich fange im Frühling an zu unterrichten,« sagt Barbara und heftet ihre gefährlich klaren grauen Augen konzentriert auf ihren Gesprächspartner, den sie unmittelbar vor sich sieht, als er sich vorbeugt, seine Ellbogen auf die Knie gestützt, das Kinn auf seinen verschlungenen Händen. »Was bringt mir diese Art von Leben? Kann ich solche Regeln befolgen, als wäre ich längere Zeit in der Lage, es auszuhalten?«
»Ich kenne Sie nicht gut, aber dennoch glaube ich nicht, dass Sie sehr krank sind, Miss Waite. Ich glaube, Sie dürfen einen heiteren Blick in ihre Zukunft werfen.«
Barbara schaut nieder auf ihre gefalteten Hände.
»Ich habe erlebt, wie mein Vater starb,« sagt sie schlicht.
Jeans Augen schwimmen. Sie könnte den jungen Arzt segnen für seine zuversichtlichen Worte, so unwissend sie auch sein mögen; und wie seltsam es sich anfühlt zu hören, wie offen Barbara zu ihm spricht. Da blitzt ein neuer Gedanke durch Jeans erregten Geist.
Wie schön es für Barbara wäre, diesen Mann zu heiraten, und wie natürlich für ihn, sie zu lieben und zu schützen. Sie hat das Gefühl, dass sie ihm in diesem Fall seine undankbare, hochnäsige Ablehnung ihrer Wohltätigkeit vergeben und über die ganze Angelegenheit wie über einen ziemlich guten Scherz lachen könnte. Sie könnte sogar mit Barbaras Ehemann darüber sprechen und ihn an die Zeit erinnern, wo er sie so böse abblitzen ließ, und ihm auch vergeben, der Anlass für den Unfall gewesen zu sein, der zu einem solch glücklichen Ergebnis geführt hatte.
»Ich werde Ihnen etwas Arznei geben, die Sie einnehmen, solange Sie aufs Haus beschränkt sind,« spricht der Doktor wieder; »sie wird diese Periode der Untätigkeit überbrücken und einem schlimmem Verlauf entgegen wirken. Ich werde Sie Ihnen so rasch wie möglich bringen; und jetzt muss ich mich verabschieden, denn es hätte keinen Sinn, Miss Bounce zu zwingen, mich zum Tee einzuladen.«
»Warten Sie nicht auf ihre Einladung, Sie bekommen unsere; würde das nicht reichen?« fragt Barbara mit rechtzeitiger Rückbesinnung auf Ruths Garderobe.
»Diesmal nicht, glaube ich,« sagt Doktor Dart und dreht sich zu Jean, als wolle er sie ansprechen; sie sieht ihn an mit feuchten Augen und leicht geöffneten Lippen und einem Ausdruck in ihrem Gesicht, der ihm neu ist. Nicht einmal an jenem erinnerungswürdigen Tag, als sie ihm einen so beflissenen und freundlichen Blick zuwarf, während er D****'s Drogerie verließ, hat das bewegliche Gesicht so schön ausgesehen.
»Sie wollen heute nachmittag noch zur Stadt? Geben Sie mir doch das Rezept, und ich werde einen Boten schicken.«
So erklärt sich der liebevolle Gesichtsausdruck.
Nichtsdestoweniger starrt Kenneth Dart einen langen Augenblick auf die Schönheit vor ihm, bevor er antwortet.
»Es gilt keine Zeit zu verschwenden, Miss Ivory. Ein schönen Tag noch.«
Beim Sprechen bietet er ihr halbwegs seine Hand. Jean jedoch hat den ausdrucksvollen Blick inzwischen bereut und ihre Augen gesenkt, so dass sie die kleine freundliche Bewegung anscheinend nicht sehen.
»Guten Tag,« antwortet sie leise.
»Kommen Sie morgen?« lächelt Barbara mit besonderer Herzlichkeit.
»Ich denke ja.«
Dann verlässt Dr. Dart mit einer Verbeugung, die sich an beide jungen Damen richtet, das Zimmer.
»Jean, weißt du, dass du regelrecht hasserfüllt geschaut hast, als Dr. Dart dir die Hand schütteln wollte? Was ist los mit dir?« fragt Barbara nicht wenig verärgert. »Welch' eine Antwort auf seine Freundlichkeit!«
Miss Ivory's Gesicht glüht schmerzhaft. Wie gewöhnlich mit diesem jungen Doktor hinterbleibt ihr ein Gefühl von Hilflosigkeit; ein Bewusstsein, dass sie im Verhältnis zu ihren geistigen Fähigkeiten bei weitem unerzogener war als die viel missachtete und von oben herab angesehene Nettie Dart; aber es ist für Jean nicht leichter als für andere, sich selbst Fehler einzugestehen.
»Wenn ich die Freundlichkeit deines Arztes erwidern würde, wie sie es verdient, B., könnte ich nicht so höflich zu ihm sein, wie ich bin. Aber für ihn würdest du jetzt umher wandern, um Appetit und rosige Wangen zu bekommen.«
»Höchstens wie von weißen Rosen, fürchte ich; ich kann mir nicht einbilden, je rosa Wangen zu bekommen,« entgegnet Barbara wohlgelaunt.
»Ein guter Appetit wirkt Wunder,« erklärt Jean, »aber ohne Zweifel würde früher oder später ›Furchtlos‹ etwas Schreckliches getan haben, auch ohne die Einmischung von Mr. Dart, und hier kommt meine Freundlichkeit zur Geltung. Schimpf mich aus, Barbara, ich verdiene es,« sagt Jean und setzt sich am Sofa auf den Boden, sich mit dem Kopf anlehnend.
»Ich verbiete dir noch ein Wort dieser Art zu sagen. Ich schäme mich für dich, dass du so beschränkt bist. Was ist aus dem ›gesunden Geist in einem gesunden Körper‹ geworden, über den Professor Laramie früher redete und von dem du das beste Beispiel warst? Man darf an deinen Beschwerdegrund gegen diesen freundlichen, selbstlosen Gentleman, und wie du ihn behandelst, gar nicht denken! Ach, ein Blick in sein Gesicht reicht völlig aus. Es ist das reinste,« hier kommt von Jean ein tiefer Atemzug, »das beste Gesicht, mit den beständigsten, ausdruckvollsten, hübschesten Augen, das ich je gesehen habe. Nur du …«
»O, hör auf! Das ist nicht gerecht, Mausie! Ich dachte nicht, dass du mich so hart schelten würdest,« sagt Jean und legt ihre Hände über ihren gebeugten Kopf, als wolle sie ihn vor dem ungewohnten Sturm schützen. Die Rechte trägt einen großen Smaragd, die andere hat keinen Ring.
Barbara drückt leicht die Hände, die so rund und weiß sind, auf ihren schwarzhaarigen Untergrund.
»Sehr gut; sieh zu, dass du dich in Zukunft besser beträgst,« sagt sie.
Dr. Dart hat die Tür hinter sich geschlossen; ihn peinigt die Entdeckung von Miss Ivorys Aversion gegen sich, abgesehen von einem gewissen Nutzen, den er vielleicht für ihre zarte Freundin hat, und eine Spur von Kummer zeichnet sein Gesicht, als er auf den Hofplatz tritt, wo Ruth immer noch sitzt.
»Ist alles, wie es sein sollte?« fragt sie über die Schulter.
»Schwerlich,« antwortet er.
»Was ist los?« fragt Ruth etwas besorgt.
»Abtötung hat eingesetzt, Miss Exeter,« erwidert er mit spöttischem Lächeln, »aber nicht im Knöchel: dem geht's gut. Können Sie mir den Aufenthaltsort Ihrer Wirtin verraten?«
»Ich kann Sie zu ihr bringen, sie pflückt gerade Erdbeeren,« sagt Ruth aufstehend und geht neben dem Gentleman davon, beobachtet von drei Paar Augen, Mabels und Pollys aus dem Kastanienhain, und Mrs. Erwins aus den geschlossenen Jalousien ihrer Wohnung.
»Sie hat die ganze Zeit für ihn auf der Lauer gelegen, würde ich sagen,« denkt verbittert die Witwe.
Sie bereut inzwischen ernsthaft, überhaupt zur Roten Farm gekommen zu sein, und sagt sich, das es ihr erst wieder gut geht, wenn sie mit ihrem ›seh' lieben Freund‹ fliehen kann, bevor er Interesse nimmt an einer dieser jungen Damen.
Ob Mrs. Erwin Kenneth zu heiraten erwartet oder nicht, wäre eine für jeden, einschließlich ihrer selbst, schwer zu beantwortende Frage. Er hat sich seit ihres Mannes Tod unumwunden freundlich ihr gegenüber verhalten, und ein starkes Band ihrer Vertrautheit bestand in der Sorge um Nettie; aber die Witwe hat sich nie vorgegaukelt, dass er sie liebe. Dennoch spricht sie ihm ein Eigentumsrecht zu, ist stolz auf ihn und liebt ihn auf ihre Art, die verwelkte kleine Dame, denn er hat den größeren Teil ihrer Welt gebildet während ihrer abgeschiedenen Trauerjahre; und die schwerste Prüfung ihres bisherigen Lebens, abgesehen von dem erzwungenen Verzicht auf den Pomp und die Eitelkeiten der Gesellschaft während eines weiteren Jahres, wäre die Erkenntnis, dass dass er eindeutig einer jüngeren, hübscheren Frau als sie selbst angehörte.
Ruth führt Dr. Dart hinten durch den Obstgarten.
»Es ist egoistisch von mir, Miss Bounce nicht bei ihren Erdbeeren zu helfen. Das arme Ding, ich glaube, sie wird froh sein, dass das die letzten davon sind, denn es dauert so lange, sie für uns zu pflücken. Wir haben einen ganz schrecklichen Appetit,« gibt Ruth zu. »Da ist sie, dort hinten über den Bach. Trauen Sie sich ungeschützt in Ihre Gegenwart?«
»Ja, wenn Sie hier warten würden und dafür sorgen, dass es zu einem ehrlichen Spiel kommt,« antwortet der Gentleman und überquert den schläfrigen kleinen Bach, während Ruth sich auf die rustikale Bank setzt.
Miss Bounce, in der Abgeschiedenheit ihres Sonnenhuts über die Erdbeeren gebeugt, ist geschäftig bei der Arbeit, schaut jedoch plötzlich auf, als eine männliche Stimme sie grüßt. Als sie den jungen Doktor wahrnimmt, stellt sie sich sehr gerade vor ihn hin mit dunklem Argwohn in ihren Augen.
»Entschuldigen Sie, dass ich Sie störe, Miss Bounce, aber ich muss einige Anweisungen wegen Miss Waite hinterlassen, die gewiss von niemandem besser beachtet werden als von Ihnen.«
»Hm!« stößt Miss Bounce aus; sie ist keineswegs unempfänglich für die feinsinnige Schmeichelei dieser kultivierten Stimme.
»Ich wünsche, dass Miss Waite jeden Tag etwas Whisky bekommt, und ich weiß, dass Sie …«
»Sie wissen, dass ich – was? Wovon sprechen Sie, Sir? Ich schätze, jeder in Pineland weiß, dass ich das Gelöbnis Hierbei geht es um das Gelöbnis, auf Alkohol Verzicht zu leisten. Die diesbezüglich in England seit den 1830er Jahren zu beobachtende Entwicklung führt zu Gesellschaften, die ab den 1840er Jahren auch in den USA Nachahmung finden; diese stellen schriftliche Verzichtserklärungen aus, die von den Mitgliedern unterzeichnet werden (» pledge«). unterzeichnet habe,« unterbricht die alte Jungfer erregt. »Sie kommen hier an und beleidigen mich auf meinem eigenen Erdbeerfeld? Sie sollten wissen …«
»Aber, Miss Bounce, Sie missverstehen mich,« wirft der junge Doktor ein und weht Ruth mit seinem Taschentuch hinter dem Rücken ein Zeichen der Gefahr zu. »Alles, worum ich bitte, ist, dass Miss Waite jeden Tag etwas Eierflipp bekommt, um ihre Stärke zu erhalten. Wie könnten Sie glauben, ich würde irgendetwas gegenüber einer so bewundernswerten Wirtin wie Ihnen andeuten wollen? Ich habe das sichere Gefühl, dass Sie einen wirklich kunstvollen Eierflipp bereiten würden.«
» Ich habe überhaupt kein sicheres Gefühl bei all dem!« versetzt Miss Bounce, ein bisschen beschämt wegen ihrer Schroffheit. »Ich weiß nich', ob meine Prinzip'jen es mir erlau'm, in meinem Haus ein Getränk zu machen mit Whisky drin.«
»Auch nicht im Falle von Krankheit? Denken Sie eine Minute darüber nach! Würden Sie ihrem Gewissen nicht eine viel größere Last aufbürden, wenn Sie Miss Waite anschauen und denken, Sie könnten etwas für sie tun, und hätten es abgelehnt?«
»Ich weiß nich', ob es ihr irgendwie gut tun würde,« sagt Miss Bounce, schaut hinunter und schiebt mit dem Fuß ein verwelktes Blatt beiseite.
»Aber ich sage, das würde es.«
Miss Hopeful schweigt eine halbe Minute.
»Ich hab' keinen Schnaps im Haus,« bemerkt sie schließlich und schaut hoch zu ihrem Gesprächspartner.
Mr. Dart steckt seine Hand in die Tasche seiner Baumwolljacke und zieht ein Fläschchen hervor.
»Es ist rein,« sagt er und dreht den Verschluss ab, während seine Lippen zucken. »Würden Sie bitte daran riechen und sich überzeugen?«
Miss Bounce schaut ihn noch argwöhnischer an; doch sein Gesicht ist todernst, als er das Fläschchen anbietet.
»Davon versteh' ich nix; aber ich werd's anwenden, wenn Sie's woll'n.«
»Das will ich, Miss Bounce, und ich danke Ihnen auch sehr. Wollen Sie mir nicht die Hand reichen, um mir zu zeigen, dass Sie mir vergeben, wenn ich Ihren alten Arzt entthront habe?«
Miss Hopeful kann dem hübschen Gesicht und der gewinnenden Art nicht widerstehen. Sie gibt ihm ihre Hand ziemlich verlegen.
»Ihm macht's nicht viel aus, und Sie wer'n ganz schmutzig,« bemerkt sie praktisch; aber tief in ihrem Herzen mag sie die Art, wie Kenneth Dart vor ihr beim Fortgehen den Hut lüftet – den schmalen Strohhut diesmal, mit einer leicht aufgerollten Krempe.
Während er sich entfernt, gönnt sie der eleganten kleinen Flasche in ihrer Hand einen verstohlenen Blick.
»›K. D.‹,« sagt sie, die Initialen entziffernd, und steckt sie in ihre Tasche. »Dass ich in meinem Alter noch eine Rumflasche verstecke!« denkt sie mit grimmigem Lächeln, als sie sich wieder ihrer Arbeit zuwendet.