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Schlußbemerkungen

Man ist nicht frei, das zu denken, was man denkt; so wenig man frei ist, das zu verdauen, was man ißt. Nicht diese Freiheit aber ist wichtig, sondern die Illusion, daß man sie besitze. Jedes Liebespaar glaubt für eine Zeit – im Anfange seiner Zeit, wo die Illusion am notwendigsten und daher am stärksten ist –, daß es in den Sternen geschrieben stünde, sie seien füreinander bestimmt gewesen. Sie werden von einem Zufall ihres Treffens nicht wissen wollen, weil er der Stärke ihres Gefühles Abbruch täte; sie werden einander für vorbestimmt halten von Ewigkeit zu Ewigkeit und jeden Einwand, daß ihre Liebe ein Ende in der Zeit finden könnte, für jede andere Liebe, aber nicht für die ihre gelten lassen. Diese Illusion ist notwendig, denn ohne sie käme auch das Geringste dessen, was man Liebe nennt, nicht zustande.

Die Macht des Wortes über den Menschen und die Leichtigkeit, mit der es sich beim Impulsiven in einen Akt umsetzt, kann nicht überschätzt werden. Alle Erziehung und ihr Gegenteil basieren darauf. So verbreitet, daß es sich gar nicht mehr als besonders abhebt, ist die Wirkung des Wortes Liebe auf die Menschen, daß sie der suggestiven Fülle dieses Wortes erliegend schon bei dem geringsten sinnlichen Verlangen meinen, sie lieben, oder – und dies wird für die öffentliche Moral wichtig – andern Paaren und Individuen solche Gefühle absprechen, deren Beziehung entwerten, um ihrer eigenen Liebesform den ausschließlich gültigen Wert zu geben. So hat die höfische Moral die eheliche Liebe zugunsten der Minne als der allein wahren Form der Liebe entwertet. Ebenso entwertete im neunzehnten Jahrhundert die Moral die freie Liebe zugunsten der ehelichen Liebe.

Damit eine öffentliche Moral sei, ohne welche soziale Beziehungen irgendwelcher Art unmöglich wären, kommt es darauf an, daß die Gesellschaft so tut, als ob sie über gewisse Vorurteile der gleichen Meinung wäre. Worauf in der Moral man sich zu einer Meinung geeinigt vorgibt, das ist nach außen hin bestimmt, nach dem Inhalt hin undeutlich. Weil diese Undeutlichkeit allein eine Verständigung ermöglicht, das heißt erlaubt, das darin zu finden, was man selber hineinlegt. Jede Präzisierung würde zu Kontroversen führen, die ohne Lösung sind. So ganz besonders im sexuellen Schamgefühl. Ängstliche halten es oft bei lächerlichsten Anlässen für bedroht. Aber es hilft sich in kritischen Situationen als eine erhaltende Kraft, die es ist, immer selber.

Die Zahl der Frauen, die sich für das Vergnügen der Liebe bereit fanden, sei es um Geld, sei es aus mondäner Verpflichtung zur Lasterhaftigkeit, hatte sich bis heute außerordentlich vermehrt und damit auch die Prädominanz des bloßen Vergnügens. Das Angebot überstieg weit die Nachfrage, entsprach aber immerhin der männlichen Neigung zum Wechsel des Objektes seiner Neigung. Nun nutzte sich aber das Vergnügen, eben weil es nichts als das ist, ab. Es minderte sich sowohl sein Reiz an sich als auch die Reizfähigkeit des Mannes. Es bereitete sich eine Reaktion dagegen vor, eine auf eine andere Idealität gestellte Liebe. Aber deren Formen sind noch kaum zu ahnen.

Man konstatiert, daß die heutige Frau ein Beherrschtwerden durch den Mann nur mehr vorgibt. Weil der heutige Mann auch seinerseits nur eine Stärke vorgibt, die er nicht besitzt. Er nähert sich dem früheren femininen Typus an, nicht, wie man oft meint, die Frau dem maskulinen. Die manns-hysterischen Krämpfe versuchen diese Tendenz zu maskieren hinter Brutalität, Heldentum, Sport, Verachtung der Frau. Aber in diesen Formen wird nur Impotenz jeder Art als Ranküne abreagiert. Der Stolz des Mannes scheint dumm geworden.

Eine Frau zu gewinnen, hat der Mann drei Wege: er kann es mit der sinnlichen Leidenschaft versuchen, das ist der alte, selten mehr begangene Weg. Er kann es mit der Zärtlichkeit versuchen, ein als altmodisch verrufener Weg. Und drittens mit der Libertinage. Die Frau von gestern, welche zu Anfang ihre Gründe zur Liebe nicht kennt – sie kommt erst in deren Verlauf darauf –, ging auf jede Art ein. Der heutige Mann hat seine Leidenschaft, wenn sie überhaupt vorhanden, früh verbraucht. Für die Zärtlichkeit hat er wenig Eignung und noch weniger läßt ihm die Zeit Zeit dafür. So versucht er es meistens mit der Libertinage. Es ist das heute für die Beteiligten das bequemste Mittel. Auch für die Frau. Sie bleibt dabei. Die Libertinage führt oft zu dem, was man ein Verhältnis nennt, wo dem Manne meist nur an einigen Gunstbezeigungen gelegen war und nicht an mehr. Er geht ein Verhältnis ein aus Mangel sowohl an Leidenschaft wie an Zärtlichkeit. Und die Frau des gestrigen Typus aus Trägheit des Herzens: sie würde sich noch mehr langweilen, wenn sie nicht einen Geliebten hätte der sie unglücklich macht. Aber diese Frau wird immer seltener. Sie ist ein Zerfallstypus, den keine neue kulturelle Form mehr einfängt und bindet, sondern ausscheidet und vertilgt.

Denn nur dem äußeren Anschein nach gibt es heute sogenannte Liebe in Abundanz. Faktisch ist diese Fülle, wenn man das geringe sinnliche Vergnügen ausscheidet, Ergebnis, von nervöser Unruhe und Ungeordnetheit der Gedanken. Auch von sehr viel Langeweile. Die Nachgiebigkeit zur Liebe entspricht bei den meisten Menschen dieser Zeit nicht einem Verlangen, das man wirklich hat, sondern das man haben möchte. Dazu kommt die Angst vor dem Alleinsein, die besonders der Großstädter erleidet und nicht erträgt. Diese Angst führt zur Geliebten oder zum Liebhaber, aber nicht zur Liebe. Auch die Worte geben ihr eine scheinbare Latenz. Die heutige Luft ist voll von Worten der Liebe. Die Liebesworte aller Jahrhunderte liegen auf dem Markt – einst Ausdruck für ein Gefühl, einen Zustand, sind sie heute nur Provokatoren eines Gefühles oder dessen, was man dafür vermeint. Die Worte haben ihre Bedeutung, aber nicht ihren infektiösen Charakter verloren; der kleinste Anfall des Augenblickes gibt ihnen Virulenz.

Mehr ins Gewicht fällt die zunehmende Komplikation der weiblichen Psyche, mit welcher der Mann nicht fertig wird. Nicht wenig auch der Umstand, daß die heutige Frau in der Geschlechtsfunktion nicht mehr den Gipfel der Liebe sieht, was sie für die erotische Konstitution des Mannes noch immer ist. Und daß die heutige Frau ihr Leben nicht mehr von dieser Geschlechtsfunktion so imprägnieren läßt, daß sie darin aufzugehen scheint und die jederzeit dafür Parate ist. Wie es der Mann für das Anfallsweise seines geschlechtlichen Appetites wünscht. Nun muß er fürchten, den Moment falsch zu erwischen. Oder muß eine partielle Unbeteiligtheit der Frau an dem Akte fürchten, gewissermaßen ein aus dem Bette herausgestrecktes intellektuelles Bein, das sich lustig macht. Was ihn stört, irritabel wie er ist. Darüber helfen nur gewisse Modi ehelicher Gewöhntheiten weg, welcher Umstand den heutigen Mann immer wieder in die Ehe führt. Das Laub in diesem ehelichen Bois d'Amour fällt wohl gelblich von den Bäumen, aber es bietet immerhin ein Lager, und die kahlen Stämme geben einen kleinen Schatten. Genug, um sich, wie man nun sagt, mit dem Herzen zu lieben.

Die Ehe, das Kernstück der geschlechtlichen Moral, beginnt ihren mystischen Charakter, der ihr besonders im neunzehnten Jahrhundert verliehen wurde, zu verlieren. Sie wird zunehmend eine einfache leicht lösliche Assoziation, mit Liebe etwas pigmentiert. Mit dieser ihrer Mystik entkleideten Ehe verschwinden zwei typische Begleiterscheinungen: die Tyrannei der Familie und das für die Ehe dressierte junge Mädchen. Es gab eine kurze Zeit, wo das junge Mädchen von seiner schlimmen Reversseite abgelöst wurde: der Studentin. Es war eine kurze Blendung der aus der Haft Entlassenen und bald überstanden. Der nächste Schritt schon zeigte die innere und äußere Welt viel weiter und tiefer, als daß sich die Frau den Fuß an den Pflock eines Berufes gebunden hätte, dessen kleiner Umkreis nun mit Würde abzugrasen wäre. Außerordentlich viele Kräfte der Frau mußten innerhalb der Familientyrannei verkümmern oder verheuchelt werden. Man nannte Kinder kriegen, säugen, pflegen, aufziehen die natürlichen Aufgaben der Frau, in denen ihr Leben beschlossen sei. Welches Leben sie von jedem andern Leben so gut wie ausschloß.

Die moderne Ehe gibt zu wenig Garantien, weder für ihre Dauer noch für die wechselseitige Sympathie der Gatten, als daß man sich die Angelegenheit durch die Anwesenheit von Kindern erschweren will. Das Geschäft des Kinderbekommens ist so immer mehr jenen überwiesen, die auch sonst Arbeit leisten, den unteren Ständen der Arbeiter und Bauern. Utopisten, mit dieser Teilung nicht zufrieden, predigen die Rückkehr zur Natur der Bauersfrau. Aber das tat man nur einmal als Gesellschaftsspiel zur Zeit Rousseaus, wo sich die Prinzessin als Hirtin verkleidete, um gleichzeitig raffiniert und primitiv zu vereinen. Die Spielerin wurde der Rolle bald müde und war mit allem Vergnügen wieder das, was sie wirklich war. Wie die Mode, so kommt auch die Moral von oben nach unten, von der Elite zum Volke, nicht umgekehrt.

Das Erotische steht immer in Opposition zum Mucker und degeneriert unter dem Schutze eines feigen Schamgefühls. (Es gibt, sagte Anton Kuh, gewiß nicht wenige Deutsche, welche das Wort Erotik von Erröten ableiten.)

Ein boshafter Witz über das allgemein verbreitete philiströse Schamgefühl.

Der existentialistische Philosoph Sartres sagt: Der Mensch ist, wozu er sich macht. Das Schamgefühl ist kein Geschenk der gütigen Natur. Der Mensch schuf es sich selbst, als Schutz gegen das Anarchische in der Natur, das seine Existenz bedroht. Aus einem funktionellen Ablauf des Geschlechtlichen schuf er sich die unsterbliche Idee der Liebe.

Der Mensch ist nicht, er wird. In dem Werden liegt Glück und Gefahr. Das Schamgefühl wird zur hemmenden oder regulierenden Kraft, je nach der Stufe der Entwicklung. Die Menschheit ist jung in einer uralten Welt. Bezaubernd wie die Morgenröte war die Scham der Jugend beim Erwachen der ersten Liebe – über noch unverdientes Glück, über noch ungeschehene Tat. Ver sacrum, heiliger Frühling, nannten die Alten die Zeit der flammenden Sehnsucht der Jugend nach dem großen Abenteuer der Liebe.

Gibt es auch kein Zurück – es gibt immer wieder eine neue Jugend. Sie formt sich ihr Schicksal und ihre Liebe.


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