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Den Verfall des mönchischen Ideals und die Verweltlichung der Klöster durch ständige Visitationen und sich wiederholende Reformen aufzuhalten, bemüht sich die Kirche das ganze Mittelalter hindurch vergeblich. Sieben Jahre ist die festgesetzte untere Altersgrenze für die Oblaten – Kinder, welche die Eltern ins Kloster stecken. Da sieht dann etwa eine Nonne, die seit ihrem achten Jahre im Kloster lebt und nun dreiundzwanzig Jahre da verbracht hat, einen Ziegenbock seinen Kopf über die Mauer stecken. Nie hat sie so etwas gesehen. Fragt sie eine andere Nonne, was das sei, bekommt sie zur Antwort: So kriegen die Weiber, die in der Welt leben, Bart und Hörner, wenn sie alt werden. Da lernt ein Bischof kurz vor seiner Weihe einen lateinischen Text, den er zu sprechen hat, auswendig. Aber er versteht die Worte nicht, die er sagt, unterbricht sich, sagt: Ein Schelm hat das erfunden. Eine Verordnung befiehlt, daß kein Junge die Weihen erhalte, der seine Gebete nur lateinisch aufsagen kann, aber die Grammatik nicht kenne. Was den Gottesdienst betrifft, den sie abhalten, so ist der so voller Sinnlosigkeit, Unordnung und Unverstand, weil sie aller einfachsten Kenntnisse ermangeln; sie verstehen weder was sie sprechen noch was sie singen. Sie lernen und lesen nichts, bringen ihren Tag hin in leerem Schwatz, Würfelspiel, Fressen und Saufen. Streiten untereinander, haben Dolch und Bogen immer zur Hand, und das ganze Kloster sieht aus wie ein belagerter Ort. Jeder besitzt eignes Vermögen und sucht es zu mehren. Sie machen sich über die Arbeit lustig und über die Keuschheit und über den Gehorsam. Und wenn sie schon, gegen die Keuschheit sündigend, dabei mäßig wären! Aber der Stank ihrer Lüste zieht durch das Land. Wer soll's bessern? Der Bischof? Der kümmert sich nur um sich selber, sucht seinen eignen Gewinn und spottet des unsern. Der Fürst? Der verkauft seine Gnaden, sucht das Weltliche und weigert Gehorsam. So schreibt Johann von Tritthelm, der Benediktiner, 1493 in seinem Rundschreiben über den Zustand und Ruin der Mönchsorden.
Der Prozeß des Verfalls, der zwei Jahrhunderte zuvor begonnen hatte, war nicht mehr aufzuhalten. Das von den Mönchsorden gebrochene Gelübde der Armut mußte das Gelübde des Gehorsams und der Keuschheit zu Fall bringen. Sie lagen bei den Weibern, lagen in den Schenken, trieben Handel, suchten den Geldgewinn. Nur die Kirche, nicht die Welt nahm ihnen das übel. Der schlechte Mönch des Mittelalters, der durch seine weltliche Lebensführung das Heilige entheiligt, erleichtert dem Weltkind die Haltung, das Irdische besser zu finden, als man ihm gepredigt hat, ja, es gut zu finden. Der Triumph der realistischen Welt jubelt, höhnt, phantasiert in dem ersten Buche, das dieser Welt getreuer Spiegel ist: in des Giovanni Boccaccio Decamerone.
In einem Briefe an Zanobi della Strada wehrt sich der junge Boccaccio gegen den Spottitel Giovanni della tranquilità, was einen honetten, leichtherzig dahinlebenden Mann bedeutet. In einem tieferen Sinne war ihm aber der Name schon richtig gegeben. Wie er selber sich immer zeichnet, war er ein das gute Leben liebender Bürger, der seine Bücher liebte und höchstes Glück in der befriedigten Lust eines sinnlichen Appetites fand. Boccaccios Bewunderung für Dante ist groß und aufrichtig. Und dennoch ist seine mit Zitaten und Gelehrsamkeit gespickte Schrift über ihn ein großes Mißverständnis des Florentiners. Dante erzählt die erste Liebe zur neunjährigen Beatrice: Boccaccio erklärt, daß der Mai, der Wein und das gute Essen aus dem Knaben frühzeitig einen Mann gemacht haben. Beatrice, Dantes jüngsten aller Engel – Boccaccio zeichnet ihr anmutiges Bild in aller Irdischkeit fleischlichen Daseins. Und alles das im tiefsten Bedürfnis, Dante über alle Dichter zu stellen und sein Leben über alle Leben. Nichts kann deutlicher als dieses Leben Dantes, das Boccaccio schrieb, den Abgrund aufweisen, der den geistlichen Enthusiasmus des Mittelalters von dieser neuen Zeit trennt. Boccaccio drückt Geist und Haltung der nächsten zwei Jahrhunderte aus. Er war der erste, der an die Stelle der aristokratischen und der gelehrten Literatur eine solche des Volkes setzte.
Der Literaturhistoriker De Sanctis nannte das Decamerone, Boccaccios unsterblichen Titel, die Commedia Umana, und das ist auch dieses Buch, wahrhaft Antithese zu Dantes Commedia Divina. Das Leben, das Boccaccio beschreibt, ist ohne Beziehung zu einem andern außerirdischen Leben. Was immer die Kirche in den Bann getan oder als Unwert abgesetzt hat, das wird von ihm zurückgerufen und inthronisiert – mit der sicheren Hand eines ungeheuren Talents. – Il talento: – die Kirche hat dem Talent das Stigma der Sünde aufgebrannt. Dante verdammte alle talentierten Intellektuellen (Inferno 3). Boccaccio hat in seinen früheren Schriften, kein anderes Thema als dieses eine: den Triumph des Talentes. Es ist dies das Vorspiel zum sogenannten Heidentum der Renaissance. Die Summe der mittelalterlichen Doktrin, die Dante zog, wird vernichtet, nicht durch Leugnung des asketischen Wertes, sondern durch Behauptung der Freiheit, durch den Anspruch auf das Natürliche. Man lese im achten Gesang des Inferno nach, was Grauenvolles den Filippo Argenti im Decamerone auf seinem Wege über den Styx erwartet: unerbittlich ist Dantes Moral. Dieser selbe Argenti spielt in der achten Novelle des neunten Tages die Hauptrolle, nicht als ein anderer Charakter als bei Dante, aber die Laster des Mannes dienen Boccaccio nur zu komischen Zielen ohne jede moralische Bewertung.
Boccaccio lebte als junger Mann in Neapel, wo er Zutritt zum ausgelassenen Hofe der Johanna fand und zu Liebesabenteuern mit deren Damen. Auf seines Vaters Wunsch studierte er dann eine kurze Zeit die Rechte, aber er praktizierte sie nie. Früh beginnt er zu schreiben. Seine Tat ist das Decamerone.
Geschichten: das war der Geschmack schon im frühern Mittelalter, waren beliebteste Lektüre. Die Existenz dieser Geschichten nehmen dem Decamerone nichts von seiner Originalität. Jeder Vergleich mit den Vorläufern macht den Genius Boccaccios deutlicher.
Zwei Jahrhunderte herrschte Boccaccios Geist, erklang in allen Nuancen Boccaccios Lachen, graziös bei Poliziano, bitter bei Folengo, ironisch bei Machiavelli, schamlos bei Berni, froh bei Boiardo. Die Beschreibung der Pest in Florenz: sie ist mehr als der düstere artistisch gewählte Hintergrund zu den heiteren zehn Geschichtenerzählern der lieta brigata. Die Pest war äußeres Zeichen der großen Umwälzung, die sich im sozialen, wirtschaftlichen und sittlichen Leben Italiens vollzog und deren literarischer Ausdruck Decamerone ist. Die Pest machte dem Florenz der Grandi ein Ende, und das Florenz der Ciompi hub an. Der Standpunkt der bottega und der piazza hat nun Geltung, und mit dem Adel nicht nur, sondern auch mit dessen Geist macht man ein Ende. Wenn Boccaccio eine tugendhafte Frau darzustellen sucht, wird er gefühlig bis zum Absurden, so fremd ist ihm solches Wesen. Wie es auch fremd den sieben Damen und drei Männern ist, welche als den Rest früherer Tage ganz konventionelle Ideale haben, aber deren Praxis völlig verloren. Die Gesellschaft ist bei aller Bewahrung des äußern Anstandes ganz popolo grasso ohne die geringste Fähigkeit zur Illusion, aber mit kräftigsten fleischlichen Appetiten.
Boccaccio starb sieben Monate nach dem Tode seines Meisters Petrarca im Jahre 1375. Den Leser des Decamerone erstaunt diese mittelalterliche Jahreszahl. Denn mit den Geschichten des Decamerone verließ Boccaccio die mittelalterliche Geisteshaltung und setzte den ersten Staffel einer neuen Zeit, die mit der Hand auf der Geldtasche ihren Platz in der Welt antritt.
Ungefähr zur selben Zeit als Boccaccio sein Decamerone, schrieb Guillaume de Machaut seine höchst seltsame Liebesgeschichte auf, das Livre du Voir-Dit, was so viel wie Wahre Begebenheit heißt. In dieser wahren Geschichte des Machaut schickt die achtzehnjährige Peronelle d'Armentières dem sechzigjährigen Dichter ein Rondel, in dem sie dem berühmten, ihr unbekannten Poeten ihr Herz anbietet. Der Dichter ist alt, fast blind auf einem Auge und gichtgeplagt, aber er ist geschmeichelt und bewegt. Sehr lieber Herr und guter Freund, ich empfehle mich Euch, so gut ich kann und aus all meinem Herzen und schick Euch dies Rondel. Und wenn ich was für Euch tun soll, so bitt' ich, verlangt es von mir, und sagt das in einem Virelei, und schickt es mir. Dafür aus meinem ganzen Herzen Dank, und wenn Ihr etwas wollt, sagt es immer, ich tue es gern aus meinem Herzen als für einen Mann dieser Welt, den zu sehen ich am meisten begehre. Unser Herr gebe Euch Ehre und Freude in allem, was Euer Herze liebt. Eure gute Freundin. Der alte Dichter antwortet: Ich bin klein, ungeschlacht, ohne Witz, ohne Güte noch Schönheit, bin nicht würdig, Euer zu gedenken. Würdet Ihr mich sehen, es täten Euch Eure Gefühle für mich leiden. Er hat auch ein bißchen Selbstvertrauen, denn er fügt hinzu: Ihr habt mich auferweckt. Dafür will er ihr dankbar sein und ihre Liebe der Nachwelt in einem Gedichte schenken. Sie schickt ihm ihr Bildnis: Mein süßestes Herze und meine süßeste Minne, hier schick' ich Euch mein Abbild nach dem Leben, so gut man es konnte, um Euch zu trösten darüber, daß wir uns nicht sehen können. Aber bald sehen sie einander. Die Freiheit, welche die jungen Damen im Decamerone üben oder, ohne zu erröten, zu hören bekommen oder zu hören geben, hat in Peronelles Abenteuer einen noch weit stärkeren Ausdruck, denn es fehlt dem Dichter wie dem Mädchen jede Spur eines schlechten Gewissens, daß sie etwas tun, was sich nicht mit den Begriffen des gesellschaftlichen Anstandes oder der Religion vertrüge. Die beiden hören fromm die Messe und
als man das Agnus Dei sprach,
Da gab sie mir, beim heiligen Crispin,
Ganz leis den Friedenskuß
Zwischen zwei Kirchenpfeilern.
Den Frieden brauchte ich gar sehr,
Denn mein verliebtes Herze war
Verstört, als sie mich rasch verließ.
Machaut war Domherr, doch hatte er kein geistliches Amt, nicht geistlich im Sinne der Weihen. Er liest das Brevier: die kirchliche Frömmigkeit war das Salz des Lebens. Von Heuchelei kann in diesen Jahrhunderten nicht gesprochen werden. Es wird mit gleicher Inbrunst gebetet wie geliebt. Unter einem Kirschenbaum sitzt das Paar, und Peronelle lehnt ihr Haupt an seine Schulter. Sag' mir, mein süßester Freund, an was denkst du? Und er: An die Verse, die ich für dich machte, süßeste Liebe. Er ist mehr Dichter als Liebender in diesem dafür nicht sehr passenden Augenblick und rezitiert seine Komplainten, in denen er klagt, daß man ihm versage, was er sich zu nehmen nicht getraut. Und Peronelle darauf: Ich liebe Euch. Den Schatz, nach dem es Euch so sehr verlangt, ich lass' ihn Euch. Nehmt ihn, ich geb' ihn Euch. Er erschrickt und zaudert, so daß er sich von dem Mädchen, das ihrer weit sicherer ist, sagen lassen muß: Nie wird ein Furchtsamer erfolgreich in der Liebe sein. (J'a couards n'ara belle amie). Er fühlt tiefer und feiner und könnte ihr sagen, daß sie nur seine Gedichte liebe, denn an ihm als Manne sei nichts mehr zu lieben. Aber er ist von der Jugend des Mädchens zu sehr selber entzündet und täuscht sich gern mit einem Wer weiß? über das weibliche Herz. Wilhelm fällt aufs Knie und beginnt ein Gebet – an Venus:
Venus, ich habe dir immer gedient,
Seit ich dein Bildnis sahe,
Seit ich sprechen gehört
Von deiner Macht ...
Du bist mein Fraue und Göttinne,
Du, die mein Herze segnet
Und schmückt mit ihrem Adel
So süße ...
Und Venus steigt herab und tut ein Wunder an dem alten Dichter: et mes désirs fut accomplis. Peronelle gibt ihm darauf das goldene Schlüsselchen ihres Schatzes, ihrer Ehre, von allem ce dont puis faire largesse. Sie trennen sich, schreiben einander. Sie bereut nichts als die zu rasch vergangene Stunde, deren Rückkehr sie erhofft. Er schickt ihr ein Klagelied voll zärtlichster Liebe und zartester Sehnsucht. Die klangvolle Monotonie dieses Gedichtes ist unübersetzbar. (Man sprach damals peur, chaleur dumpf aus: peour, chalour.)
Mon cuer, ma suer, ma douce amour,
Voy ma peine, voy mon labour,
Mon cuer, ma suer, ma douce amour,
Voy ma très amère tristour.
Mon cuer, ma suer, ma douce amour,
Voy mes meschiés, voy ma doulour.
Mon cuer, ma suer, mon douce amour,
Voy que de mort suy en paour.
Peronne antwortet in gleicher traurig-seliger Verfassung mit einer Ballade, deren Refrain ist: Und alles für dich, schön-edler Freund. Dann kommt das Ende. Verfehltes Treffen, Mißverständnisse, Rechtfertigungen, Versöhnung, Schweigen. Er liebt sie aber bis zum Tode. Und sie bewahrt ihm das Andenken.
So gutes Gewissen, wie es Peronne besitzt, zeichnet die Gesellschaft des Decamerone schon nicht mehr aus. Boccaccio krönt sein Decamerone mit dem Bildnis einer Frau, welche seinem Zeitalter noch immer als die höchste Vollendung des weiblichen Ideals erscheint. Griselda aber ist noch völlig der mittelalterliche Typus der Tugendreichen, die ihren Rosenkranz betet, zur Messe geht, das Kind säugt, die Schlüssel bewahrt, über den Keller wacht und den Speicher. Sie hat alle ihre Pflicht getan, wenn man auf ihren Grabstein wie auf den der römischen Matrone die Worte setzen konnte: Lanam fecit, domum servavit, sie krempelte Wolle und diente dem Hause. Die aragonesischen Hofdamen, die Boccaccio in Neapel kennenlernte, waren wie ihre Herrin durchaus Ausnahme von der Regel, die sich bis tief ins nächste Jahrhundert in allen Kreisen behauptete, wo man konservativ und republikanisch lebte. Das wirkliche Leben handelte kirchlich: es fürchtete die Frau und achtete sie gering, wenn nicht schlecht. Für jeden vernünftigen Mann dieser Zeit war die Frau ein untergeordnetes geringes Wesen. Petrarca besang wohl Laura in schönen Sonetten, aber seine wahre Meinung über die Frau gibt er in seinen Briefen, wo er schreibt: Das Weib ist zumeist der inkarnierte Teufel, Feindin jedes Friedens, Anlaß zur Ungeduld, unerschöpfliche Quelle von Hader und Streit, und der Mann muß sich von ihr fernhalten, wenn er auf die Ruhe seines Lebens bedacht ist. Diese Verachtung der Frau ist auch dem folgenden Jahrhundert noch eigen. Äneas Sylvius Piccolomini etwa: Was sonst, frage ich, ist die Frau als Rupferin der Jugend, Räuberin des Mannes, Tod der Greise, Fresserin des Erbes, Untergang der Ehre, Instrument der Hölle, Lieblingsplatz des Teufels, Türe zum Tode? Und Alberti kurzweg: Die Weiber sind verrückt und voller Flöhe. Eine Frau heiraten ist für Sacchetti derselbe Akt wie einen Gaul kaufen. Sie ist nicht nach dem Bilde Gottes geschaffen, erklärt der Maler Cennino Cennini in seinem Libro dell'arte, ihr Leib hat keinerlei vollendete Maße.
Das gotische Säulenbündel löste sich, und schlank und allein erhob sich des Michelozzo elegante Säule. Die mittelalterliche Masse, in Gesellschaft gegliedert, löste sich, und der Einzelne, das Individuum, stand da. Für die Gesellschaften kam die Gesellschaft. Die Rolle der Frau änderte sich. An die alte Stelle der Institution trat die Persönlichkeit. Auf das Papsttum folgte der Papst, auf das Imperium der Kaiser, auf die Feudalität die Kommune, auf die gelehrte Schule der Humanist. Auf das Weibervolk im Hause die Frau.