Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Stendhal über die Liebe

Der Code Civile ist in einem berüchtigt schlechten Französisch abgefaßt, aber Stendhal las, bevor er sich ans Schreiben begab, gern darin, wie er sagte. Was ihn dazu reizte, war der definitorische Charakter juristischer Formulierungen, deren Knappheit, Eindeutigkeit, Latinität. In der romantischen Atmosphäre vieldeutiger und stimmungsbeladener Worte eines im Salon verarmten Französisch war es diesem genauen Geiste, den die Substanz der Leidenschaft erhielt und nährte, um so nötiger, die Mitteilung als eine durchaus räsonable Funktion zu betrachten und als nichts anderes als das, zumal was er mitzuteilen hatte neu war und es ihm daher sehr darauf ankommen mußte, nicht mißverstanden zu werden. Die Neuheit des Mitzuteilenden ließ ihn sogar einen Schlüssel dazu nötig scheinen, den er in dem Buche Über die Liebe gab, das disponiert und formuliert ist wie ein Lehrbuch der analytischen Geometrie. Es ist ein Lehrbuch über die seelische Erkrankung, welche Liebe heißt. Es erschien in zwei kleinen Bänden im Jahre 1822 – bis zum Jahr 1833 waren nur siebzehn Exemplare verkauft von dieser Monographie über eine Krankheit, genannt Liebe, diesem Traktat medizinischer Moral, in dem sich nichts an die Sinne wendet, nichts wollüstige Vorstellungen auslöst. Stendhal hat den Mißerfolg seines Buches, wie auch seiner andern Bücher, vorausgesehen. Die Voraussetzungen, die es von dem Leser verlangte, nämlich die Liebe zu kennen, erfüllte der Leser des Juste-Milieu nicht, in welches das Buch fiel wie ein Fremdkörper. Schon das Wort Liebe wirkt in diesem Milieu der Staatsräte, Baumwollspinner, gewandt spekulierenden Bankiers wie etwas, das an nichts als Ausschweifung erinnerte, und man war außerordentlich korrekt geworden. Das Maximum, das man den Frauen erlaubte, war, für die Corinna zu schwärmen, für Chateaubriands René, für den seraphischen Lamartine. Und mehr erlaubten sich auch diese Frauen selber nicht.

Die Frauen waren nicht mehr Mode. In unsern glänzendsten Salons tun die jungen Leute von zwanzig so, als sprächen sie nicht mit ihnen; sie scharen sich lieber um den plumpen politischen Schwätzer aus der Provinz und versuchen, ihr Wort einfließen zu lassen. Die reichen jungen Leute, die ihren Stolz darein setzen, frivol zu erscheinen, um als Fortsetzer der guten Gesellschaft von ehedem dazustehen, sprechen lieber von Pferden und spielen hoch in den Klubs, in die keine Frauen zugelassen werden. Eine tödliche Kälte scheint die Beziehungen der Jugend zu den fünfundzwanzigjährigen Frauen zu beherrschen, welche die Langeweile ihrer Ehe in die Gesellschaft treibt. Man verstand um so weniger, was Stendhal mit seiner Liebe wollte, als er ganz unmodern schrieb. Denn er machte die Romantisierung der Sprache nicht mit; es genügte ihm für das von ihm zu Sagende die Sprache Montaignes. Und in seiner ganzen Denkhaltung achtzehntes Jahrhundert, stand er gegen den frömmelnden Sentimentalismus, in den die Gesellschaft nach den militärischen Brutalitäten der napoleonischen Kriege gefallen war. Mit einem Satze wie: Man muß sich seine eigne Moral machen, mußte er sehr gegen seine Zeit verstoßen, die solche Extravaganzen höchst unmoralisch fand. Wie den Ausspruch, daß die Keuschheit eine komische Tugend sei. Wo man eben dabei war, die Ehe auf die Liebe und diese auf die Keuschheit zu gründen.

Stendhals Begriff der Liebe, auf die Gewalt der Leidenschaft, auf das Unglücklichsein aus Liebe, auf das Kranksein davon gestellt, mußte einer Gesellschaft fremd bleiben, die sich gerade aus ihren Schwächlichkeiten zu bilden und Stärke zu geben begann.

Wie kam er zu diesem Begriff der Liebe?

Der junge Beyle kommt nach einer freudlosen Kindheit, die ihn ganz auf sich selbst wirft, nach Paris, voller Erwartungen, für die ein großes Selbstgefühl ihn rüstet. Aber man übersieht ihn in der Gesellschaft, wenn man ihn überhaupt sieht. Er fällt weder durch Schönheit auf, noch durch Witz, noch durch Namen, noch durch Ruf. Er aber möchte faszinieren, geliebt werden, bestaunt, beneidet. Das zu sagende Wort fällt ihm immer erst später ein. Er kommt in die kritische Situation, entweder sich zu überwerfen oder die Umgebung zu unterwerten. Er entscheidet sich lieber für das letztere, denn er ist fünfundzwanzig alt und beginnt, Paris und die Franzosen zu verachten. Ihr Wahn, ihre Eitelkeit, ihre Angst, lächerlich zu erscheinen, sind ihre Kardinaluntugenden. Der junge Beyle wählt trotzdem alle Mittel, sich zu behaupten. Er spielt den verfluchten Kerl und fällt noch mehr durch. Das napoleonische Abenteuer erlöst ihn endlich. Es bringt ihn nach Italien, nach Wien, nach Deutschland, Rußland: die Fremde gibt dem Fremden die Möglichkeit, sich zu geben, wie er ist und sein will; kein gesellschaftliches Konvenü bindet ihn. Er genießt. Das kurze Abenteuer schließt sich. Es hat ihm die innere Freiheit eingetragen. Aber er bleibt bis an sein Lebensende ein vagabundierender Mensch, der auf zwei Koffern lebt, ohne leben zu wollen. Kümmerlich, arm fast, verbraucht er sein um eine geringe Rente vermehrtes kleines Gehalt als Konsul in dem Rattennest Civita Vecchia, dem päpstlichen Bagno. Seine Bücher liest kaum wer. Sehr spät genießt er lächelnd Balzacs Begeisterung und Mißverständnisse. Von den zehn geliebten Frauen seines Lebens, dessen kavalleristische Devise der Frau gegenüber ist: Nimm sie!, betrügen ihn drei, was er als richtiger imaginativer Liebhaber, der er ist, hinnimmt nach der gespielten Szene des Bruches, die er für schicklich hält und weil sie zum Komplex Liebe dazugehört wie der Nachtisch zu einem Souper. Er bekommt einen kleinen Bauch. Den kahlen Vorderkopf deckt eine Perücke. Eine galante Krankheit schafft ihm Beschwerden. Er hat keinen Freund. Er ist einsam. Das heißt, er lebt den Reichtum seiner hundert Leben, denen er hundert Pseudonyme gibt. Er spricht mit sich selber, er schreibt zu sich selber von sich: Wer war ich? Wer bin ich? Ich wäre in großer Verlegenheit, es zu sagen. Und: Ich gelte für einen Menschen von viel Geist und ohne jede Empfindung. Und sehe, daß ich immer nur mit unglücklichen Lieben beschäftigt gewesen bin. Er stellt fest: Ich hab sehr wenig Erfolg gehabt, er meint bei den Frauen, aber auch bei den Menschen, um gleich zu bekennen: Nie habe ich den Gedanken gehabt, daß die Menschen ungerecht gegen mich waren. Nie habe ich geglaubt, daß die Gesellschaft mir das geringste schuldet. Die Gesellschaft zahlt die Dienste, welche sie sieht. Die Ehrlichkeit Stendhals zu sich selber, höchstes Ergebnis seiner eminenten Vorurteilslosigkeit, ist ohne jedes Pathos und hat eher eine ironische Farbe. Sie ist nicht ein Prinzip, sondern Notwendigkeit vitaler Erhaltung, korrigiert von starker Intelligenz und Lebenskenntnis. Er konnte nicht leben wie er wollte, und schuf sich die eingeborne Energie das imaginierte Glück. Beyle machte Stendhal aus sich. Er war ein junger Mann von sechzig, als er starb. Als er zweiundfünfzig war, sagte er ganz richtig, er sei zweimal sechsundzwanzig Jahre alt. Er gab damit eine Definition seines Charakters. Alle Helden seiner Romane sind Jünglinge. Er verläßt sie desinteressiert, sowie sie ins Mannesalter treten. Er schrieb immer sein Leben als junger Mensch, denn er wurde nie vernünftig. Auf der polytechnischen Schule war der junge Beyle ein glänzender Mathematiker aber er sagte sich den Satz der Julie zu Jean-Jacques in Umkehrung: Lassen Sie die Mathematik und weihen Sie sich den Frauen. Er hat zu Bekannten oft diesen Satz wiederholt, als den Start seines Lebens, dem er später die Formel gab: Nie gegen eine Frau etwas tun, das gemein oder brutal aussehen könnte, gegen eine Frau wohlverstanden, die wirklich, und das heißt gefährlich, eine Frau ist. Das bestimmte alle seine Vorlieben und Einstellungen. Der ein Buch über Rossini schrieb, für Mozart und Cimarosa schwärmte, war eigentlich unmusikalisch. Die vokale Musik, das Singen der Arie: er konnte feststellen, daß es das erotische Glücksgefühl glücklicher oder unglücklicher (was dasselbe ist) Liebe steigert. Die Musik war ihm nur erotisches Mittel. Nicht anders die Malerei. Nicht anders das unbeschwerte Leben. Widerwärtigkeit, weil das frenetische Gefühl der erotischen Elevation schwächend oder störend, waren ihm Plumpheit, Sentimentalismus, Esprit. Die Frauen, die Stendhal liebte, waren immer nur Vorwände, die eigene Liebe zu genießen und in ihr sich selber zu erfahren. Die Liebe befreit. Sie hebt das Zufällige auf, treibt den wesentlichen Charakter des Mannes hervor.

Stendhals Leben (und Schreiben, was dasselbe ist) war Selbsterziehung durch ein außerordentliches Regime, dem er sich unterwarf: das der Liebe. Ich stelle zwei Sätze nebeneinander: Um ein guter Philosoph zu sein, muß man trocken, klar, ohne Illusion sein. Und: Ich tat das Möglichste, um trocken zu sein. Ich befehle meinem Herzen Schweigen, das glaubt, viel zu sagen zu haben. Ich zittre immer, nichts als einen Seufzer aufgeschrieben zu haben, wo ich glaube, eine Wahrheit notiert zu haben. Das steht in Stendhals Buch über die Liebe.

Stendhal einen Analytiker zu nennen, hieße ihn eng fassen. Wie bei Nietzsche, dem sich die Mauern nach innen bogen und zusammenstürzten. Stendhals Analyse der innern Welt ist ihm feinstes Werkzeug seines Willens zur äußern Welt, sagen wir zu Form, Oberfläche, Schönheit, Kraft, virtù. Seine Analyse führt ihn weder zur Sonderung noch zur Anklage, wofür beides er praktische Anlässe genug gehabt hätte. In bezug auf Liebeseroberungen sagt er von sich: Die Sache glückt unter zehnmal einmal, und sie verlohnt die Mühe von zehn Abweisungen. Er rächt sich nicht, indem er eigene Ungenügendheiten verleugnend andere dafür verantwortlich machte, wie sie oft Nietzsche.

Stendhal vereinigte Gegensätzliches in einer Person: Scharfsichtigkeit des analytischen Verstandes, der das verborgenste Dunkel seelisch-emotionalen Lebens ans Licht der obern Welt bringt (also nie lyrisch-romantisch verundeutlicht), und ein zur Frenesie gesteigertes Leben in der Liebe. Die Gegensätzlichkeit kann nur eines zusammenbringen: das Schreiben. Die Feder begleitet dieses Leben ohne Aussetzen. Hier wird nie dichterisch geschwindelt. Er ist hartnäckig einseitig, nämlich ich-seitig.

Stendhal war seinen Zeitgenossen ein eher komisch als ernst zu nehmender Herr von zweifelhaftem Ruf, der schrieb, was niemand las, weder ein Milieu schuf noch sich in eines einpaßte, da und dort und nirgendwo lebte, teilnahmslos schweigend in einer Ecke saß oder wie ein Toller in Reden exzedierte, den Narren spielte und ein Feuerwerk abbrannte. Dieser Mann gab sich nicht das in der Gesellschaft Wichtigste: Würde. Er kannte seinen Wert, sowie, daß niemand um seinen Wert wußte. Das verdüsterte ihn nicht, verbitterte ihn nicht. Die Widmung seiner Bücher: To the happy few, ist die ganze Reaktion dagegen.

Stendhal war der Zeitgenosse der ersten Romantik, fünfzehn Jahre jünger als Chateaubriand, sieben älter als Lamartine. Er hat nichts mit dem erotischen Kanon der Schule zu tun. Für die romantische Liebe des Pagen Musset zur mütterlich-hitzigen George Sand hat er eine Grimasse. Man muß sich in allem von der Lo-Gik leiten lassen, sagt er immer wieder, das Wort Logique durch Trennung der Silben besonders betonend. Logisch muß sich, so wiederholt er, das Glück erreichen lassen, Schritt um Schritt, hat man nur auf die Fakten acht, welche die Welt entgegenstellt, und die taktisch zu umgehen sind. In Stendhals Glücksbegriff ist nichts Materielles oder Sinnliches mehr; er enthält den Elan der Seele, die Gefahr, den Einsatz der ganzen Person. Er hat weder mit der Tat etwas zu tun – er liebte den Napoleon von Marengo, nicht den Kaiser – noch mit dem Erfolg. Wer um dieses Glückes willen lebt, muß auf das, was die Welt Vergnügen nennt, verzichten. So leben die Gegensätzlichkeiten in diesem Mann: die Ambition, dem Denken alles zu unterwerfen, und die Ambition, das Gefühl triumphieren zu lassen. Es gelingt ihm das Wunder: das Denken schädigt nicht die Leiden, diese entmutigt nicht den Glauben an den führenden Intellekt. Nur die Doktrin hat ein Loch, nicht das Kunstwerk Stendhals. Und das Lebendige jeder Person ist der Widerspruch.

Stendhal war siebenunddreißig Jahre alt und in seiner leidenschaftlichsten Liebe, als er den Traktat über die Liebe schrieb, den ersten Versuch einer wissenschaftlichen Psychologie über den Komplex Liebe. Was für ein ganz ungewöhnlicher Verliebter, dem im Zenit seiner Leidenschaft der Gedanke kommt, sich wissenschaftlich exakt sachlich mit dieser Leidenschaft auseinanderzusetzen! Die bisherigen Psychologen der Liebe hatten diese immer als ein einförmiges Gefühl behandelt, das da ist oder nicht da ist, geteilt wird oder nicht. Liebe: das ist für Werther nicht nur, sondern auch noch für die Sand und Balzac eine gegebene, nicht weiter untersuchte Tatsache eines Gefühles; das geteilt wird – glückliche Liebe –, oder das nicht geteilt wird, – unglückliche Liebe. Stendhal hat als erster festgestellt, daß zwei Individuen füreinander als Liebe qualifizierte Gefühle haben können, und daß diese Illusion geteilter Liebe dennoch zu schwersten seelischen Konflikten führen kann. Denn die Liebe hat nicht eine einheitliche Qualität. Stendhal unterscheidet vier Gattungen: die amour-passion, die amour-goût, die amour-physique und die amour-vanité. Alle diese Arten Liebe haben, wie Krankheiten, ihren bestimmten zeitlichen Ablauf, werden geboren, leben, sterben oder erheben sich zur Unsterblichkeit nach denselben Gesetzen ... Es ist ohne Bedeutung, daß Stendhal in diesem systematischen Tableau einiges vergessen hat, wie zum Beispiel den Unterschied von Mann und Frau – wichtig ist, daß er als erster festgestellt hat, daß das Glück der Liebe nicht bloß darin besteht, zu lieben und geliebt zu werden, sondern darin, auf gleiche Weise geliebt zu werden, wie man liebt. Nichts langweilt die amour-goût mehr als amour-passion beim Partner. Für die Liebe aus Geschmack gibt Stendhal das Beispiel Paris um 1760: Alles muß bis in die Schatten hinein rosenfarben sein. Nichts Unangenehmes darf hinein, unter keinem Vorwand. Nichts Leidenschaftliches, nichts Unvermutetes. Mehr Zartgefühl als wahre Liebe. Viel Geist, viel Anpassung. Wenig bleibt von ihr übrig, wenn man dieser Liebe die Eitelkeit wegnimmt: dann ist sie wie ein schwacher Rekonvaleszent, der sich kaum schleppen kann. Die physische Liebe hat die einfachste Definition: Auf der Jagd eine schöne frische Bäuerin treffen, die in den Wald flieht. Die Liebe aus Eitelkeit: Der Mann, besonders in Frankreich, hat oder begehrt eine Frau nach der Mode, wie man ein hübsches Reitpferd hat als notwendigen Luxusgegenstand eines jungen Mannes ... Dabei gibt's manchmal auch physische Liebe, aber auch die nicht immer. Eine Herzogin ist für einen Bürgerlichen nie älter als dreißig Jahre, sagte die Herzogin von Chaulnes ... Liebe aus Eitelkeit begibt sich gern ins Romanhafte. Denn sie ist bemüht, sich große Leidenschaften einzureden.

Die Liebe aus Leidenschaft ist die Liebesform heroischer Zeiten, wo der Mensch, von früh auf an alle Gefahren gewöhnt, sich wenig aus Leid, Schmerz und Leben macht. Lieben, das ist gefährlich leben. Stendhal spricht gern von seinem temperament du feu, rät immer zur Attacke, zur Ausnutzung des Momentes – in den Briefen, dort und da in den Tagebüchern. Man könnte ihn nach solchen Äußerungen für das halten, was man einen tollen Draufgänger nennt. Aber das Gegenteil ist der Fall. Er verwechselt im völlig guten Glauben die Erregungen seiner Phantasie mit den Verwirrungen seiner Sinne. Der Kuß, den er denkt, den er erwartet, erregt ihn stärker als der Kuß, den er bekommt. Was er Liebe aus Leidenschaft nennt, hieße richtiger Liebe aus Phantasie. Vielleicht war er ein Furchtsamer. Vielleicht ein ewig Junger. Der Jüngling träumt von der kühnen Tat, die er sich zutraut, die er aber, entsprechend der Furchtsamkeit und Ungeschicktheit seines Alters, nur träumt und nie riskiert.

Stendhal, der sein Leben lang an Frauen gedacht hat, hat fast immer nur an sie gedacht. Er wollte alle Hindernisse nehmen, das Glück bei der Stirnlocke greifen, wie er es seinen Freunden rät. Im Braunschweiger Tagebuch schreibt er sich auf: Ich sehe durch die Erfahrung eine Wahrheit, von der mich meine Trägheit wegbringt. Nämlich wie nützlich es ist, den rechten Moment zu wählen. Aber sowie meine Imagination erwacht ist, bin ich furchtsam. Er entwirft Pläne wie Valmont in den Liaisons Dangereuses. Sie zergehen in Enthusiasmen beim Anblick der geliebten Frau. Vor dem Kontakt ganz Herr seiner selbst, verliert er seine geliebte Logik vor der Frau über der Furcht und wird, sowie der Kontakt gelöst ist, gleich wieder der kaltblütig Überlegende, wie er es das nächstemal besser machen würde. Er ist ein unübertrefflicher Generalstabsoffizier der Liebe, aber er verliert jede Schlacht.

Von allen Frauen, die er liebte, besaß er bestimmt nur eine, die ihn sofort betrügt. Er transformiert das charmante Geschöpf zu einer Heroine, sieht in ihr eine große Dame, sieht nicht oder will nicht sehen, daß das Mädchen nicht einen, sondern vier Liebhaber hat, von denen einer die ganze Wirtschaft bestreitet. Aber Stendhal denkt jeden Tag darüber nach, wie er der Liebhaber seiner Geliebten werden könnte, wie und was er anstellen müsse, um sich unentbehrlich zu machen. Er rechnet sich aus, welche Freiheit er sich erlauben würde. Da tritt sie ins Zimmer, und alles ist vergeblich ausgedacht und berechnet worden, während das Mädchen, wie der Leser der Tagebücher, aber nicht Stendhal, der sie schreibt, merkt, nichts anderes will, als sich diesem zärtlichen, liebenswürdigen und sie so verehrenden jungen Mann gefällig zu erweisen. Aber er verpaßt den Moment, wird lächerlich, lästig. Mélanie zieht sich zurück, will nichts mehr von ihm sehen. Sie nimmt ein Engagement in Marseille an, und Stendhal reist mit ihr dahin. Der Zufall des gemeinsamen Zimmers kopuliert. Er ist glücklich, aber er läßt das reizende Wesen, das ihn nun liebt, wieder nach Paris zurückgehen, ohne Bedauern.


 << zurück weiter >>