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Die Pornographische Idealistik

Die Überschrift dieses Kapitels ist kein Paradoxon, sondern Definition einer bestimmten Literatur, die nur scheinbar durch die drastische Nennung des Geschlechtlichen naturalistisch anmutet, im Wesen aber idealistisch ist und ihren Stil hat. Es wird das Ideal eines durch nichts getrübten sinnlichen Genießens aufgestellt aus dem Wunsche nach einem schöneren als dem wirklichen Leben: die Voraussetzungen einer Literatur der übersinnlichen, ganz ätherisierten Liebe sind dieselben wie die der untersinnlichen Pornographie. Hier wie dort handelt es sich um idealische Wunschbilder.

Charakteristisch für die pornographische Literatur ist der starre Ernst, der weder ins Tragische noch ins Komische sich verleiten läßt, sondern, ganz fixiert in dem sexuellen Mechanismus der Funktionen bleibt. Die in der Pornographie agierenden Personen entsprechen keiner empirischen Erfahrung; sie tragen nur scheinbar Namen; haben nur scheinbar einen sozialen und zeitlichen Charakter: sie sind reine Erfindung. Weil dies dem Unmittelbaren der pornographischen Erotik entspricht, die weder ein Vorher noch ein Nachher kennt, weder die Spannung noch die Erfüllung, was alles und mehr den Reichtum der mittelbaren Erotik ausmacht. Alles, was sie hier unterschlägt an seelischen und geistigen Energien, das stellt die Pornographie in den sexuellen Akt, der davon seine phantastische Hypertrophie bekommt.

Die pornographische Literatur hat kein hohes Alter und ist auf den europäischen Kulturkreis beschränkt. Die antike Welt kennt sie nicht, dem Orient ist sie fremd. Erst seit sich Japan europäischen Gedankengängen akkomodiert, verbietet ein Gesetz den öffentlichen Verkauf jener illustrierten, dem europäisch-christlichen Auge obszön vorkommenden Büchlein, welche der Bräutigam der Braut zu schenken pflegte an Stelle der in Europa beliebten mütterlichen Einweihung. Eine Liste des als pornographisch Verfolgten und Bestraften würde deutlich das Willkürliche, Zufällige dessen zeigen, das sich irgendein Exponent der öffentlichen Meinung sowohl unter Schamgefühl wie Pornographie vorstellt, denn eine solche Liste enthält Daphnis und Chloe des alten Longus wie irgendein heutiges Schmutzbuch, die Madame Bovary wie die Fanny Hill, unsaubere Kneipenverse wie die Gedichte Baudelaires. Dem entspricht ja auch die Tatsache, daß kein Werk der schönen und wissenschaftlichen Literatur, welches das Sexuelle zum Gegenstand hat, davor gesichert ist, als Pornographie mißverstanden zu werden, sei es von Leuten, welche darin das finden, was sie in der Pornographie suchen – den Stimulus einer phantasiearmen, schwachen Sexualität –, sei es von andern Leuten, welche aus gleichem Mißverstehen ihr Schamgefühl durch solche Schriftwerke verletzt erklären.

Die Zote – das ist der Witz auf das Sexuelle –, wie sie die Antike, der Orient und das Mittelalter bis über die Renaissance hinaus kennen, hat nichts mit der pornographischen Idealistik zu tun. Deren Ableitung ist vielmehr das erst spät auftretende Pikante als des Pornographischen verhüllte Form. Wie das Pornographische gibt auch das Pikante eine von aller Realität freie Vorstellung: Figuranten werden in eine sexuelle Situation gestellt, so als wäre diese Situation die Folge des Handelns bestimmter menschlicher Charaktere, die sich ausleben. Nicht irgendein guter Geschmack, nicht irgendein ästhetischer Wille zwingen zur bloßen Andeutung, sondern die Tatsache eines Paragraphen, der ein Mehr bestraft. Im jeweiligen Verfall religiös-kultureller Bindungen taucht das Schamlose in der Form des verspotteten Gottes auf, dem Menschliches nicht fremd ist. Da das Geschlechtliche zu den Menschlichkeiten erster Ordnung gehört, wird der Gott gern mit ihm gekuppelt. So bei Lukian. So in den Blasphemien der Vaganten. So bei den antiklerikalen Autoren der Renaissance, bei den antipapistischen im Humanismus. Aber schamlos sind diese Produktionen nur vom Standpunkt des Hergebrachten aus, und nicht, weil ein hier gar nicht vorhandenes sexuelles Schamgefühl sie schamlos findet. Ein gläubiger Zeitgenosse Lukians konnte dessen Göttersprache gottlos und darum unsittlich finden, aber nicht im heutigen Sinne schamlos. Die antipapistischen Angriffe der Humanisten kontrastieren das Keuschheitsgelübde der Mönche mit dessen Nichthalten, aber schamlos im heutigen Sinne fanden sie es nicht, daß der Mönch Chaucers eine Geliebte nahm und was er mit ihr tat. Der religiöse Mensch bezieht jedes sittliche Phänomen auf die Gottheit, nicht auf eine allgemeine Sittlichkeit. Eine sittliche Verpflichtung ohne religiöse Bindung des Sittlichen, ohne den göttlichen Zweck des Sittlichen, ist etwas ganz Relatives wie alle vom Absoluten der Gottheit losgelösten Werte. Für einen Nicht-Christen ist des Paulus religiöse Anschauung nur irgendeine Meinung unter vielen; er kann sie aber nicht für wahr halten, wenn er die Mutter dieser Moral nicht anerkennt, die geoffenbarte christliche Religion.

Der mittelalterliche Mensch würde Produkte der Pornographie, wenn er sie überhaupt verstünde, vielleicht gottlos, sicher aber nicht schamlos finden. Der gebildete Humanist oder der Mensch der Renaissance, würde moderne Pornographien geschmacklos finden, denn ihnen ist die pornographische Romantik noch fremd. Die Renaissance machte aus dem, was man mores, die Sitten und Bräuche nennt, noch nicht den Begriff eines Sittlichen im sexuellen Sinne. Dies blieb dem philosophischen achtzehnten Jahrhundert vorbehalten. Da hatte man eine christliche Moral ohne christliche Religion. Man hatte die Voraussetzung aufgegeben, behielt aber die Folge. In dieses achtzehnte Jahrhundert fällt auch die Geburtsstunde des pornographischen Idealismus. Nichts, was vor dieser Zeit Obszönes geschrieben wurde, fällt unter den Begriff. Weder die Hurengespräche des spanischen Mönches Delicado noch die des französischen Advokaten Meursius-Chorier, weder die des Aretino noch dessen berüchtigte wollüstige Sonette: dies alles war geformte Wirklichkeit, nicht Erfindung. Dies alles belachte man auf dem offenen Markt. Dies alles war, wenn nicht jedermanns Leben, so doch jedermanns Kenntnis. Dies alles war, wenn nicht jedermanns Wunsch, so doch jedermanns Möglichkeit. Man konnte auf die Modelle mit den Fingern zeigen.

Der großen kirchlichen Zeit ist das Pornographische fremd. An Individuen hätte es im XIII. und XIV. Jahrhundert vielleicht nicht gefehlt, welche einer pornographischen Literatur zugänglich gewesen wären; aber Lesen und Schreiben war ausschließlicher Besitz der Höchstgebildeten. Immerhin könnte man von einer gewissen mündlich übermittelten Pornographie bei den Verhören der Hexenrichter sprechen, von denen man sich manche als eifrige Leser moderner Pornographie denken könnte.

Die Kirche hat durch ihre Stigmatisierung des Geschlechtlichen als des Sündhaften schlechthin dem Geschlechtlichen in der Vorstellung der Menschen eine überstarke Akzentuierung gegeben, was sich zwischen den polaren Gegensätzen absoluter Keuschheit und absoluter Unkeuschheit in allen Abstufungen auswirken mußte. Sie konnte aber die Dämonen nur beschwören, nicht vernichten.

Die pornographische Literatur tritt mit der Befreiung des bürgerlichen Individuums von religiöser Bindung auf. Im demokratischen England erscheint das erste pornographisch zu nennende Schriftwerk in der modischen literarischen Form eines das Leben eines Freudenmädchens erzählenden Romans. Wenn auch diese Fanny Hill or de Woman of Pleasure oder der spätere französische Dom Bougre noch in der antikirchlichen Tendenz etwas von der Renaissance zeigen, bis zu antichristlicher Steigerung in späteren Werken, wenn diese Pornographien des XVIII. Jahrhunderts in ihrer Diktion auch noch einigen Abglanz der sie umgebenden erzählenden Literatur aufweisen, da sie sich ja immer noch an eine Elite von Lesern wenden müssen, so sind die Absichten dieser Verfasser doch ganz deutlich einseitig idealisch. Sie wollen weder durch eine erzählte Geschichte interessieren noch durch dem Leben nachgeformte Menschen. Sie machen nicht den geringsten Versuch, den vorgeführten sexuellen Betätigungen eine psychologische oder geistige Bindung zu geben. Die Helden dieser Erzeugnisse sind ganz idealische Konstruktionen mit einem Perpetuum mobile sexueller Mechanik.

Der Bildung des pornographischen Idealismus entspricht eine Änderung des europäischen Verhaltens zum Sittlichen, etwa seit dem Ende des XVII. Jahrhunderts. An die Stelle Gottes, um dessentwillen man sittlich war, trat von nun ab die ungeheure Mannigfaltigkeit von menschlich-vernünftigen Zwecksetzungen mit allen ihren Widersprüchen, Kurzläufigkeiten und Relativismen. An die Stelle des Glaubens trat, um im nunmehr völlig chaotischen Sittlichen eine Ordnung zu schaffen, Gesetz und Polizei, also Staatsgewalt. Das liberale Laissez faire gibt dem Einzelnen im Sexuell-Sittlichen alle Freiheit, zu tun was ihm beliebt, sofern dieses Tun ein strikt Privates hinter verschlossenen Türen bleibt; erst wenn es sich in irgendeiner Weise veröffentlicht, schenkt ihm die Staatsgewalt ihre Aufmerksamkeit durch Duldung, Kontrolle, Lizenz oder Verbot. Der unendlich dehnbare in Gesetzen eingefangene Begriff des verletzten Schamgefühls entspricht genau der unendlichen Reihe von Reizmöglichkeiten, denen ein modernes, von keinerlei Religiösem orientiertes Schamgefühl ausgesetzt ist. Die Reihe geht von den als die Scham verletzend in Stuttgart 1902 verbotenen nackten Knien eines Tirolers bis in das Allergröbste.

Die Pornographie war durch die Billigkeit des Druckes im XIX. Jahrhundert jedermann zugänglich. Um kulturell zu werden, mußte der pornographische Idealismus sich maskieren und verschleiern. Er tat dies im Pikanten. Das Pikante ist etwa von der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts ab die erotische Stilform, welche sich die breite mittlere Schicht der europäischen Menschen als ihren erotischen Idealismus gegeben hat. Man kann diesen Stil geschmacklos, widerlich, lächerlich finden, was alles er gewiß ist im Vergleich mit anderen erotischen Stilen, etwa dem der Minne oder der Galanterie, aber man muß seinen durchaus idealistischen Charakter lassen. Ebenso wie der Pornographie, aus der es sich bildete. Man muß Ideale hinnehmen, wie sie sich eine Zeit gibt.


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