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Die sokratische Freundschaft

Daß sich aus der homosexuellen Beziehung zwischen heutigen Männern zuweilen so etwas wie eine Freundschaft bildet, woraus man gern die höhere Sittlichkeit solcher abnormen Beziehungen behauptet, das hat mit der sokratischen Freundschaft nichts zu tun. Gewiß existierte auch in der antiken Welt solche Abnorm; aber die Paidophilie der Antike kam nicht zustande aus der Summierung solcher Abnormen. Die Heutigen, welche im Kampfe gegen ein sittliches und juristisches Vorurteil das Beispiel der Antike und eine Ahnenreihe bedeutender Männer anrufen, welche Knaben geliebt haben, vergessen, indem sie dies tun, daß sie im Augenblick zuvor und nachher keinen einzigen Faktor heutigen kulturellen Lebens zur Stützung ihrer Behauptung angerufen haben – weil keiner existiert –, sondern nur individuelle Tatsachen einer besonderen Artung, die medizinisch feststellbar und deren Phänomene in den Satz faßbar sind: es gibt und gab männliche Individuen, welche die geschlechtlichen Beziehungen zum Weibe als wider ihre Natur empfinden und als ihrer Natur entsprechend nur die Liebesbeziehungen zum eigenen Geschlechte kennen. Neben dieser kleinen Zahl von Paidophilen aus Artung gibt es eine weit größere Zahl solcher aus Gründen, die mit einer psychosomatischen Anlage nichts zu tun haben: Mangel an Frauen, Verlockung, Erwerb, Neugier, Snobismus – gemeinsam ist diesen Gründen, daß sie aus defekten Zuständen unseres kulturellen Lebens entstehen, aus Unwerten, nicht aus Werten. Für das Individuell-Pathologische der heutigen echten Homosexualität und das Individuell-Zufällige der sekundär Homosexuellen, die sich immer an den Bruchstellen einer Kultur bilden, bietet die antike Paidophilie keinerlei Analogie. Denn diese kam nicht dadurch zustande, daß gehäufte Einzelfälle besonderer Artung sich Lebensform bestimmend durchsetzten gegen eine andere Lebensform und diese in die zweite Reihe drängten. Die Ehe war den Griechen mindestens ebenso wichtig wie die Jünglingsliebe. Unwichtig aber war dieser Männerwelt, dieser Kriegerwelt, der Gebärerin und Erzieherin der Kinder das ungeheure Opfer ausschließlicher Liebe zu bringen. Die Ehe war diesen Männern wichtig, auch den enragiertesten Paidophilen, aber sie war ihnen nicht wie heute bedeutungsvoll in ihrem seelischen und geistigen Leben. Aus der geschlechtlichen Funktion leitete der antike Mann nicht die Liebe ab. Er wußte die erste möglich ohne irgendwelche Beteiligung der Seele und der Phantasie. Und er kannte die Liebe, ohne ihr das Ziel eines geschlechtlichen Kontaktes durchaus geben zu müssen zum endgültigen Erweise dieser Liebe. Er konnte von diesem erotischen Finalismus absehen, ohne seine Liebe deswegen als unglücklich zu empfinden. Erst die christliche Welt wurde – in der keuschen Abstinenz und in der Ausschweifung Polaritäten des Lasters und der Tugend schaffend – das, was ich phallozentrisch nennen möchte. Die griechische Antike, im ästhetischen Banne stehend, zeichnete ein gewisses Unvermögen aus, das Schöne und das Gute zu distinguieren: der Begriff der körperlichen und geistigen Vollkommenheit ist für sie charakteristisch. Aus einem adeligen Kreise geboren, mußte er auf ihn beschränkt bleiben. Dauer konnte ihn nicht beschieden sein. Er war Sonne in Mittagshöhe. Leicht war die Gasse gegen ihn mobil zu machen. Er war keine demokratische Lebensform. Der glücklichste Augenblick menschlicher Geschichte war nur ein Augenblick.

Man spricht in der zweigeschlechtlichen Liebe von freier Liebeswahl und gibt dem Instinkt, ohne den man trotzdem nicht auskommt, eine blinde Hellsichtigkeit und entscheidend-autoritäre Bedeutung welche hinwiederum jede freie Wahl aufhebt. Und gerade dieses zeichnet die antike Jünglingsliebe aus, daß sie weder vom Instinkt abhängt noch vom Zwang des Geldes. Den Sklaven war sie bei hohen Strafen verboten. Und wer sich für Geld hingab, der galt, wie Äschines berichtet, für infam und wurde besteuert. Der Instinkt entschied hierin gar nichts. Es galt als eine Schande für einen Jüngling, der das Alter überschritten hatte – denn unreife Knaben zu lieben stand unter Strafe –, wenn kein Mann ihn seiner Liebe für würdig fand, und als Schande für einen Mann, wenn er nicht einen Jüngling wählte. Immer trafen helle Sinne die Wahl: leibliche Schönheit dort, geistige Schönheit hier waren das Entscheidende. Das geschlechtlich Anziehende war nicht schon das Schöne schlechthin, sondern die körperliche Vollendetheit, die dem jungen Mann in höherem Maße eigen ist als der jungen Frau. Die zeugende Kraft des Mannes wurde aidoion, das heißt Gegenstand ehrfürchtiger Verehrung, nicht die gebärende Fähigkeit der Frau. Gesellt sich der antike Mann dem geliebten Jüngling, so tut er nach dem griechischen Worte etwas para physin, gegen die Natur, womit er aber nicht widernatürlich im christlichen Sinne meint, sondern sagen will, daß er etwas tut, was keine Nachkommenschaft hat. Bloß Kinder zu zeugen, genügte der griechischen Anschauung nicht. Diese Kinder mußten auch einem bestimmten Ideal entsprechend erzogen werden. Das tat beim Mädchen die Mutter, beim Jüngling der Mann. Denn nur Männer können die männlichen Tugenden lehren, sowohl die des Leibes wie der Seele. Man liest im Gastmahl des Plato diese Beschreibung: Wird einer, der einen Jüngling liebt, dabei betroffen, etwas Häßliches zu tun, so wird sich dieser weder vor seinem Vater noch sonst irgendeinem Menschen deswegen so schämen wie vor seinem Liebling. Ebenso wird sich der Liebling, wenn er bei etwas Unedlem betroffen wird, am meisten vor seinem Liebhaber schämen. Wäre es also möglich, einen ganzen Staat oder ein Heerlager aus Liebhabern und Lieblingen zu bilden, so wäre eine bessere Verwaltung kaum denkbar, denn diese würden aus Rücksicht aufeinander sich alles Schändlichen enthalten und ständig miteinander in edlem Wettstreit liegen.

Plato adoptiert für seine Utopie eine Wirklichkeit, die er kannte und deren sittliche Vorzüglichkeit ihm so einleuchtend war, daß er sie in seinem Staatsbilde nicht entbehren konnte. Die Ehe, das ist die Ordnung im Frauenraub der kriegerischen Horden, war längst sicheres und festes Institut, das die Nachkommenschaft sicherstellte. Zu Zeiten, da man sich mit seinem Vaterlande noch auf der Wanderung befand und ein Zeltlager seinen wechselnden Boden deckte, mochte die öffentliche Meinung, welche kämpferisch war, jeden Mann verachten, der seine Einzelfreude dem Wohl der Gemeinschaft vorzog. Es war wichtig, daß nichts von der männlichen Kraft unnütz verlorenging und sie ausschließlich darauf verwandt wurde, neue Kraft, neue Arme, neue Mütter zu schaffen. Mit der Seßhaftigkeit und der Bildung einer Nation änderte sich das. Das Gebot lockerte sich. Als man das feste Lager hatte, bestimmte Weideplätze und Städte, da nahmen die Männer auf ihren Kriegszügen nicht mehr ihre Weiber mit, ließen sie in dem Zuhause, das sie nun hatten. Sie waren nun Männer unter Männern, oft für lange Zeit. Die Voraussetzung für die Männerfreundschaft war gegeben. Flaubert hat das in jenem Kapitel der Salambo nachgezeichnet, wo er das Heer der Söldner beschreibt. Die Krieger haben die Freundschaft begründet, und die geistigen Männer gaben diese Loslösung von der Frau nicht auf, deren launisches, ungeregeltes, grimassierendes Wesen diese Sucher des Absoluten störte. Es mag diese genetische Erklärung nur einen Wahrscheinlichkeitswert haben. Aber er erscheint mir größer als Schopenhauers Erklärung, daß die Paidophilie eine Kriegslist der Natur sei, wodurch sie den Verfall der Rasse hindere, insofern zu junge und zu alte Männer nur schwache und schlechtkonstituierte Kinder zeugen und in der Paidophilie ein Mittel bekommen, artifiziell ihre sexuellen Instinkte zu befriedigen, ohne dadurch die Interessen des Vaterlandes zu schädigen. Die Natur als kluge Haushälterin mit Interessen, Plänen und Kunstmitteln ist eine Voraussetzung ohne andere Stützen als jene, welche der Mensch ihr leiht. Eine so vernünftig ausgestattete Natur ist ein Hilfsbegriff, der nicht mehr hilft und nur gerade beliebte menschliche Vorurteile ausdrückt.

Der antike Mann hatte keine Furcht vor der Frau. Die antike Frau war dem Manne nicht der Inbegriff aller sexuellen, erotischen und sentimentalen Funktionen und Möglichkeiten. Ihre Aufgabe war bestimmt, ihre Rolle einfach und deutlich, sowohl als Ehefrau wie als Hetäre. Wenn Heutige die Träger großer antiker Namen als homosexuell reklamieren und mit ihnen eine Stammtafel aufstellen, so geschieht das nur mit halbem Rechte, das ein ganzes Unrecht ist. Die antiken Männer konnten sowohl Liebhaber von Jünglingen sein, wie auch Gatten von Frauen und Väter von Kindern. Der nichts als homosexuelle antike Mann hat wohl nie existiert. Er dürfte immer erst im Bruch einer Kultur als Verfallserscheinung auftreten, nicht als sexuelles Raffinement, wie man sittlich urteilend meint, sondern als Fehlleistung der individuellen Entwicklung. Seine Inversion ist nicht organisch bedingt, sondern sozial. Das nichts als Individuelle beginnt auflösend zu fermentieren, und der größtmögliche Lustgewinn wird, auf welchen Voraussetzungen immer, zum Wunsch des Einzelnen, an keinerlei soziale Bindung mehr Verpflichteten

Für Plato bestand keinerlei Notwendigkeit, eine Apologie der Jünglingsliebe zu schreiben, denn weder der Brauch, noch die Religion, noch das Gesetz stellten sich ihr entgegen, und das Beispiel der Olympischen war allen vertraut. Und dennoch verwandte er auf die Verteidigung der Jünglingsliebe die bedeutendste Anstrengung seines Geistes, wollte mit ihr sich eine Zeit mystisch-romantischer Erotik beginnen lassen, von der Adeligkeit geübt zum Wohle des Staatsganzen gegen eine nichts als natürliche Liebe, deren Zeit er beendigt sah oder von der er, nicht ohne Grund, wie der Tod des Sokrates zeigte, befürchtete, daß sie dem Staatsganzen nicht zum Heile diene. Plato wußte die Zeitumstände nicht günstig, um offen zu sprechen. Eine lebhaftere Apologie seines aristokratischen Ideals, das sich auf der Paidophilie fundamentierte, hätte die Demokratie, die sich bedrückt bereits unruhig zeigte, zum Sturm gebracht. Darum rückte er sein Ideal, dem die Form alles war in die Schatten der Mystik, verschleiernd, verdunkelnd, als erster Romantiker, der er war. In der ingeniösen Fabel vom doppelgeschlechtlichen Wesen, das der Wille der Götter trennte und dessen beide Teile sich nun suchen und finden, will Plato, ganz eingeschlossen in dem mystischen Ästhetizismus, der der griechischen Mentalität eigentümlich, die Leidenschaft zur Liebe purifizieren und rechtfertigen und als das Gute mit dem Schönen identifizieren. Wie die schönen Teile sich suchen: diesem entspricht, daß, wer sich den philosophischen Betrachtungen hingibt, von Jugend auf den schöngeformten Körper suchen muß. Dem Sokrates genügt als Partner im Gespräch, daß dieser nichts als schön sei. Und dies ist auch Platos geheimster Gedanke, daß er den höchsten Flug seines Geistes den Flügeln dankt, die ihm die Schönheit junger Athener seiner Klasse gibt.


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