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Die keusche Braut ist eine konventionelle Redensart ohne Inhalt, und selbst der Kirche mit ihren asketischen Tendenzen gilt eine nicht vollzogene, eine keusche Ehe als Nicht-Ehe. Aber die Fälle sind nicht selten, wo der Mann dem geliebten Wesen einen so übermenschlichen Wert gibt, daß er außerstande ist, dieses Wesen menschlich liebend zu behandeln. Die medizinische Literatur ist reich an solchen Fällen gesellschaftlicher Überfeinerung und begründet ihr Zustandekommen mannigfach. So muß der Sprachgebrauch, der innerhalb der gesellschaftlichen Aktivität von Keuschheit spricht, nicht ohne Sinn sein. Man hat die Keuschheit in der Liebe als eine Art Geiz gedeutet, als eine sparende egoistische Zurückhaltung. Aber es wird wohl auch gebraucht, um eine Nuance zu bezeichnen: als keusch gelten jene Liebesbezeigungen, welche nicht nur ausschließlich von einem physischen Bedürfnis diktiert sind, sondern von der Liebe. Was ohne diese irisierende Fähigkeit der Liebe nichts als obszöne Geste ist, wird von der Intensität des Liebesgefühles mit einem irisierenden Zauber umgeben, den man für die Ewigkeit festzuhalten meint.
Der Mensch schafft sich Götter nach seinem Ebenbilde, weil er nur dann ihnen jenes Plus des Wunderbaren geben kann, das sie erst zum Gott macht. So muß sich die Geburt eines Gottes auf andere Weise vollziehen als die Geburt eines Menschen, oft auch seine Empfängnis anders als bei der menschlichen Frau. Die Frau, die dem Manne die Kinder gebiert, war in Anschauung und Praxis der alten Völker ein untergeordnetes geringwertiges Wesen. Ein Mann ist mehr wert als tausend Weiber, sagt Euripides, und in Rom gab's ein Sprichwort, daß eine Frau nur gut sei im Bett oder im Grab. Bei Plato: Nicht freiwillig und von Natur, sondern durch das Gesetz gezwungen, bequemt man sich zum Heiraten und zum Kinderzeugen.
Die katholische Kirche pries als den rechten Zustand den jungfräulichen, nicht den fraulichen, und wie sie sich bei solcher Einstellung mit der Geburt Jesu abfand, um in der Mutter Gottes einen kulturell, hohen Symbol wert zu schaffen, ist dafür ein wichtiges Beispiel. Solange die neue Heilslehre nur innerhalb der Judenschaft Anhänger suchte und fand, ist weder von der Geburt Christi noch von der Jungfräulichkeit seiner Mutter irgendwelche besondere Rede. Jesus ist der aus dem Stamme David erwartete Messias. Die erste jüdische Generation der Christen besteht auf der Abstammung von David. Paulus weiß nichts anderes. Für das graeco-romanische Denken ist nun der Messias-Begriff unverständlich gewesen, geläufig aber die Idee eines Gottessohnes. Da steht im Jesaias 7, 14: Seht das schwangere junge Weib, das einen Sohn gebären wird. Aber die Septuaginta übersetzt junges Weib mit virgo, Jungfrau. Die Auffassung, daß Jesus von Maria der Jungfrau geboren sei, indem er in die jungfräuliche Brust eingetreten und sich hier einen Leib geformt habe, war am Ende des zweiten Jahrhunderts allgemein. Im 4. Jahrhundert schreibt Epiphanias: Wenn es in unserer Zeit so viele Jungfrauen gibt, die im Namen Jesu die Enthaltsamkeit üben, so müssen Joseph und Maria noch weit größere Achtung vor dieser Tugend gehabt haben. Papst Siricius erklärt endgültig: Der Herr Jesus kann sich für seine Geburt nicht eine Jungfrau gewählt haben, die durch menschliche Umarmungen den Wohnort des ewigen Königs verunreinigte. Am Ende des 5. Jahrhunderts waren alle Texte danach korrigiert. Die Heirat Marias fand die Erklärung, daß sie ein Mittel war, die jungfräuliche Empfängnis Jesu den Juden und Satan zu verbergen. Im 9. Jahrhundert verbreitete sich von Fulda aus die Lehre, Jesus habe die mütterliche Brust unter der Form eines Lichtstrahles verlassen. Im Mittelalter wurde die Göttlichkeit der Herkunft auch auf Mariä Mutter, die heilige Anna, ausgedehnt: sie ist aus der Ferse ihres Vaters geboren (wie Bacchus aus Jupiters Wade, wie Buddha aus der rechten Lende seiner Mutter). Die Göttlichkeit der Gottesmutter verlangte ihre Befreiung von der Erbsünde, daß heißt das Dogma von ihrer unbefleckten Empfängnis: zwei Jahrhunderte kämpfte das Papsttum, gestützt auf Thomas und die Kirchenlehrer, gegen dieses aufsteigende Grundwasser des Mirakelglaubens, um schließlich zu verlieren. Pius IX. hat die Conceptio immaculata zum Dogma erheben müssen.
Daß der Wundertäter sein Dasein schon mit einem Wunder, nämlich der Geburt ohne Zeugung, anhebe, ist universeller Volksglaube, der sich in einer christlichen Mythologie durchsetzte. Der Volksglaube findet sich überall in Märchen und Sagen. Aber man hat die Parthenogenesis für die Helden und Wundertäter nur übrigbehalten aus einer Zeit, wo die jungfräuliche Geburt als natürlich und normal angesehen wurde, als die Regel und nicht als seltsame Ausnahme. Heutige Bräuche bei Halbzivilisierten zeigen eine völlige Identität zwischen dem Wunderglauben und der allgemeinen Anschauung. Die Mehrzahl der heute lebenden primitiven Völker weiß nichts von der Existenz eines besonderen weiblichen Organs für die Kindwerdung. Meist nimmt man die schwellende Brust als den Ort der Konzeption an und als den Sitz der männlichen Zeugungskraft die Waden des Mannes. Man meint, es seien die Geister Verstorbener, die in Gestalt kleiner Tiere den Busch bewohnen und die Mädchen, die sich dahin begeben, zu Müttern machen. Der Zusammenhang des Zeugungsvorgangs mit dem Geburtsvorgang, Sitz der Organe und deren Bedeutung sind einem großen Teil der Halbzivilisierten völlig unbekannt. Die Anschauungen, die man darüber hat, bestimmen wesentlich die Organisation von Familie und Ehe.
Im Jahre 1517 fällte das Parlamentsgericht von Grenoble ein ungewöhnliches Urteil in einer erstaunlichen Sache. Eine Frau de Montléon hatte vier Jahre nach festgestellter Abwesenheit ihres Gatten in Deutschland ein Kind zur Welt gebracht, das sie von ihrem Gatten im Traume empfangen zu haben beschwört, ebenso, wie während dieser vier Jahre mit keinem Manne zu tun gehabt zu haben. Zeuginnen bestätigten das und sagen aus, daß es auch ihnen schon passiert sei, durch bloßes imaginiertes Berühren des Mannes geschwängert worden zu sein und Kinder geboren zu haben. Die Gerichtsärzte widersprechen nicht, und das Urteil führt aus, daß solches den Frauen passieren könne.
Auf einigen Inseln Indonesiens hat jeder Verführer eine Strafe zu zahlen, und jede Ehebrecherin wird zum Tode verurteilt, außer sie erklärt, durch einen Geist oder im Traume empfangen zu haben, in welchem Falle man sie beglückwünscht. Es ist dies ein Glaube analog dem im europäischen Mittelalter verbreiteten Glauben an die Möglichkeit einer Konzeption durch Inkubus und Sukkubus.
1905 ist es dem Physiologen J. Loeb gelungen, ein unbefruchtetes Ei durch Bettung in eine bestimmte Flüssigkeit und Reizung durch Glasfäden zur Keimung zu bringen. Zwanzig Jahre später versuchte er dasselbe an Spermatozoen, und es gelang ihm auch hier, eine organische Entwicklung hervorgerufen. Jenes Urteil von Grenoble verliert dadurch etwas seinen Charakter als Kuriosität. Wie die Bluttransfusion wird auch die Empfängnis des zeugenden Samens – in Abwesenheit des anonym bleibenden Spenders – von modernen Ärzten erfolgreich durchgeführt. Und die Juristen streiten sich wie einst die Kirchenväter – über die Legitimität dieser unbefleckten Empfängnis.
Der Wert der sexuellen Abstinenz wurde so lange geleugnet, als man das Gegenteil als Sünde und die Enthaltung als eine Stufe in die Seligkeiten des Himmels ansah. Man gefiel sich darin, eine angeblich stark sinnlich betonte Kultur wie die antike mit einem behaupteten harmonisch-glücklichen Leben gegen eine eher asketisch gerichtete christlich-mittelalterliche Kultur zu stellen, die solches glückliches Leben dem Einzelnen nicht zuteil werden lasse. Dem christlichen Symbol der Jungfrau, welche das phallische Symbol der Schlange unter die Füße tritt und auf dem Sichelmond der keuschen Diana schwebt, gibt heute das Mikroskop eine wissenschaftliche Grundlage. Man gibt heute den Geschlechtszellen den Charakter von Parasiten, und wie die gesunden Gewebe die kranken Zellen aus sich hinauszubefördern suchen, ebenso eliminiert der Körper die sexuellen Zellen, die ihn durch Ovulation und Samenbildung beunruhigen. Das Individuum sucht sich davon durch das Schutzmittel der Liebe zu befreien, was als eine Täuschung erkannt ist. Des Don Juan Siege sind also eigentlich nur Niederlagen. Der Keusche, der seinen Instinkt besiegt, bekommt die Stärke dieses Instinktes vielfach wieder im Triumph seines Sieges.