Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Die Melanesier, die auf Owa Raha und Owa Riki wohnen, bilden eine besondere Kulturgruppe. Sie unterscheiden sich sowohl in ihren gemeinsamen materiellen und geistigen Kulturelementen als auch in ihrer gemeinsamen Sprache wesentlich von den übrigen Melanesiern. Sie haben sich auch vielfach mit dem jüngsten Volk der Südsee, den Polynesiern, vermischt, ohne jedoch ihre melanesische Eigenart aufzugeben.
Die Bewohner des südöstlichen Teils der Insel San Christoval gehören ebenfalls zu dieser Gruppe, und ich beschloß daher, auch diese Insel zu besuchen. Auf San Christoval war es, wo Küper seine ersten Sträuße mit den Eingeborenen ausgefochten und vor Jahren damit begonnen hatte, Kokospalmen anzupflanzen. In seiner kleinen Barkasse machten wir uns auf den Weg.
Die Insel liegt etwa fünf Seemeilen westlich von Owa Raha und ragt steil aus dem Meere empor. Im Südosten bildet sie eine kleine Zunge, die durch dichten Busch und Felsgestein von der eigentlichen breiten Insel getrennt ist. Diese beiden Teile der Insel sind von verschiedenen Volksgruppen besiedelt worden.
Wir ankerten einige hundert Schritte von der Küste entfernt, da das seichte Wasser ein Näherkommen nicht gestattete. Das Wasser war so klar, daß man alle Einzelheiten der Pflanzen, Muscheln und Steine des Meeresgrundes deutlich erkennen konnte. Der dicht überwucherte Boden glich einem Urwald im kleinen.
Bevor wir uns anschickten, ans Ufer zu waten, rief mir Küper zu: »Passen Sie auf! Hier liegen oft giftige Fische zwischen den Pflanzen verborgen. Ihre Stacheln können tödlich verletzen!« Mit äußerster Vorsicht stapfte ich hinter ihm drein. Da sah ich auf einmal ganz nahe seinem Fuß einen seltsam geformten dunklen Schatten völlig bewegungslos daliegen. Mir kam die Sache nicht geheuer vor, und ich kehrte rasch zum Boot zurück, um die Harpune zu holen. Ich schleuderte sie gegen den schwarzen Fleck und verfehlte um Haaresbreite einen riesigen Stechrochen, als welcher sich der Schatten entpuppt hatte. Dieses Abenteuer hätte leicht mit einem monatelangen Krankenlager, wenn nicht gar noch schlimmer enden können!
Ein schmaler Pfad durch dichten Buschwald führte zu den Dörfern. Wir wanderten noch nicht lange, da kamen wir an einem Grab vorbei. Es war das eines Russen, der hier, fern von der Heimat, seine letzte Ruhestätte gefunden hatte. Franki hatten ihn die wenigen Weißen genannt, mit denen er zusammengekommen war. Gott allein mag wissen, wie sein wahrer Name gelautet hatte. Die Geschichte seines Todes gibt einen Einblick in die Art und Weise, wie die Weißen vor Proklamierung des britischen Protektorats in der Südsee hausten.
Franki hatte sich auf den Salomoninseln niedergelassen, um mit den Eingeborenen Handel zu treiben. Es war die Zeit, in der der Handel in der Südsee einen »goldenen Boden« hatte, und man sich für außerordentlich anständig hielt, wenn man »nur« mit tausend Prozent Nutzen arbeitete.
Alle sechs Monate kam ein kleines Küstenschiffchen und versorgte den Russen mit Waren für die Eingeborenen und Spirituosen für seinen eigenen Bedarf.
Meist wurden letztere gleich in der ersten Nacht verjubelt, und aus der Alkoholvergiftung gab es erst viele Tage später ein Erwachen.
Eines Tages feierte Franki gerade wieder ein Liebesmahl mit dem Kapitän des Schiffes, als zwei Eingeborene schüchtern herbeikamen und Angelhaken gegen Kopra tauschen wollten. Angelhaken sind billig, doch soll einmal einer versuchen, diese Teufelshaken zu zählen, wenn der Blick von Alkohol getrübt ist und die Hände zittern! Der Russe versuchte sein Glück zweimal vergeblich, geriet in die sinnlose Wut des Betrunkenen, riß die Pistole vom Gürtel, und schon sank einer der Eingeborenen, von der Kugel mitten durch die Stirn getroffen, lautlos zu Boden. Der andere Bursche entfloh und alarmierte den Klan des Getöteten.
Die beiden Weißen saßen noch immer beisammen, als die Rächer angefahren kamen. Beide Europäer waren schwer berauscht. Der Häuptling, der die Krieger führte, stellte sich schützend vor den Kapitän. Der Russe aber wurde von kräftigen Männerfäusten ergriffen. Er schlug wild um sich. Da fiel sein Kopf hart auf den Boden auf, und er verlor die Besinnung. Ein Krieger stieß ihm den Speer, dessen vielfach gekerbte Spitze wie eine Säge wirkte, in die Gurgel. Irgend jemand hat später den Weißen, der sein Glück in der Südsee vergeblich gesucht hatte, begraben.
Noch eine andere Begebenheit fällt mir ein. Weiße Männer waren ausgefahren, um auf den Salomonen Arbeiter für die Plantagen des tropischen Australien anzuwerben. Ich will die Geschichte so wiedergeben, wie ein alter Häuptling sie erzählte, denn sie zeigt, wie die Eingeborenen über die Ankunft der weißen Männer denken.
»Vor vielen Monaten (die Eingeborenen kennen den Begriff des Jahres nicht), ankerte am Strande von Owa Raha ein großes Boot mit weißen Segeln. Viele weiße Menschen waren an Bord, doch auch viele Schwarze, die diese zumeist schon von anderen Inseln zusammengefangen hatten. Das Segelschiff setzte viele Kinder aus (der Alte meinte kleine Beiboote), in denen weiße Männer mit großen Donnerbüchsen saßen. Die kleinen Boote fuhren gegen das Riff, und die Weißen versuchten, eine Anzahl von unseren Leuten, die dort eben mit Angel und Speeren fischten, zu fangen. Doch die unsrigen kannten die drohende Gefahr und liefen davon. Sie sprangen von Fels zu Fels und durchschwammen die hohen Brecher. Die Weißen versuchten ihnen den Weg abzuschneiden, und tatsächlich gelang es ihnen, zehn Mann zu umzingeln. Als diese sahen, daß es für sie kein Entrinnen gab, begannen sie sich zu verteidigen. Doch es war ein sehr ungleicher Kampf. Es kamen viele der Fremden, die alle gut bewaffnet waren, auf einen der unsrigen, die nur ihre Fischspeere bei sich hatten. So wurden denn sechs von ihnen getötet, und ihre zerschlagenen Körper trug die Flutwelle in das unendliche Wasser hinaus, vier aber gerieten in die Gewalt der Feinde. Sie wurden zusammengebunden, daß die scharfen Stricke tief in ihr Fleisch eindrangen, und Sand und Steine stopfte man ihnen in den Mund, um sie am Schreien zu hindern. Eine Frau aber hatte dies auf dem Wege zu ihrem Garten zufällig mit angesehen, alarmierte das ganze Dorf und berichtete uns von dem Unglück. Wir bliesen auf unseren Muschelhörnern, und bald eilten von allen Seiten die Krieger mit ihren Waffen herbei und bemannten in aller Eile die großen Kriegsboote. Der Mwane Apuna opferte den Geistern des Meeres, und dann schossen unsere schweren Kanus wie Pfeile durch die Riffpassage.
Sie kamen zu spät, das Schiff der Weißen verschwand bereits am Horizont.
Da berieten sich die Priester und Häuptlinge aller Klane. Sie ließen Schweine schlachten und brachten Opfer dar. Und sie hatten die Ahnen und Meergeister nicht vergebens gebeten.
In der nächsten Nacht, die ganz schwarz und sternenlos war, brausten schwere Stürme über das Meer, und das Schiff der Weißen konnte der Wut der Elemente nicht standhalten. Der Führer des Schiffes bemerkte, daß ihn die Geister in die Felsen des Riffs zogen, und als sich der Wind etwas gelegt hatte, ließ er alle Segel setzen, um gegen die starke Strömung aufzukommen. Auf diesen Augenblick hatten die Geister gewartet. Heulend fuhren sie in das Gestänge des stöhnenden Schiffes, zerrissen die großen weißen Segel und trugen sie weit über das Wasser davon. Auch die schwarzen Menschen an Bord des Schiffes sahen ihren Tod vor Augen. Denn sie kannten unsere Sitten und die Macht unserer Ahnen und Geister. Als sie von den Gefangenen unserer Insel erfuhren, daß sich unter ihnen der Sohn unseres mächtigsten Häuptlings befand, erzählten sie dies den Weißen und versicherten sie, daß sie alle zugrunde gehen würden, da die Geister dem Häuptlingssohn bestimmt zur Seite stehen und ihn schützen würden. Da ließ der Führer des großen Schiffes den Urenkel der großen Schildkröte herbeischleppen. ›Die Geister verlangen deine Freigabe‹, sagte er, ›wir wollen ihnen also den Gefallen tun. Löst seine Fessel!‹ Nun trat der Weiße, der das Steuer führte, auf den Gefangenen zu, reichte ihm eine hölzerne Schüssel, mit welcher man das Schiff auszuschöpfen pflegte, und sagte höhnisch: ›Damit du dich selbst ausschöpfen kannst‹, und stieß den Jüngling über Bord in die hochgehende See. Sofort beruhigte sich das Meer, denn die Geister wollten den Häuptlingssohn nicht in den Wellen umkommen lassen. Die Räuber aber entkamen.
Der Schützling der Ahnen schwamm Stunde um Stunde. Er sah nichts um sich als Wasser und immer wieder Wasser. Wenn er müde wurde, legte er seinen Kopf auf die hölzerne Schaufel und ruhte sich aus, dann schwamm er weiter. Und die Geister schickten ihm günstige Strömungen und milde Wellen, die ihn sanft der Heimat entgegentrugen. Drei Tage und drei Nächte dauerte es, bis er Land erreichte. Er hatte eben noch die Kraft, sich ans Ufer zu schleppen, da brach er erschöpft zusammen.
Er war aber nicht in seine Heimat geraten, sondern nach Owa Riki. Zwischen den Männern dieser Insel und denen von Owa Raha herrschte Blutfehde. Die Krieger von Owa Riki fanden den Bewußtlosen und berieten sich, ob er wohl tot sei und wohin er gehören möge. Sie sahen, daß er noch schwach atmete, erkannten aber auch an der Tatauierung, daß es sich um einen Angehörigen der verhaßten Feinde handelte. ›Ich bin dafür, wir schlagen ihn tot, bevor er noch aufwacht‹, meinte der eine. Schon wollte ein anderer ihn mit seinem Speer durchbohren, da gebot ein Älterer Einhalt. Er wies auf das Häuptlingszeichen. ›Häuptlinge sind den Geistern verbunden, ihr Leben ist auch dem Feinde heilig, ich glaube, wir schicken einen Boten nach Owa Raha.‹ Und so geschah es. Der Ohnmächtige wurde gelabt und genoß die Gastfreundschaft der Männer von Owa Riki. Er war es auch, der den Anlaß gab, daß die Blutfehde, die so lange zwischen beiden Inseln bestand, begraben wurde.
Als sein Vater starb, wurde er Häuptling seines Klans und lebt heute noch auf Owa Raha in guter Gesundheit. Dort habe auch ich ihn als weißhaarigen Greis kennengelernt.«
Der Häuptling, der diese Geschichte erzählte, hieß Nafumanga. Er war ein Greis, der trotz seiner gebrechlichen Gestalt und seiner zerfurchten Gesichtszüge so viel Energie besaß und eine so starke Persönlichkeit ausstrahlte, daß man meinen konnte, einen Mann in vollster Lebenskraft vor sich zu haben. Er war noch einer von den wirklich »Großen«, die ihr Volk zu führen verstanden und nur eines vor Augen hatten: die Macht des eigenen Klans. Sein ganzes Leben hindurch hatte er sich bemüht, sein Volk vor den weißen Eindringlingen zu warnen und zu schützen. Doch nun in seinen alten Tagen mußte er es erleben, daß die alten ehrwürdigen Sitten in Verfall gerieten. Das Missionswesen begann sich auf San Christoval auszubreiten. Das war der große Schmerz Nafumangas, der ihm die Freude am Leben vergällte und ihn an den Tod denken ließ.
Doch fürchtete er, und nicht mit Unrecht, daß seine Klangefährten, auf Betreiben der Missionare, es nach seinem Tode unterlassen würden, ihm eine gebührende und den Sitten gemäße Totenfeier zu veranstalten. Er hatte daher beschlossen, sich selbst ein Totenfest zu bereiten, solange er noch lebte. Mehr als zwei Jahre hatte man an dem großen Festhaus gebaut, das er zu diesem Zwecke errichten ließ. Jeder Stützpfosten war unter den entsprechenden Zeremonien hergestellt worden, und nun stand das Kunstwerk vollendet da. Auf den geschnitzten Pfosten waren die Ahnen des Häuptlings in ihrem Festschmuck vereinigt, aber auch noch lebende Freunde, ja selbst eine Frau hatte der Künstler in treffender Ähnlichkeit abgebildet. Einer der Balken endete in eine geschnitzte Opossumgestalt, auf anderen sah man das berühmte Fabelwesen Karemanua dargestellt, das, halb Mensch, halb Haifisch, seinerzeit als Mann auf Owa Raha gelebt hat, nun aber im Meere herumschwimmen soll. Vielleicht hatte der Häuptling Nafumanga mit Absicht so viel Sorgfalt auf das Gebäude verwendet, weil er ahnte, daß es wohl das letzte Werk sein würde, das der schöpferischen Urkraft seines Volkes entsprungen ist.
Das Totenfest selbst konnte ich leider nicht mit erleben. Die Vorbereitungen dauern stets lange, die Eingeborenen haben ja Zeit. Und Nafumanga schien seinen Tod noch nicht so bald zu erwarten. Ich aber mußte weiter, wollte ich doch noch die anderen Dörfer der Insel besuchen.