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Seit man in die großen Zentren und berühmten Orte Japans mit der Eisenbahn reisen kann, ist noch lange kein Menschenalter verflossen. Der Haß gegen die Fremden und ihre teuflischen Einrichtungen war noch vor wenigen Jahrzehnten so groß, daß Eisenbahn und Telegraph sich zuerst nur schwer gegen den Aberglauben zu behaupten vermochten. Man mußte Angestellte halten, die nichts weiter zu tun hatten, als zerstörte Telegraphenstangen wieder instand zu setzen. Chamberlain erzählt, daß es viele Japaner gab, die nicht freiwillig unter den Drähten hindurchgingen und die, wenn sie dazu gezwungen waren, ihre Köpfe mit Fächern bedeckten, um den dämonischen Einfluß abzuwenden. Hearn hat noch eine gelehrte Kontroverse darüber miterlebt, ob die grünäugigen und leichenfarbigen Europäer den Menschen zuzuzählen seien oder den Tieren. Man entschied sich schließlich offiziell dafür, daß sie nicht als Menschen, sondern als eine Art von Dämonen zu betrachten seien.
Jetzt fahren die Dämonen in Schwärmen durchs Land und sind, da sie viel Geld ausgeben, überall willkommene Gäste. Die Japaner selbst sind ja längst allgemein von einem wahren Wirbelsturm ergriffen worden, uns alle unsere in tausendjährigem Ringen eroberten Zivilisationseinrichtungen abzugucken. Eisenbahn, Post, Telegraph; staatliche Institutionen, Schulen, Zeitungen, kurz, alles wie bei uns – und doch ganz anders, weil es nicht nur übernommen, sondern auch gemodelt und der japanischen Kultur angepaßt wurde. Auch muß man nicht etwa annehmen, man könne einfach wie zu Hause als geehrter Mitteleuropäer durchs Land reisen und mit jedem Zeitgenossen Deutsch, Französisch oder Englisch sprechen. Weit gefehlt. Außerhalb der dem Fremdenhandel geöffneten Hafenstädte, wie des internationalen Jokohama, und außerhalb der kosmopolitischen Hotels ist man ohne Japanisch einfach ratlos. Weder der Eisenbahn- noch Postbeamte, weder der Schutzmann an der Straßenecke, noch der freundliche Ladeninhaber, der gern helfen möchte, verstehen etwas anderes als ihre Muttersprache. Allerdings taucht gewöhnlich im kritischen Augenblick der japanische Student oder junge Kaufmann auf, hocherfreut, seine Kenntnisse fremder Sprachen vor seinen anerkennend dienernden Landsleuten auskramen zu können. Aber nicht immer ist er zur Stelle, er ist keine verläßliche Einrichtung, sondern ein glücklicher Zufall.
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Sonnige Wintertage schreiten über Feld und Wald, während mein Zug von der alten Kaiserstadt Kyoto mit ihren gewaltigen Schlössern nach der neuen Hauptstadt, Tokio, eilt, die vor kurzem noch Yedo hieß und nächstens vielleicht von der Umtaufungsmanie der Japaner einen dritten Namen erhält. Alle Bezeichnungen sind in fließender Bewegung – Lebende legen sich selbst bei Abschluß wichtiger Lebensepochen einen andern Namen bei, Tote erhalten einen neuen, posthumen Namen. Der verstorbene Kaiser Mutsuhito heißt jetzt Meiji Tenno.
Da, wo die schraffierten Felder draußen zu kleinen Höhen ansteigen, liegt dünner Schnee, es muß auch kalt sein, denn die Landleute, die man vom Zuge aus sieht, haben alle eine gewisse Aehnlichkeit mit der Venus von Milo. Alle laufen wie mit abgebrochenen Armen umher – ein seltsamer Anblick, den man auch in den Städten überall beobachten kann. Der besseren Erwärmung halber ziehen alle Leute Hände und Arme aus den weiten Aermeln ihres Kimonos zurück, die nun steif und leer, wie zwei Flossen, vom Körper abstehen. Armlos läuft alles umher – eine kurze schlenkernde Bewegung, die Arme schlüpfen wieder durch die Aermelröhren und die Hände kommen unten zum Vorschein.
In der ersten Klasse des Zuges ist es warm. Mit zwei langen Bänken, breit genug, um die Füße hinaufzuziehen und in hockender Stellung sitzen zu können, ist der Wagen ausgestattet. Aber die Herren Japaner und die Japanerinnen, alle den besseren Klassen angehörig, sitzen hier europäisch und lassen die Beine herunterhängen.
Als der Tag ein wenig vorgeschritten ist, geht es an ein allgemeines Essen. Fruchtschalen werden einfach auf den Boden geworfen. Auf allen Bahnhöfen ertönt der Singsang der Verkäufer. Auch mein Frühstück wird hereingereicht. Es besteht aus zwei zierlichen, weißen zusammengebundenen Holzkästchen mit einer länglichen Tüte darauf. Hierin sind die Eßstäbchen, die nur einmal gebraucht werden. Im unteren Kasten, der zugleich den Teller vorstellt, ist gekochter Reis, kalt natürlich; der obere ist in eine ganze Anzahl von Fächern abgeteilt, die süße Bohnen, Gemüse, Eierfladen, kandierte Frucht, gekochten Seetang, gesalzenen Rettig, ein Stückchen Kuchen, ein Atom Fleisch und ein paar undefinierbare andere Leckerbissen enthalten. Das ganze Fest kostet 20 Sen (40 Pfg.), genügt aber vollständig, um sich damit auf vierzehn Tage den Magen zu verkorxen. So billig kann man's bei uns nicht haben.
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Darf ich Ihnen jetzt Herrn Honda vorstellen? Herr Honda wartete auf dem großen Shimbasbi-Bahnhof, – daß er aber just auf mich wartete, kann ich nicht behaupten. Herr Honda ist ein Typus des modernen, übereifrigen, zielbewußten und gerissenen Geschäftsmannes. Er trägt natürlich japanische Tracht, an den weißbestrumpften Füßen die obligaten Holzsandalen, über der einheimischen Tracht aber eine Art Radmantel und auf dem Kopfe einen weichen grauen Filzhut. Sein Gesicht ist hochintelligent, sein Benehmen lebhaft, freimütig, ungeniert – aber alles in den Grenzen strenger Schicklichkeit.
Das nationale Geräusch Japans verdichtet sich in den großen, gewölbten Bahnhofshallen zu einem ohrenbetäubenden Tumult – die vielen Hunderte über den harten Steinboden klappernden Sandalen bringen eine Massenmusik wie Trommelwirbel hervor. Noch klang diese Musik in meinen Ohren und ich stand noch unschlüssig, wohin ich mich zunächst zu wenden habe, machte just eine diesbezügliche Bemerkung gegen einen jungen deutschen Arzt, der für eine kurze Weile mit mir reiste, als Herr Honda lächelnd herantrat.
»Sie nicht wissen, welche Seite gelegen Teikoku-Hotel?« sagte er auf Deutsch. »Ob weit, ob dicht? Ich die Ehre habe, Sie zu sagen, gar nicht weit, nehmen Rickscha – zehn Minuten.«
Vor Freude, so gut Deutsch zu sprechen, lachte der junge Mann mit sämtlichen Teilen seines gesunden Gesichts.
»Das ist ja famos,« meinte ich, »gleich einem Deutsch sprechenden japanischen Herrn zu begegnen!«
»O, noch nicht lange lernen. Viel besser ich spreche Englisch. Reisen – zum Vergnügen?«
»Gewissermaßen ja. Jetzt wollen wir Ihre Hauptstadt kennen lernen.«
»O, du sehr weise, gehen zu kommen, zu sehen mein Land. Ich geboren in Tokio. Ich gern führen herum dir und zeigen alles – Tempel, Theater, Museum, Volksleben, Teehäuser, Geishas und natürlich abends Yoshiwara – – du nicht sprechen Japanisch, ich sprechen Japanisch, wird sein für dir sehr bequemlich.«
Ich war starr. Hier stand ein offenbar seiner Kleidung und Bildung nach besserer japanischer Herr, der sich voll Höflichkeit den Fremden als Führer anbot. Sollte er etwa wirklich ein verkappter Führer sein? Der junge Mann erriet meine Gedanken.
»Ich kein Führer,« rief er, über diesen noch gar nicht ausgesprochenen Irrtum sich vor Lachen schüttelnd. »O nein, ich nicht verlange Bezahlung. Du sehr weise, besuchen Japan, ich gern zeigen meine Land.«
»Aber unmöglich können wir doch so ohne weiteres dieses Opfer von Ihnen annehmen?«
Als die Unterhaltung auf diesem Punkte angelangt war, zog der freundliche Herr seine Geschäftskarte aus der Tasche und überreichte sie. »Ich mache Ihnen froh, Sie machen mir froh wieder – kommen zu gehen zu kaufen Curios in mein Laden. Alte Schwerter, Lack, Bronze. Spezialität: seidene Strümpfe, lange, für die Dame. Sie kaufen mir ab, ich führe Sie herum.«
Das war des Rätsels Lösung. Und in ganz Japan, wohin man kommt, überall die gleiche Erscheinung. Man steht vor einem Tempel, sofort taucht ein junger Mensch auf, dienert und lächelt, spricht Englisch und geht dem Fremden respektvoll zur Hand – zum Schluß kommt die Geschäftskarte heraus. »Bitte, beehren Sie meinen Laden.« Vor dem Hotel an der Straße steht ein entzückendes junges Mädel und macht einen tiefen Knix. Man bleibt stehen. »Gott, welch ein reizendes Geschöpf,« sagt man. Sie hat es verstanden. » Arigato, ookini, arigato gozaimazu!« sagt sie errötend unter noch tieferen Verneigungen. (»Danke, o danke viel mal!«) In diesem Augenblick kommt die Geschäftskarte zum Vorschein. »Bitte, schenken Sie uns die Ehre.« Natürlich, ein Curio-Laden. »Hat Ihr Herr Vater noch mehr solche hübschen Mädel wie Sie?« »Ja, noch drei Stück,« ruft sie lachend. »Kommen Sie nur, uns ansehen!«
Uebrigens entpuppte sich Herr Honda als ein so unterrichteter, eifriger, stets heiterer und liebenswürdiger Führer, daß ich fast alle meine Einführungsschreiben in der Tasche stecken ließ. Allen Japanreisenden, die Tokio besuchen, kann ich Herrn Honda empfehlen. Er wohnt in unmittelbarer Nähe des »Taikoku« oder »Imperial Hotel«, gerade unterhalb des Eisenbahnviaduktes. Aber man muß ihm lange seidene Strümpfe abkaufen – »für die Dame«.
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Wenn man die Japaner die Preußen Ostasiens genannt hat, dann ist Tokio das Berlin Japans. Eine gewisse, freilich ganz entfernte Aehnlichkeit ist vorhanden. Tokio ist eine Riesenstadt von über zwei Millionen Einwohnern, darunter nur ein paar hundert Europäer, und in seiner Mitte liegt, wie in Berlin, das Schloß des Kaisers. Von einer »Schloßfreiheit« ist aber nichts zu bemerken, vielmehr stellt die Burg des Herrschers eine ummauerte und mit breiten Gräben umzogene Festung innerhalb des Stadtgeländes dar. Auf einem weiten künstlichen Hügel, die Stadt überblickend, beschattet von alten Bäumen, liegen die Palastbauten da – erhaben, dem Menschengewimmel entrückt, in hehrer Ruhe und Abgeschlossenheit, und doch im Herzen der großen lebendigen Stadt. Vom Schloß führt eine breite, wohlgepflegte Straße durch das Gesandtschaftsviertel, eine Stadt der Paläste, nach den Kasernen. Das sind die »Linden« von Tokio. Als ich an einem Morgen aus dem Tore der kaiserlich deutschen Botschaft auf die Straße trat, bedeutete mir ein Offizier sehr höflich, aber bestimmt, stehen zu bleiben. Ich sah die »Linden« hinunter und entdeckte eine kleine Staubwolke – sollte der Kaiser kommen?! So war's. Die Wolke löste sich alsbald in eine glänzende Kavalkade auf, in deren Mitte der Kaiser in einem geschlossenen Wagen angefahren kam. Die berittene Eskorte trug Lanzen mit Fähnchen. Ein Offizier ritt dem Zuge hundert Meter vorauf. Hohe Offiziere folgten hinter dem Wagen. Das Straßenpublikum, Offiziere, Soldaten, Schutzleute machten auf landesübliche Weise Front, sie stellten sich am Rande der Straße nicht nebeneinander auf, sondern hintereinander, das Gesicht und den ganzen Körper dem Kaiser zugekehrt. So konnten sie ihm wohl entgegen-, aber nicht nachsehen. Wir Europäer nahmen den Hut ab, was uns nachher einen strammen, respektvollen Gruß des wachhabenden Offiziers eintrug. Der Kaiser sah müde und abgespannt, beinahe krankhaft aus. Er erwiderte keinen Gruß, sondern sah starr vor sich hin. Drückte die Last des Herrschens die jungen Schultern dieses Abkömmlings der Sonnengöttin und Erben der ältesten Dynastie der Welt?
Gleich einem Gespensterzug, lautlos, rasch, phantastisch, zog das Bild vorüber.
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Außerhalb des Gesandtschafts- und Palastviertels ist die Hauptstadt mit ihren weit über zwei Millionen Bewohnern ein Dorf von ungeheuerlichen Dimensionen. Wenige Hauptstraßen, durch die die stets überfüllten Straßenbahnen ziehen, sind breit – das Uebrige ein unendliches Gewirr von engen, meist ungepflasterten Gassen und Gäßchen voll offener Läden, stiller Winkel, verwirrender Kreuzungspunkte, eingebauter Tempelschreine und wehender Fahnen voll bunter Ideogramme. Dazwischen aber wieder herrliche Parkanlagen, einzelne gewaltige Tempel mit ganzen Volks- und Vergnügungsparks als Vorhöfen – umbaut von den Tausenden einstöckiger Holzhäuschen, aus denen die Weltstadt sich zusammensetzt.
Eine Weltstadt voll flutenden Lebens und doch voll Ruhe. Kulis schimpfen nicht, fahren nicht aus Schabernack auf den Schienen der Straßenbahn, alle gehen einander höflich aus dem Wege, Kinder schreien nicht und sind nicht unartig, keiner spricht heftig, niemand gestikuliert, alle verbeugen sich und lächeln – ein Paradies. Bloß die Politik scheint die Leute aus dem Häuschen bringen zu können, sie allein weckt vielleicht ihre kriegerischen Instinkte.
Nur erst hier umherzugehen und still zu schauen, ohne die eigentlichen Sehenswürdigkeiten aufzusuchen, ist schon ein tiefer Genuß. Auch hier gewissermaßen Kostümfest, wie in ganz Japan. Auch hier seltsame Sammlung inmitten der Zerflossenheit und des wirbelnden Lebens einer Weltstadt. Einen Augenblick zögert der Fuß in der Nähe eines kleinen Shinto-Schreins, der unmittelbar an einer flutenden Durchfahrt liegt. Eine in einen blumigen Kimono eingehüllte kleine Musme mit reizender Frisur und golddurchwirktem Obi trippelt heran. Erst zieht sie die Glocke, dann klatscht sie in die Händchen, legt sie zusammen, neigt den schönen rassigen Kopf und betet. Was betet sie? Vielleicht dies: » Harai-tamai kiyomé-tamaé! Siehe, ich bin es, die kleine Apfelblüte – ihr Götter, hört mein Flehen, meinen Geliebten führt zu mir zurück. Amen!« Und schon taucht sie zurück ins Gewühl der Riesenstadt, schnell verklingt das Klirp-klarp ihrer Holzsandalen in der großen allgemeinen Musik des Pantinengeklappers.
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»Wie mein Land dir gefällt, nachdem du haben angesehn Kaiserstadt Tokio?!« sagt Herr Honda.
»Bis jetzt habe ich nur das Straßenleben beobachtet.«
»O – das ist nichts. Das ist sehr nichts. Morgen wir anfangen zu gehen großer Asakusa-Tempel, Universität Taikoku-Daigaku, Teehäuser mit die niedliche Geisha – –«
»Aber ich habe eine Einladung von einem Ihrer hochgestellten Landsleute – –«
»In seine Haus?« lacht Herr Honda. »Ah – nicht in seine Haus! Japaner nicht laden in Haus, nein, laden ein in Teehaus. Ich dich nehme in feinste Teehaus Koyo-Kwan. Und abends natürlich in Yoshiwara – hahaha – tausend junge Dame – nehmen, welche wollen. Nachher, wenn Zeit, du kommen in meine Geschäft – kaufen seidene Strümpfe – mit lange Schufte – Sie verstehen – für die Dame.«