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In San Franzisko.
Ein neuer Plutarch könnte sich das Leben des Ex-Präsidenten und Rauhreiter-Obersten, des Jägers und Schriftstellers Theodor Roosevelt nicht entgehen lassen. Hätte dieser geniale Staatsmann im alten Rom gelebt, auch der antike Plutarch würde sein bewegtes Lebensbild den weltberühmten Beschreibungen angereiht haben. Roosevelt gleicht einem alten Römer. In Amt und Würden ein strenger, ehrenhafter, gerechter und energischer Herrscher; im Kampf um Amt und Würde der rücksichtsloseste Demagoge. Wer ihn ganz erfassen will, muß ihn jetzt, in der Hitze und im Tumult des tobenden Wahlkampfes, im Lande umherziehen sehen, er muß das große Mischvolk beobachten können, das er durch den Zauber seiner Persönlichkeit und durch sein selbstentäußerndes Anpassungsgenie mit sich reißt, muß mit Staunen die Unverfrorenheit sehen, mit der dieser Zauberer seine Gegner angreift und zugleich dem Volke schmeichelt. Ein Coriolan hätte diesen Wählern gegenüber ebenso wenig Erfolge wie jener des alten Roms. Und ein Coriolan ist Roosevelt nicht – solange er um eine neue Präsidentschaft kämpft.
Mit Blitzzügen saust er durch die Staaten, bald spricht er von der Plattform seines Salonwagens, bald in einer Blockhütte und bald von einem Baumstumpf herab am Rande des Urwaldes. Kanonen und Revolver führt er im Munde, um seine Gegner, die beiden anderen Präsidentschaftskandidaten, Taft und Wilson, niederzuschmettern – die ihrerseits auch nicht faul sind und mit dem schwersten Geschütz persönlicher Verdächtigungen und Kränkungen antworten. Die Taftpartei hat zwei gewaltige Redner engagiert, die Roosevelt auf den Fersen durchs ganze Land folgen und meistens schon wenige Stunden nach ihm an derselben Stelle sprechen, um den Eindruck, den Roosevelt hinterlassen haben könnte, zunichte zu machen, indem sie ihn als Lügner, Gauner, Dieb und Verräter darstellen.
Roosevelt muß ein Mann ohne Nerven sein, um alles das ertragen zu können und dabei auf ununterbrochener Reise täglich zuweilen fünfmal mit Humor, Sarkasmus und wunderbarer Kraft zum Volke sprechen zu können. Er tut mehr, um unablässig der Gegenstand des Gespräches zu sein. Vor einigen Tagen ist er von seinem Salonwagen aus, während der Zug in voller Fahrt war, auf die Lokomotive geklettert, zum Schrecken des Maschinisten.
Seitdem er auf der Konvention in Chicago, als die dritte große Partei, » The Progressive Party« (Fortschrittspartei), gegründet wurde, den Ausdruck gebrauchte: » I feel like a bullmoose« (»Ich fühle mich wie ein Elch«) – also zum Kampfe bereit, ist der Elch das Wappentier der neuen Rooseveltpartei geworden. Er selbst, der Führer, wird vom Volke und in der Presse allgemein mit dem Ehrennamen » The big bullmoose« (Der große Elch) tituliert und seine Anhänger sind die »Bullmoosers«. Dieses merkwürdige Totem, das an die Indianer erinnert, hat die Partei gewaltig popularisiert. Mit dem großen, freien Volksleben und mit der Volksphantasie muß in diesem primitiven Lande jeder rechnen, der auf die Massen Eindruck machen will. Wie die Erinnerung an die Urbewohner des Landes noch überall in Leben und Kunst wach ist, so haben auch die Volkssitten, vom europäischen Kulturstandpunkte betrachtet, noch mannigfache indianische Anhängsel.
Ob Roosevelt am Ende des Kampfes aufs neue in das Weiße Haus zu Washington einziehen wird? Die Weisen des Landes geben ihm nur eine zweite Chance, die erste vielmehr dem Gouverneur und Geschichtsprofessor Wilson Die Voraussage hat sich inzwischen bewahrheitet. die dritte erst dem gegenwärtigen Präsidenten Taft. Inzwischen aber kämpft Roosevelt unverdrossen und unermüdlich gegen seine beiden mächtigen Gegner wie ein Held, nein, wie ein – Bullmoose, wie ein Elchbulle zur Frühlingszeit, wenn das gewaltige Röhren des Königs der Wälder durch den stillen Forst dröhnt.
*
Die weite Holzhalle des »Coliseum« in San Franzisko ist bis unter das Dach gefüllt mit mehr als 6000 Menschen, die Roosevelt erwarten. Noch rollt er in seinem Zuge durchs Land, dann wird er auf einem Fährboot über die blaue Bai kommen, schnelle Automobile erwarten ihn am Landungssteg und mit Blitzeseile wird er sich seinen schon stundenlang versammelten Anhängern nähern.
Auf einer weiten Plattform sitzt das zweihundert Köpfe starke, aus Männern und Frauen bestehende Empfangskomitee, unterhalb der Plattform die Journalisten, Zeichner und Photographen, und im Saale unterhalb einer Militärkapelle 6000 Menschen, die sich in eine künstliche ungeheure Aufregung hineinsteigern. Die Saaltüren sind längst geschlossen. Von Dekoration ist nicht viel zu sehen, nur an der Rednertribüne ist ein mächtiger präparierter Elchkopf angebracht.
Schon während der Wartezeit herrscht das bewegteste Leben. Die Musik spielt Nationallieder, die jedesmal einen Sturm der Begeisterung auslösen, der sich in ohrenbetäubendem Pfeifen äußert. Tausende von Männern haben sich ein knallrotes Taschentuch um den Hals gebunden, das Abzeichen der Rauhreiter und Cowboys, die Frauen, die stark vertreten sind – denn in Kalifornien sind die Frauen schon stimmberechtigt –, schwenken bunte Fahnen mit dem Namen Roosevelts. Ab und zu tönt ein Ruf aus der Versammlung: » What is the matter with Roosevelt?« worauf ein frenetisches Antwortgebrüll erfolgt: » He's all right!« Ein Komiteemann tritt ans Rednerpult und verkündet, daß Roosevelt gelandet sei, worauf ein minutenlanger tosender Beifall ausbricht, der sich schließlich in das Absingen der Nationalhymne mit nachfolgendem wirbelnden Yankee-Doodle auflöst. Als es wieder still wird, stellt sich der Redner als Wahlkandidat für einen Stadtdistrikt vor und bittet um die Unterstützung der Wähler. Man lacht, ruft ihm humoristische Bemerkungen zu, die er erwidert, – es ist ein ununterbrochener Tumult und doch alles nur Kinderspiel gegen das, was sich vorbereitet.
Plötzlich hallt ein einziger kanonenschußartiger Schrei durch die Halle: » Big bullmoose is coming!« ( Der große Elch kommt!) Sechstausend Menschen stehen im Nu auf ihren Stühlen, und in dem Augenblick, als Roosevelt wirklich auf der Plattform erscheint, bricht ein so ungeheurer, betäubender, ganz unbeschreiblicher Tumult los, daß die Wände dröhnen und zittern.
Die roten Taschentücher werden vom Hals gerissen und geschwenkt, die Fahnen wehen, die Musik spielt » O Land of the Brave«, von Tausenden von Lippen ertönt schrilles, sinnverwirrendes Pfeifen, dazwischen wird von Tausenden das tiefe Röhren des Elches nachgeahmt: »Hu-huhuhuhuuu!!!« brummt und heult und brüllt es von allen Seiten, bald schwillt das Pfeifen an, bald das Röhren, die Frauen kreischen und gebärden sich wie wahnsinnig, überall flammen die Blitzlichter der Photographen auf und geben einen dumpfen Knall mit nachfolgendem Rauch – – es ist ein Tohuwabohu von Lärm und Geräusch. Elf geschlagene Minuten dauert diese seltsame landesübliche, mehr indianische als zivilisierte Huldigung an den »großen Elch«.
In dem Augenblick, als Roosevelt weiter vortritt, entsteht ein Sturm auf die Tribüne – Hunderte von Händen recken sich empor, die der Staatsmann wahllos schüttelt. Dann grüßt er »sein Volk«. Seltsame charakteristische Handbewegungen fliegen nach allen Seiten; es ist, als ob er eine unsichtbare Fahne schüttelt. Jeder Handbewegung folgt ein Anschwellen des Tumults. Roosevelt setzt sich auf einen Stuhl und hört gleichmütig das Toben der Huldigung mit an. Er macht keinen Versuch, es zu unterbrechen – er weiß, er muß die Begeisterung austoben lassen.
Endlich, nach elf Minuten, gelingt es dem Vorsitzenden des Komitees, die Massen so weit zu beschwichtigen, um, der Sitte gemäß, den »großen Elch« vorzustellen. Jetzt tritt Roosevelt im Ernst an das Rednerpult, wo er neue fünf Minuten harren muß, ehe Ruhe eintritt.
Der große Staatsmann ist ungealtert, nur etwas stärker geworden. Er hat nichts typisch Amerikanisches in seinem Aussehen, sondern gleicht eher einem deutschen Ingenieur oder Gymnasial-Professor. Sein dunkelblondes, etwas krauses Haar ist noch voll, das gesunde, dicke, rosige Gesicht ziert ein buschiger Schnurrbart, er trägt einen Kneifer, den er während des Sprechens abzunehmen und wieder aufzusetzen liebt, ab und zu blitzen seine weißen großen Zähne unter dem Schnurrbart. Roosevelt ist in schlichtem grauen Reiseanzuge. Hinter ihm steht sein Stab: Reise-Manager, Sekretär, Parteigänger.
Seine Sprache ist genau der Gelegenheit und dem Publikum angepaßt. Sie wimmelt von humoristischen, volkstümlichen Ausdrücken. Zuerst ganz mäßig, nur die Ziele der neuen Partei behandelnd, wächst Roosevelt nach und nach gleichsam aus sich selbst heraus – bis er schließlich als der große, rücksichtslose Raufer vor seinem lauten, mitsprechenden und »mitspielenden« Publikum steht. Zum ersten Male in dieser Kampagne erwähnt er die gegen seinen Charakter lancierten Verdächtigungen der Standard Oil Company, die bekanntlich behauptet hatte, Roosevelt habe in einer früheren Wahlkampagne Geld von ihr angenommen. Der Sarkasmus, mit dem er die Gegner angreift, ist beißend, der Humor, den er entwickelt, zündend, und die Grobheit, die er verzapft, riesenhaft. Die Macher der Company sind »Crooks« (Gauner), Taft ist unfähig, Wilson ein Büchermensch, ohne Ahnung vom praktischen Leben. Alle, die zu den alten Parteien halten, sind entweder Schafsköpfe oder Diebe; ein ehrlicher Mann könne überhaupt nur der neuen Partei, der Partei des Volkes, angehören. Die Schmeicheleien, die dem »Volk« gesagt werden, sind faustdick und würden in jedem andern Lande mit faulen Eiern beantwortet werden, hier begeistern sie die Menge. »Die alten Parteien,« sagt Roosevelt, »wollen mich nicht haben, weil sie euch fürchten, euch, das freie, souveräne, gebietende Volk. Was bin ich? Ich bin gar nichts, nicht mehr als der jüngste wahlberechtigte Bürger in dieser illustren Versammlung. Ich bin nur ein Instrument in eurer Hand und kann nur euren Willen ausführen. Und vor euch ist der Multimillionär nicht mehr und nicht besser als der erste beste Schutzmann –, in eurem Auftrage und nach eurem Willen packe ich den Multimillionär, wenn er ein Gauner ist, ebenso rücksichtslos und bestrafe ihn wie den Schutzmann, wenn er korrupt ist.«
Roosevelt spricht machtvoll, und die Macht seiner Rede geht zu einem guten Teil auf eine scharfe Akzentuierung zurück. Hinter seinen Sätzen kommt häufig die Ueberraschung eines wohlgezielten sarkastischen Hiebes auf die Gegner. Dann bricht das Publikum jedesmal in charakteristische Kundgebungen aus. Ein Arbeiter springt auf, schwenkt das rote Halstuch und brüllt durch den Saal: » Teddy, you'r right!« (»Theodor, du hast recht!) – und »Teddy« unterbricht sich, winkt mit der Hand und antwortet: » Exactly!« (»So ist es!«). Als die Worte von seinen Lippen fallen: » And if I am elected President again« (»Und wenn ich wiedergewählt werden sollte«), gröhlt man: » You will be! You will be!« (»Du wirst es! Du wirst es!«) und es dauert mehrere Minuten, bis das Elchgeheul, das die enthusiasmierten Wähler anstimmen, abflaut.
Roosevelt, bis vor einem Jahre noch der große Gegner des Frauenstimmrechts, hat sich auf einmal bekehrt, denn in den Staaten, wo die Frauen bereits wahlberechtigt sind, wie in Kalifornien, kann er sie gebrauchen. »Es nützt mir nichts, Kameradinnen,« ruft er, »daß ihr mich hier akklamiert, versäumt es nicht, dies auch an der Wahlurne zu tun!« Kameraden, Mitbürger, Freunde, meine teuren Freunde, mit solchen Anreden ist der Redner nicht sparsam; liebenswürdig und mit einer gewissen Weichheit spricht er zu den »Freunden«; aber wenn er die Feinde angreift, schlägt er mit der geballten Faust durch die Luft, schüttelt drohend den erhobenen Zeigefinger und grollt ganz unverhohlen, daß er mit diesen »Crooks« (Gaunern) »ausfahren« wird, sobald er wieder Präsident sein wird.
Nach eineinhalbstündiger Rede schließt Roosevelt mit einer herrlichen Apotheose der Zukunft Kaliforniens und San Franziskos nach Eröffnung des Panama-Kanals. So stürmisch die Versammlung begonnen und verlaufen ist, so still geht sie auseinander. Auch das ist Landesbrauch.
Eine Ueberzeugung aber nimmt man mit hinweg; dieser große Staatsmann, Soldat, Schriftsteller, Jäger und Redner verdient seinen neuen Namen zu Recht: er gleicht wirklich dem König der Wälder, dem gewaltigen, kampfesfrohen Elchbullen, der seinen Streitruf erschallen läßt.