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Alle Wege führen zwar nach Rom, aber gewiß gibt es selbst in Italien viele, viele Tausende, die Rom noch nicht gesehen haben. Wie viele Tausend Hamburger werden zu Grabe getragen, ohne Helgoland, den bunten Edelstein der Nordsee, geschaut zu haben – und so auch leben und sterben in Neuyork Millionen, die eines der größten Naturschauspiele, die Niagarafälle, nur vom Hörensagen kennen.
Wie!? Die Niagarafälle sind in Büchern und Zeitschriften schon so häufig beschrieben worden, daß es sich nicht verlohnt, noch ein Wort über sie zu verlieren? Mir scheint es dagegen, als ob sie in ihrer ganzen erschütternden Größe und Schönheit überhaupt von keiner Feder geschildert werden können.
Eines Abends entführt den Reisenden ein Zug der Neuyorker Zentralbahn nach Buffalo, und die Federn des Wagens, die das Bett des »Sleepers« schaukeln, wiegen auch ihn in sanften Schlummer. Am Morgen ist es von Buffalo nur noch ein Katzensprung bis zu dem Städtchen Niagara Falls, das neben den Fabriken, die auf die Wasserkräfte der Fälle zurückgehen, einzig und allein der »Fremdenindustrie« huldigt. Ein typisch nordamerikanisches Städtchen mit schiefen hölzernen Telegraphenpfählen, hölzernen geborstenen Trottoirs und Baracken statt der Steinhäuser, aber mit einigen riesigen Hotels, die nur im Sommer geöffnet sind, wenn viele Tausende aus allen Erdteilen die Niagara-Fälle besuchen.
Eilig und voll Erwartung schreitet man durch die einzige Hauptstraße nach dem Prospekt-Park und steht schon nach wenigen Minuten oberhalb des amerikanischen Falles. Rückblickend, gewahrt man einen Teil der »Rapids« im Niagarafluß, jener Untiefen, von tausend kleinen und großen Felstrümmern unterbrochen, über die und zwischen denen das Wasser zischend, spritzend, gurgelnd und schäumend in rasender Eile dahinströmt, immer rascher, immer wilder, bis es in ungeheurer Masse über den 60 Meter hohen Felsabsturz herabfällt. Nicht weit von der Stelle, die dem Besucher den ersten Anblick des Naturwunders bietet, stand 1678 der Indianerapostel, der Franziskanerpater Hennepin, der als Erster die herrliche Szenerie beschrieben hat. Ein Gedenkstein bezeichnet den Punkt, von dem aus vermutlich sein erstauntes Auge das Wunder umfaßte. Der Niagara fließt vom Eriesee nach dem Ontariosee, der 100 Meter tiefer gebettet ist; er hat auf seiner kurzen Reise diese Schnellen zu überwinden und alle seine Wasser drängen sich an den Fällen dicht zusammen, um mit furchtbarer Gewalt und ohrenbetäubendem Getöse in einem gigantischen Halbkreise über die jähen Felswände zu stürzen. Nicht weniger als 7500 Kubikmeter Wasser fallen in jeder Sekunde in den Kessel tief unten und haben, wie die neuesten Berechnungen der Wissenschaft annehmen, in 39 000 Jahren den Weg durch die Kalkfelsen ausgehöhlt, in dem der rasende Strom unterhalb der Fälle dahineilt.
Groß und unvergeßlich ist der Anblick des Niagara für den, der zum erstenmal seinen Blick über die Landschaft, die beide Staaten, die Union und Kanada, zu einem ewigen Reservat gemacht haben, hinschweifen läßt. Der Sommer hat die Felsenlandschaft in dunkles Grün gehüllt, die Steine im Fluß sind moosübersponnen, weit drüben, auf der kanadischen Seite, wohin sich die gewaltige und zierliche Konstruktion der Suspension-Brücke schwingt, stehen Birken mit wehenden grünen Blätterfahnen. Auf den Hotels diesseits der Fälle wehen die Sterne und Streifen der Union, drüben der Union Jack Altenglands. Zur Linken aber entwickelt sich eine Naturszenerie, zu groß, um mit Menschenworten geschildert werden zu können. Erst der »amerikanische« Fall, unterbrochen von der dichtbewaldeten Ziegeninsel, weiter hinweg der ganz ungeheure halbkreisförmige 915 Meter lange Fall auf kanadischem Gebiet.
Tiefgrün und kompakt wie hartes Kristall erscheinen die Gewässer am Rande der Kluft; hinabstürzend, verwandeln sie sich in Schaum und Gischt und in Wolken aus Wasserperlen, die 200 Meter hoch in die Lüfte emporwirbeln und als eine ewige, die Gestalt unter dem Winde stetig wechselnde Dampfsäule über den Fällen schweben; von unten, wo es kocht und brodelt wie aus Millionen von Dampfkesseln, steigt ein dumpfes Geheul empor, das sich aus zwei deutlich geschiedenen Geräuschen zusammensetzt. Oben ist es ein Waschen und Gießen, hervorgerufen durch die Reibung der Wassermassen; unten ist es dumpfes, krachendes Donnern. Hinabblickend vom oberen Rande des Falles, sieht das Auge in einen brodelnden Kessel, dessen Grund von wirbelnden Wolken verhüllt ist: ein Schwindel wird im Gehirn erzeugt, der kristallene Fall scheint plötzlich stillzustehen und der Fels mit dem Beobachter in rasender Fahrt in die Tiefe zu stürzen.
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Tief unten, seitwärts vom amerikanischen Fall, liegt ein kleiner Schraubendampfer, »Maid of the mist« genannt, die »Nebelmaid«. Ein Aufzug führt hinab, wenn man nicht 250 Stufen hinabsteigen will. Unten schlüpft man in einen weiten schwarzen Wachstuchmantel, zieht eine Kapuze über den Kopf und begibt sich auf das hohe Verdeck. Die »Maid of the mist« fährt unterhalb der Fälle spazieren, und nicht dies allein, sie versucht einen fruchtlosen Kampf mit den reißenden Gewässern und sucht so dicht wie möglich an die fallenden Wassermassen heranzukommen. Die Amerikaner lieben ja die Sensation. Schwankend und stampfend zieht das kleine Schiff unter dem amerikanischen Fall dahin, dessen Größe von hier aus neue Impressionen schafft, aber emporzublicken ist beinahe unmöglich, ein Regensturm geht über Schiff und Passagiere nieder; langsam, denn der wütende Strom schlägt ihn zurück, nähert sich der Dampfer dem kanadischen Hufeisen-Fall, ganz dicht dringt er an den Hexenkessel der fallenden Wasser heran, das Schiffchen legt sich fast auf die Seite – da stellt der Kapitän die Maschine ab, und die Gewalt des Stromes ergreift die menschengefüllte Nußschale, wirbelt sie im Nu herum und treibt sie stromabwärts, ihrem Ausgangspunkt zu.
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Der Gipfel aller Sensationen aber ist die berühmte » Cave of the winds «, die » Höhle der Winde«. Wie die Fälle selbst, die ihren Namen von den indianischen Ureinwohnern empfingen, die sie »Neiägärrä«, das »donnernde Wasser«, nannten, so war auch diese Felsengrotte, die unterhalb des amerikanischen Falles liegt, den roten Söhnen der Wildnis lange bekannt, ehe der weiße Mann die alten Jagdgründe an sich riß.
Feierlichkeit umhüllt den Abstieg in die dem Gott der Winde geheiligte Grotte. Oben auf dem Felsen opfert man den Hütern dieses modernen Naturtempels zuerst einen Obolus in Gestalt eines Dollars. In einer Kabine hat man sich, den Weisungen des Führers folgend, bis auf die nackte Haut auszuziehen. Auf den bloßen Leib bekommt man einen dünnen Anzug aus Hose und Jacke aus grauem Flanell, darüber einen leichten gelben Oelanzug mit Kapuze, die bloßen Füße werden in Mokassins aus Pflanzenfiber gesteckt. Wertsachen kommen in geschlossener Kassette in ein Bureau, und den Schlüssel hängt man sich aus Mangel an Taschen um den Hals. Die Toilette ist vollendet.
Am Rande des Felsens steht ein langer, hoher und enger hölzerner Turm, wie ein Schornstein anzusehen. Durch diesen Schornstein, der eine Wendeltreppe birgt, steigt man, sich unzählige Male um sich selbst drehend, hinab bis an den Wasserspiegel und steht endlich auf dem nackten Felsen unterhalb des Wasserfalles. Mit Staunen und Erschütterung blickt man auf den nun ganz nahen, keine hundert Meter entfernten Fall, dessen Tosen das Wort vom Munde hinwegreißt. Aber mit Befremden schaut das Auge auch zugleich auf die vielen schwanken hölzernen Brückchen, die von Stein zu Stein, von Fels zu Fels außen in weitem Bogen um die stürzenden Wasser herum angebracht sind und sich weit drüben in Wolken und Gischt zu verlieren scheinen. Der Führer schreitet voran. Mit tastendem Fuße betritt man hinter ihm die nassen, schlüpfrigen, immerwährend vom Wasser überschütteten Bretter, beide Hände auf die Seitengeländer stützend, und beginnt den Marsch um den Fall herum. Emporzublicken ist schon nach wenigen Schritten unmöglich, Festhalten lautet die Parole. Das Auge sieht nur noch drei Schritte voraus, ganze Wassermassen beginnen über den Wanderer niederzugehen, tausend Schläuche scheinen sich zu öffnen, aus denen Wind und Wasser mit unwiderstehlicher Gewalt hervorbrausen. Das Auge wird blind im kämpfenden Wasserdampf, das Ohr taub vom Geheul des Falles, am nackten Körper trieft trotz des Oelanzuges das Wasser in Strömen nieder. Aber alles dies ist erst das Präludium.
Die Brückchen sind nicht mehr zu sehen, nur noch zu fühlen. Jetzt machen sie eine scharfe Wendung – Dunkel fällt aus der Höhe nieder, der Weg führt rückwärts, dicht an der Felsenwand entlang, die hier einbuchtet, direkt unter den fallenden Wassern hindurch, die wie ein lebendiger kristallener Dom über dem Wanderer stehen. Doch nur für kurze Momente kann man die Augen öffnen. Der Aufenthalt in dieser Grotte der Winde, die ihren Namen zu Recht trägt, ist unbeschreiblich. Das donnernde Geheul des Wassers hat seinen Höhepunkt erreicht, das zurückspritzende Wasser überschüttet dich unablässig mit wild tosenden Wogen, die zusammengepreßte Luft entlädt sich in ewigen sturmartigen Windstößen, die reißend durch das glasige Halbdunkel brausen, denn vor der Höhle wallt und wogt gleich einem Vorhang der gewaltige Wasserfall.
Gleich einem Nichts steht inmitten dieses Kampfes der kleine Mensch und klammert sich instinktiv an das Stückchen Holz, das ihn trägt – atavistische Gefühle quellen aus tiefer Seele empor und wollen sich zum Gebet formen.
Was mich betrifft, so betete ich zu dem dunkelgelockten Umuferer Poseidon, dem Herrscher der Gewässer, und zu Aeolos, dem Ordner der Winde. Beide hörten mein stilles Gebet und führten mich gnädig aus Wassergraus und Sturmgebraus und aus dem nächtigen Dunkel wieder an das goldene Licht des Tages …
Ueber dem Wasserfall stand ein großer schimmernder Regenbogen …
Die Seneca-Indianer, die in alten Zeiten die Wälder ringsum bewohnten, opferten dem Niagara alljährlich die schönste Jungfrau des Stammes. In einem blumengeschmückten Nachen wurde sie in die Stromschnellen hinausgestoßen, die sie rasch entführten und mit den jagenden Wassern über den Fels hinabstürzten. Auch ich hätte dem großen Geiste des Niagara gern noch ein Abschiedsopfer dargebracht. Da es aber heutzutage nicht mehr Sitte ist, Jungfrauen zu opfern, wenigstens nicht, indem man sie ins Wasser wirft, gab ich statt dessen dem Führer ein anständiges Trinkgeld.