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Ringsum die stille, sternenbestickte Nacht der warmen tropischen See. Aus der Tiefe dringt das Rauschen und Waschen der Wogen. Aber über den ewigen Hochgesang des Ozeans hinaus tönt eine wilde auf- und abschallende Weise, begleitet von taktmäßigem Händeklatschen und dem Gestampf von Füßen. Unermüdlich tanzen und singen sie, diese »Wilden«, die das Achterdeck des Schiffes in ein seltsames, groteskes Theater verwandelt haben. Ein halbes Hundert junger Rarotonganer, die aus Tahiti in ihre eigene Gartenheimat zurückkehren, belustigen sich in ihrem alten Hula-Hula-Tanz. Alle sind bis auf den bunten Lendenschurz nackt, im Schein der Lampen schimmert ihre blanke braune Haut, in leidenschaftlichem Eifer funkeln ihre dunklen Augen, die schwarzen Haare flattern um heftig bewegte Köpfe. Der Chor sitzt mit gekreuzten Beinen im Halbkreise, in der Mitte der Musiker mit dem Akkordeon, das die einheimischen Instrumente abgelöst hat. Alles, was sonst dazugehört, den wilden Busch, Mondschein, die mit Blumen geschmückten Häuptlinge, die nackten Schönen, den Klang der Trommeln, muß die Phantasie ergänzen. Ein Dutzend brauner sehniger Tänzer, Blumenkränze auf den Köpfen, springt in den Kreis – und während sie paarweise gegeneinander unter seltsamen Bewegungen und Gliederverrenkungen auf- und abspringen, singt der Chor mit feurigem Temperament: »Ha – ha – va – a – hine! Ha – ha – va – a – hine!!« Dreimal wird die Strophe wiederholt, und jedesmal begleitet der Chor sie mit einer mimischen Figur. Zuerst beugen sie den Oberkörper tief auf die linke Seite, dann heben sie den rechten Arm und winken, wie Marionetten, den Takt mit der Hand, in der Schlußfigur werden die Arme über der Brust gekreuzt und der Körper hin- und hergeschwungen. Und immer wieder klingt es: »Ha – ha – va – a – hine!«
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Fröhliche, sorglose Kinder aus den immer blühenden, immer Früchte tragenden Gärten der seligen Inseln im Sommerland der Erde, singen und tanzen sie dem Morgen entgegen.
Leise klingt noch die monotone Weise heran, als ich, sanft gewiegt von rhythmischen Wogen, in meiner Kabine liege und die Gedanken rückwärts schweifen lasse. Noch einmal taucht Tahiti in seiner Lieblichkeit und Majestät aus den Fluten, noch einmal zeigen sich die zackigen Berge Moreas am Horizont der Erinnerung und wehende Kokospalmen scheinen dem Scheidenden letzte Grüße nachzuwinken. Noch einmal schreite ich zwischen Traum und Wachen durch die Gassen Papeetes, das Auge mit Entzücken auf die Natur gerichtet und mit Enttäuschung auf die Menschen und ihre Werke. Ueber die polynesische Inselflur ist die weiße Völkerwelle dahingebraust und hat das alte Volkstum der eingeborenen Rassen erstickt. Barbarische Sitten sind im Schwinden; es ist wahr, der schreckenerregende Kannibalismus stirbt aus – aber man hat diesen Völkern auch genommen, was schön und notwendig war, und ihnen gebracht, was verderblich ist. Fürchterlich räumt jene Seuche unter ihnen auf, die im Gefolge der Venus vulgivaga einherschreitet; der Branntwein hat aus tätigen, rührigen Männern trunkene Faullenzer gemacht, und die schrecklichen sackartigen Gewänder, die von zelotischen Missionaren eingeführt wurden, sind nicht nur eine Todsünde wider den guten Geschmack, sondern Brücken für die Schwindsucht, die hinwegrafft, was Syphilis und Alkohol übrig lassen. Die fröhlichen Tänze der Naturkinder sind als obszön verboten und durch künstliche Machwerke religiösen Inhalts ersetzt worden, ihr Sport und ihre Kraftspiele geraten in Vergessenheit, alles, was ihrer Natur gemäß war, hat dem großen Nichts weichen müssen. Wo sind die kühnen Schiffer, die von Insel zu Insel steuerten, wo die beherzten Krieger und Jäger?!
Auf Hawaii und Samoa findet der Reisende moderne Großstädte englisch-amerikanischen Gepräges, er muß sich schon wochenlang aufhalten und die verstecktesten, abgelegensten Eilande dieser Gruppen besuchen, um noch unverfälschtes Volkstum zu finden. Selbst auf meiner Wegstrecke, die dem allgemeinen Touristenverkehr noch nicht erschlossen ist, noch keine amerikanischen Hotels und keine Bureaus von Cook aufweist, ist die polynesische Welt schon von einem dichten, erstickenden Firnis überzogen. Für die Eingeborenen sind die Inseln der Seligen zu Eilanden der Langweile geworden, zumal diejenigen unter französischem Einfluß. Aus dem herrlichen Tahiti haben die Franzosen eine Oede gemacht, aus den weltberühmten Tahitiern ein Häuflein von Träumern, die nichts mit sich und dem Tage anzufangen wissen. Die Stadt Papeete wird besetzt gehalten von üblen Chinesenmassen, die den Handel an sich gerissen haben – was von Eingeborenen noch fest geblieben ist, hat sich auf die umliegenden Inseln geflüchtet, wo, wie auf Morea, noch Spuren der alten Kultur und des alten Volkstums angetroffen werden.
Morea! Eimeo!! Noch einmal tauchst auch du empor im Glanze deiner unbeschreiblichen Schönheit! Wie dicht und blumig sind deine Wälder, wie strahlen die Augen deiner lieblichen, blumengeschmückten Frauen, wie kühn ragen deine grünen trotzigen Höhen in das Blau des Aethers. Auf deine Schönheit war selbst Oro, der große Gott Tahitis, eifersüchtig, und eines Tages legte er den Pfeil auf die Sehne seines Bogens, um den kleineren Gott Eimeos zu töten. Wohl flog auch der Pfeil über die Meeresenge, aber der Bedrohte sprang zur Seite und krachend flog der Pfeil durch einen Berg. Noch heute ist das gewaltige Loch zu sehen – ich selbst kann bezeugen, daß die Geschichte wahr ist, denn, durch den Riß im Felsen blickend, sah ich jenseits das Himmelsblau schimmern.
Leise, leise klingt es heran – ists Wirklichkeit, ists Traum? – – »ha – ha – va – a – hine! ha – ha – va – a – hine!« … und mit einer unbestimmten, nebelhaften Besorgnis, daß ich einen großen Fehler begangen habe, indem ich hundert Jahre früher hätte reisen sollen, schlummere ich ein.
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Wohin ein Weltreisender sich heute wendet, überall strecken sich ihm die langen Beine der Engländer und ihrer Abkömmlinge entgegen, und ihr selbstbewußtes, brüskes Auftreten harmoniert wenig mit dem an Höflichkeit und Rücksicht gewöhnten Deutschen, aber eines muß ihnen der Neid lassen: sie sind kluge und treffliche Kolonisatoren. Die Gesellschaftsinseln mit Tahiti, die »Inselwolke« Paumotu, die Marquesas, sind französisch, dagegen englisch unter vielen anderen Inselgruppen die Cook-Eilande mit Rarotonga – und welch ein gewaltiger Unterschied drängt sich dem Reisenden auf, wenn er aus dem französischen in den englischen Interessenkreis gelangt. Auf Tahiti Chinesen, Schmutz, Indolenz und Faulheit, auf Rarotonga nicht nur die Natur wie dort, sondern auch die Menschen in voller Blüte. Hier ist noch eines der lieblichen Bilder anzutreffen, wie sie Chamisso auf seiner berühmten Fahrt mit dem »Rurik« gezeichnet hat. Rarotonga ist noch kleiner als Tahiti: in 2½ Stunden kann man die ganze Insel zu Wagen umfahren, seine Berge sind sanft geschwungen, das Ganze ist ein anmutiger tropischer Garten, in dem Blüte und Frucht ununterbrochen abwechseln. Eine Eigentümlichkeit der seligen Insel ist die ausgedehnte Niederung, die sich an das 2740 Fuß hohe Gebirge anlehnt. Als der Missionar Williams die Insel entdeckte, befand sie sich schon im Zustande höchster Kultur: zwischen regelmäßig angepflanzten Südseekastanien zogen sich breite Tarofelder hin, auf den Berglehnen grünte der riesige Brotfruchtbaum und das Ufer war mit Kokospalmen eingesäumt; um die ganze Insel zog sich ein Weg, ara medua, Mutterpfad geheißen, an beiden Seiten mit Bananen und Bergplatanen eingefaßt, und in reizend gehaltenen Gärten schimmerten die offenen Hütten der Eingeborenen. An diesem lieblichen Bilde hat sich auch heute noch nichts geändert, nur die Bewohner der Insel selbst sind aus Wilden zu Menschen geworden. Die wilde Wut des Krieges verheert nicht mehr das blühende Eiland, den Götzen im Marais werden keine Menschengehirne mehr als Opfer dargebracht, man tötet nicht mehr gefangene Weiber und stößt den Kindern keine Speere durch die Ohren.
Als die »Tahiti« vor Avarua Anker geworfen hatte – denn Rarotonga besitzt keinen Hafen, da das Korallenriff sich bis dicht an den Strand hinzieht –, lösten sich breite, von Eingeborenen geruderte Boote vom Ufer los und fuhren über die wogende Dünung an den Dampfer. Unter Gesang, Lachen und Scherzen ging die Fahrt zurück nach dem Anlegesteg. Kaum hatte der Fuß das Land betreten, da ward die Südsee-Romantik Stevensons zum Erlebnis. Ringsumher ein einziges, gewaltig wucherndes Dickicht der herrlichsten Blumen, alle Bäume und Büsche behangen mit Frucht, Hunderttausende von Kokospalmen, Brotfruchtgewächsen, Bananenstauden und Mangobäumen, der Boden zwischen engen Wegen bedeckt mit treibenden und tragenden Nutzpflanzen – und am Strande immer der breite, mit glitzerndem vulkanischen Sand bedeckte Mutterpfad, an dem jetzt die Häuser der Weißen liegen. Es ist Mittag und die sengende Sonne steht hoch in azurner Bläue, die Insel ist gleichsam still und feierlich. Keine Weißen sind zu sehen, keine Chinesen, die durch eine hohe Kopfsteuer von der Insel ferngehalten werden, nur braune Menschen beschreiten die Wege oder liegen auf Matten vor ihren Häuschen. Die jungen, dunkeläugigen Mädchen, lieblich von Angesicht und herrlich von Wuchs wie Märchengestalten; die braunen sehnigen Männer mit Blumen im schwarzen Haar, schön wie junge Waldgötter. Die Frauen tragen nichts als ein loses, dünnes Gewand, die Männer nur einen kleinen bunten Lendenschurz. Auf der Suche nach Entdeckungen durchstreifte ich kreuz und quer die Niederung.
Als ich bei einem Kinde stehen bleibe, das allein am Wege spielt, und ihm liebkosend über das dunkle Haar streiche, öffnet sich die Tür einer Hütte und ein herkulischer Eingeborener tritt heraus. »Aroha« (Liebe) sagt er und schaut mich freundlich an. Dann faßt er meine Hand und führt mich ins Haus. Ich fühle mich ins alte Griechenland versetzt, wo man vor allem Zeus, den Gastlichen, den Beschützer der Fremdlinge, ehrte. Im Hause, wo Matten ausgebreitet sind, sitzen eine Frau und ein Fräulein und richten Gemüse zu. »Aroha« rufen beide und lachen. Der Mann reicht den Arm nur zur Hintertür hinaus und bricht eine Banane vom Baum, die ich auf der Stelle verzehren muß. Aber ich bin durstig und gebe es ihm durch Zeichen zu verstehen. Als er begreift, hellt sein Gesicht sich auf – er führt mich an der Hand wohl durch zwanzig Gärten bis auf einen freien Platz, wo Kokospalmen stehen. Im Nu hat er sich einen Strick aus Bast um die Fußknöchel geschlungen und steigt, den Baum mit den Armen umfassend, wie an einer Leiter, geschickt in den Wipfel. Eine grüne Kokosnuß fällt mit dumpfem Aufschlag ins Gras. Schon ist auch mein Freund wieder unten, stößt mit einem spitzen Stab die Rinde ab, öffnet die Nuß mit dem Messer und beobachtet hocherfreut, wie der Gast das kühle, süße Wasser aus dem natürlichen Krug bis zur Neige trinkt und sich dazu noch lange Streifen des jungen gallertartigen Fleisches mit dem Taschenmesser absäbelt. Durch Gärten und Wildnis mußte ich wieder mit zurück in das Haus, wo die Frauen eben in die Küche gegangen waren, und wo ich gleich Gelegenheit fand, die alte polynesische Kochkunst zu bewundern. Die »Küche« ist ein Loch in der Erde. Hierin wird ein Holzfeuer entzündet, in das man Steine legt; Gemüse und Fleisch, sauber mit frischen Blättern umwickelt, werden auf die erhitzten Steine gelegt und das Ganze dicht mit Erde bedeckt. In kurzer Zeit ist alles gar und genießbar. Als ich endlich ging und dem freundlichen Rarotonganer noch anerkennend auf den nackten Rücken geklopft hatte, was er hoffentlich als Dankbezeugung aufgefaßt haben wird, durfte ich zum Abschied das mir entgegengehaltene Kind küssen.
Einen Führer fand ich in einem Jüngling, der neben seiner Mutter, die eine Pfeife rauchte, vor der Tür eines Häuschens saß. Er sprach Englisch, da er die Missionsschule besuchte. Zuerst ging es in die Kirche, einen freundlichen und geräumigen Holzbau. Mit Stolz gab er mir eine in der Landessprache verfaßte Bibel in die Hand, war aber erstaunt, als ich den ersten Satz der Genesis abzuschreiben begann: » Hamani ihora te b'Atua i te ráie te fenua i te matamua ra!« Das Kirchlein liegt inmitten des Friedhofs, jedes Grab ist von einem übergewaltigen Korallenblock bedeckt. Der Kirchhof gewährt infolge dessen den Anblick einer mit Felstrümmern bedeckten Landschaft. »Warum wälzt ihr so schwere Steine auf die Gräber?« fragte ich. »Damit die Toten nicht aus ihren Grüften aufstehen können, sie würden sich dann in Gespenster verwandeln,« sagte der junge Christ. Nicht fern von der Kirche liegt der Palast der jüngst verstorbenen letzten Königin Makea, leicht hätte man über eine kleine Brücke hingelangen können. Aber der Knabe umschritt die Brücke in weitem Bogen. »Warum?« »Weil lebende Menschen diese Brücke nicht betreten dürfen, die Geister benutzen sie des Nachts.« »Was für Geister?« »Die Geister unserer Vorfahren.« »Lehren euch das eure Missionare?« fragte ich. »O nein,« sagte er verlegen, »die glauben nicht daran, aber sie sind Fremde und können nicht wissen, was unsere Geister tun.« »Die Christen glauben nicht an Geister,« antwortete ich. Mit großen Augen sah er mich an. »O doch! Lebt nicht der heilige Geist? Und kommen wir nicht als Geister in den Himmel, wenn wir gestorben sind?« – – Da verstummte ich.
Der »Palast«, ein flaches Gebäude mit einem Staatszimmer und mehreren Nebenräumen, lag offen da – man konnte ungehindert durch alle Türen gehen, auf dem weiten Hof tummelten sich Schweine mit ihren Jungen. Und neben dem Staatsgebäude stand das unvermeidliche Kino.
Frieden und Sauberkeit, Ordnung und Schönheit herrschten in dem Gottesgarten, den die Insel Rarotonga darstellt. Ein englischer Resident hat nicht viel zu regieren; politisch ist die Cook-Gruppe an Neu-Seeland angeschlossen. Die Geschichte bildet hier einen Ring, denn die Maori, die Neuseeland-Bewohner, sind aus dem sagenhaften Hawaiki vor einem halben Jahrtausend über Rarotonga nach Neuseeland ausgewandert.
Wenige weiße Händler wohnen am Strande und das Leben in dem himmlischen Klima Rarotongas wie unter den kindlichen, freundlichen Eingeborenen, die fast ohne Arbeit in ihren Besitztümern das Dasein genießen können, hat sie so eingelullt, daß sie keine Sehnsucht mehr nach der großen Welt jenseits des Ozeans empfinden. Das erzählte mir ein Weißer, der auf unser Schiff kam, um – sich die Haare schneiden zu lassen. Denn auf Rarotonga gibt es noch keinen Barbier. Nur wenn ein Schiff vor der Insel ankert, haben die weißen Leute Gelegenheit, sich verschönern zu lassen.
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An dem Abend, als unser Schiff die Anker lichtete und der Blick sehnsüchtig nach der Insel hinüberglitt, die langsam im Dunkel der Nacht versank, blitzten am Strande viele Lichter auf. Durch das Fernglas sah ich, daß es Fackeln waren. Schon glaubte ich, die freundlichen Eingeborenen wollten uns einen schwimmenden Fackelzug darbringen, aber bald erkannte ich die Wahrheit. Kleine Auslegerboote waren es, deren Insassen bei Fackelschein in der Lagune Fische speerten.
Zurück in den unermeßlichen Ozean tauchte das Schiff, seinen Kurs nach Südwesten nehmend und Neu-Seeland, dem Land der Maori, zustrebend. Und als die Tage und Nächte vorüberglitten, begannen kühlere Winde aus dem Süden – der auf dieser Seite der Welt Kälte bedeutet – zu wehen. Fröstelnd stieg man wieder in dickere Kleidung und zur Nacht war die lang verschmähte Decke willkommen. Die Bläue des Meeres ging in ein blasses Grün über, weit zurückgeblieben waren schon die niedlichen fliegenden Fische, jetzt zogen Schulen gewaltiger, wirbelnde Wasserstrahlen emporsendender Wale vorüber und in den Lüften wiegte sich mit weiten Schwingen der Albatros. Die Sonne ging nicht mehr im Süden, sondern im Norden durch die Mittagslinie, aber allnächtlich strahlten am kühleren Himmel das große südliche Kreuz und die goldene Krone und weißlich glimmerten und schimmerten, wie himmlische Inseln, die Magelhaensschen Wolken.