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Aus geheimnisvollem Dunkel blitzen ganz, ganz fern, schnell aufleuchtende und wieder verschwindende Lichter, wie die irrenden Seelen abgeschiedener Häuptlinge, die am Rande der Gewässer auf- und abwandern. Sonst ringsum schwarze Nacht und tiefe Stille, nur unterbrochen von dem Rauschen der Wogen, die die Schaufeln des großen Raddampfers emporwühlen. Ueber dem Ontariosee, den die »Corona« quert, um das kanadische Ufer zu gewinnen, hängt eine dunkle Nacht, so »dunkelschwarz« wie das Trauergewand der Thetis und wie jenes, mit leuchtenden Sternen bestickt. In einem wunderbaren, den mitteleuropäischen Sommernächten unbekannten Glanz leuchtet das Firmament. Die nie untergehende Wega gießt ihren blauen Schimmer herab, golden leuchtet die schöne Capella aus dem Sternbild des Fuhrmann, das »Reiterlein« über dem Mittelstern der Deichsel des Himmelswagens tritt so klar hervor, daß man es ohne Glas genau erkennt, und Kynosura, der Polarstern, ist nicht nur selbst, sondern mit allen Sternen des kleinen Bären sichtbar. Die Milchstraße aber hängt wie ein helles, ganz niedriges Gewölk, das sich stereoskopisch vom dunklen Grund abhebt, in den fernen Höhen. Nun wird es klar, weshalb die Indianer einst in diesem Sternenbogen eine Brücke sahen, die den Seelen der Abgeschiedenen als Weg in das Land der Geister diente.
Hinter den fernen Ufern ringsum, die nun das Dunkel der Nacht deckt, haben sich in der Mitte des 18. Jahrhunderts jene blutigen Kämpfe um die Vorherrschaft zwischen Engländern und Franzosen abgespielt, und zugleich Tausende von Indianergräueln, von Cooper mit hoher Poesie und wenig Wahrhaftigkeit in Romanen verewigt. In jenen Urwäldern stellte »Lederstrumpf« seine Fallen, hier schlich der edle Delawarenhäuptling Chingachgook, die »große Schlange«, der Freund der Engländer, auf dem Kriegspfad, und hinter ihm Uncas, sein hochherziger Sohn; die Soldaten Onkel Sams und des großen weißen Inselkönigs sowie das Feuerwasser haben die roten Söhne der Wildnis aus ihren alten Jagdgründen verdrängt – aber alles in diesen Gegenden erinnert noch an die Ureinwohner, die Namen von Städten, Seen und Flüssen, die Spielzeuge der Kinder, die Erzeugnisse der Kunst und beinahe auch die Sitten der Eroberer. Schon in dem unfernen Niagara fällt es auf, daß die Zusammenhänge mit der Indianerzeit wieder lebendig werden, die ganze heimische Kunst geht auf indianische Motive zurück, die Puppen der Kinder sind nachgebildete Indianerbabies, die Kaufläden sind voll von indianischem Bric-à-brac, und jeder Name am Wege schließlich erinnert an die alte Zeit. Toronto, das Ziel unseres Dampfers, der von Lewistown kommt, trägt wie alles umher, noch seinen alten indianischen Namen, der »Ort des Stelldicheins« bedeutet; aus dem Indianerdorf, in dessen Nähe um Fort Rouille um 1749 blutige Gefechte um den Pelzhandel stattfanden, ist inzwischen eine blühende Stadt von fast einer halben Million Einwohnern geworden.
In den Wäldern, die den Ontariosee säumen, ist immer noch ein Hauch der alten Urwaldpoesie lebendig. Immer noch durchziehen die menschenarmen und wildreichen Gründe der Pelzjäger und der Trapper, aber sein roter Waffengefährte ist verschwunden. Er hat der neuen Zeit weichen müssen, die eben jetzt in Gestalt unseres gewaltigen Raddampfers, dunkle Rauchwolken hinter sich her wirbelnd, über den romantischen Ontariosee schwimmt.
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Von der Romantik zur Wirklichkeit. Als der Dampfer mit der hierzulande überall üblichen Verspätung vor seinem Dock in Toronto eintraf, war es zwischen ein und zwei Uhr in der Nacht. Auf der Werft unten am See alles dunkel und still. Ehe ich noch unter den wenigen Passagieren an Land zu kommen vermochte, hörte ich ein paar Automobile davonrattern und hatte denn auch richtig das Nachsehen. Nach wenigen Minuten stand ich mit meinem Handköfferchen ganz mutterseelenallein zwischen allerlei Schienengleisen, die ins Dunkel verliefen, irgendwo am Seeufer in Toronto. Die Straßen waren schon ganz still. Da nahm ich mein Handköfferchen fester, empfahl mich dem uralten Nothelfer Herkules und stiefelte los. Die erwünschte Gestalt eines Schutzmanns zeigte sich nicht, nur allerlei Bassermannsche Gestalten, die an den Straßenecken lungerten. Endlich entdeckte ich ein großes erleuchtetes, schon aus der Ferne gastlich winkendes Hotel – ein »Bellboy« stürzt mir entgegen und entreißt mir meinen Handkoffer, ich selbst trete an das Pult, wo der heilige Hotelclerk thront. Der Clerk in einem amerikanischen Hotel von Rang ist nämlich ein bedeutender Mann, etwa wie bei uns ein Minister. Erhabenheit wohnt auf seiner Stirn, vor ihm sind die Scharen der reisenden Menschen wie Spreu im Winde.
Da der Gewaltige gerade mit einem späten Gast spricht, warte ich bescheiden; ein anderer Mensch tritt heran, ich bin für den hohen Clerk immer noch Luft; ein dritter Mensch spricht mit dem Erhabenen, und aus dieser dritten Rede vernehme ich von ungefähr, daß das Haus ausverkauft, alle Zimmer belegt seien. Da ergrimme ich in meinem Herzen und fahre den Clerk an: » Why d'you keep me waiting for a quarter of an hour, when you know there's no room left – he?!« – »Warum lassen Sie mich eine Viertelstunde warten, wenn Sie wissen, daß kein Platz da ist?!«
Der hohe Clerk lächelt erstaunt und befremdet. Wenn ich ihn nicht anrede, so ist wohl sein amerikanischer blödsinniger Gedankengang, weshalb sollte er mich anreden? Höflichkeit Unbekannten gegenüber steht nicht auf seinem Programm. Auf den Grimm folgt die Satire. »Sie sind wohl,« sage ich auf Deutsch, »der bekannte Kanadier, der noch Europens übertünchte Höflichkeit nicht kannte?« Er sperrt den Mund auf und starrt mich an. Ich wiederhole meine Sentenz. Da sagt der Mensch endlich achselzuckend, er verstände nicht Italienisch. Auf dies Bekenntnis hin ließ ich meinen Empfindungen nunmehr mutig Raum. »Wissen Sie, lieber Herr,« sagte ich eindringlich, »Sie sind jedenfalls der größte Rindsknochen unseres Jahrhunderts. Lassen Sie sich für Geld sehen!«
Sprachs, riß mein Handköfferchen an mich und schritt abermals hinaus in die Nacht, fand ein noch nicht besetztes Hotel und war geborgen.
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Am nächsten Morgen sah das geschäftige Toronto zum Fenster herein und lockte mich schnell hinunter in die Straßen. Hier krochen zwar keine Biber umher, man sah aber doch auf den ersten Blick, daß man sich nicht mehr in den »Staaten«, sondern in Kanada befand. Statt des dicken, robusten, gewaltigen Konstablers, den man überall in der Union wiederfindet, steht hier der lange, schlanke, dünne Sohn Albions an den Straßenecken, auf dem Kopfe einen weißen Tropenhelm, dessen Sturmband oberhalb des Kinns hängt. Kein deutscher Laut mehr, denn in Kanada leben verschwindend wenige Deutsche – alles ist stockenglisch. Sitten und Gebräuche und die ganze Lebensart sonst allerdings amerikanisch. In den Straßen steht als Wahrzeichen der schiefe hölzerne Telegraphenpfahl. Das emsige Leben in den Hauptdurchfahrten, besonders in der Yonge-Street, gemahnt an Neuyork. Es wimmelt, wie in allen amerikanischen Städten, von ragenden Bankgebäuden. Im übrigen besitzt Toronto so und so viele Einwohner, ist die Hauptstadt der Provinz Ontario, hat einen großen schmutzigen Bahnhof, in den fünf Linien münden, in fünfzig Kirchen kann man beten, aber in fünfhundert Saloons trinken, mit einem Wort, eine wirklich sehr nette Stadt – besonders, wenn man sie im Rücken hat.
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Drei Worte nenn' ich euch, inhaltsschwer: » Die tausend Inseln!«
Welch einen Schatz von Erinnerungen umhüllen sie, diese drei Worte; welche Bilder von Erhabenheit und seltsamer Lieblichkeit, welche Empfindungen atemloser Spannung und staunender Verwunderung ist in ihnen beschlossen. Die Landschaft der tausend Inseln schmückt den Eingang aus dem Ontariosee in den mächtigen St. Lawrencestrom, und nicht Toronto, sondern sie sind das Ziel der Reise. Europäische Reisende, deren Ziel gewöhnlich im Westen liegt, machen häufig einen Abstecher nach den Niagarafällen, aber das Wunder der tausend Inseln, die Seltsamkeit des »laurentischen Landes«, wie es die Wissenschaft nennt, lockt sie selten, trotzdem die Inseln nach und nach ein Wallfahrtsort der Amerikaner werden. Auch ist die Zahl keineswegs ein Bluff, im Gegenteil, nicht tausend, sondern 1600 Inseln sperren den Weg vom See in den Strom.
Und abermals schwimmt der Dampfer, diesmal ein weit mächtigerer, mit drei Etagen über dem Radkasten, in den grünen See hinaus; wieder wird es Nacht, die Leuchtfeuer blinken von den Ufern herüber und senden noch einen letzten Gruß in die Kajütenfenster, hinter denen die Reisenden zur Ruhe gehen, in Erwartung der kommenden großen Naturerscheinungen. Wenn der Morgen aus den Fluten emporsteigt, wird Kingston am Nordrand des Ontario erreicht und alles strömt auf Deck. Denn nun beginnt die Märchenfahrt durch das laurentische Land. Der St. Lawrence, der aus dem Ontario ausströmt, hat in uralter Vorzeit das ganze Land zerrissen, durch Erde und Felsen hat er sich den Weg gebahnt und in jahrtausendelanger Arbeit Rinnen gehöhlt, Kanäle erweitert, Felsen abgeschliffen und herrliche Inseln gebaut.
Eine Fahrt der optischen Täuschungen beginnt. Das Land voraus scheint geschlossen, aber es öffnet sich bei der Annäherung und entwirrt sich in unzählige große und kleine Inseln und in Tausende von sichtbaren und unsichtbaren Felsenriffen, zwischen denen der große Dampfer seinen Weg sucht. Die ältesten Gesteinsarten, die wir kennen, liegen hier am Licht des Tages, daneben neuere Bildungen – es ist uraltes Erdgebiet, das die tausend Inseln umkränzt. Hunderte dieser Eilande sind bewohnt, herrliche Gebäude, Villen und Schlösser ragen aus ihnen empor, die Sommerresidenzen der ungekrönten amerikanischen Könige; an den Ufern anderer Inseln schimmern Zeltstädte von Jägern und Fischern und Ausflüglern. Denn dies ist ein Paradies für Angler, die in Hausbooten monatelang zwischen dem Gewirr der Inselwelt kreuzen.
Kommt man auf der Fahrt in eine Region kleiner, dicht bewaldeter Inseln ohne menschliche Wohnstätten, dann erwacht im rückschauenden Geist wieder die Romantik der Indianerzeit, bald aber taucht wie eine Feerie wiederum eine großstadtartige Insel auf mit Riesengebäuden, Strandhotels und betürmten Wohnpalästen – und man ist wieder mitten in der Jetztzeit. Das Schiff schwimmt stundenlang in einem gigantischen Venedig der Natur, immer ist die Aussicht in diesem geologischen Wunderland versperrt, und immer wieder findet das Schiff seinen Weg durch engere und breitere Kanäle, bis der Kapitän die Hand fester ans Steuer legt, das Auge schärfer auf die Fluten richten muß, denn nun beginnt der Abstieg mit dem wirbelnden Strom durch eine ganze Anzahl wilder, reißender Stromschnellen, so eng, daß der große Dampfer immer wieder durch Felsenrinnen, die er gerade ausfüllt, dahinschießen muß. Siebenmal wiederholen sich diese aufregenden Durchfahrten, in deren Verlauf ein einziger falscher Griff am Steuer das Schiff zersplittern kann.
Die Galop Rapids mit ziemlich turbulentem Wasser bilden ein artiges Vorspiel zu der Stromschnelle, die man » The long sault« nennt. Diese neun Meilen langen Stromschnellen sind in der Mitte durch eine Insel in zwei Kanäle geteilt, und auf den engeren von beiden, einem felsigen Kessel, durch den das Wasser mit Donnerbrausen dahinschießt, steuert der Dampfer zu. In der Nähe der Rinne, wo das Gefälle beginnt, neigt sich das Vorderteil des Schiffes, dann gewinnt es die Mitte des reißenden Stroms, die Maschine wird gestoppt, und mit einer Geschwindigkeit von über zwanzig Meilen reißen die Wasser das Schiff abwärts durch die Stromschnellen. Die Coteau-, die Cedar-Rapids folgen, dann die Split-Rock-Rapids, wobei der Dampfer mitten durch einen in der Urzeit geborstenen Felsen hindurchgewirbelt wird. Es scheint bis zum letzten Augenblick, als ob das Schiff auf die umbrandeten Felsen aufrennen müßte, aber ein Druck am Steuerrad, das Schiff schwenkt ein wenig, der Fels flieht vorüber – und der Beobachter atmet auf.
Den Abschiedsgruß der tausend Inseln bieten die unzähligen Klippen im Strom, durch die die reißendsten und turbulentesten aller Schnellen gebildet werden – die Lachine Rapids. Sie sind für die Schiffahrt am schwierigsten zu überwinden und für die Reisenden am aufregendsten. Hier, in der Nähe von Montreal, hat der St. Lawrence endlich seinen Seecharakter abgelegt und gleicht einem in festen Ufern sich bewegenden Strom, aber das Gestein seines Grundes tritt noch einmal ganz zutage und läßt nur einige tiefere Rinnen frei, durch die das Wasser mit brausender Gewalt abwärtsschießt. Der Mann am Steuer zwingt das Schiff in einen dieser Kanäle, der sich zwischen flachen Klippen labyrinthartig windet und hinschlängelt – – eine halbe Stunde umtosen und umbranden die talwärts stürzenden Gewässer das mit ihnen zugleich dahinstürzende Schiff – dann öffnet sich der St. Lawrence, die letzte der berühmten Stromschnellen ist überwunden.
Im letzten Licht der sinkenden Sonne taucht Montreal auf, die Königin unter den Städten Kanadas. Ihr Panorama, von den gezackten Türmen von Notre Dame überragt, ist auf Bergen und Felsen hingebreitet. Lächelnd scheint sie herabzublicken auf den gewaltigen Strom, dessen Fluten das Abendrot mit gleißendem Gold überschüttet.